1
IM
Lö.tr
FORSCHUNGEN
ZUR
DEUTSCHEN THEATERGESCHICHTE
DES MITTELALTERS UND DER RENAISSANCE
VON /
MAX HERRMANN
MIT 129 ABBILDUNGEN
HERAUSGEGEBEN MIT UNTERSTÜTZUNG DER GENERALINTENDANTUR
DER KÖNIGLICHEN SCHAUSPIELE
r\
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1914
7)/ '■
//
4
i
Vorwort.
Manchem Leser mag die unten folgende Einleitung dieses
Buches zu anmaßend erscheinen: möge er sich durch das hier
im Vorwort gebotene Bekenntnis versöhnen lassen, daß der Ver-
fasser sich durchaus bewußt ist, in nicht wenigen Punkten die
Nachsicht des Lesers sehr in Anspruch nehmen zu müssen.
Den Forderungen nämlich, welche die hier angewendeten Metho-
den an die Vielseitigkeit des Forschers stellen, ist ein Einzelner kaum
gewachsen. Auf einer Reihe nicht eben gleichartiger Gebiete der
Kultur und der Kunst müßte er völlig zu Hause sein; ganz beson-
ders verlangt die Notwendigkeit, vergleichende Künstegeschichte
zu treiben, eine gründliche Schulung auf dem Gebiete der Bild-
kunst, und ich weiß nicht, ob der Fachmann hier mit dem rrach-
ti-äglich Erworbenen immer einverstanden sein wird, auch wenn er
im Auge behält, daß die Auseinandersetzungen des Buches eigent-
lich nirgends mit dem Anspruch auftreten, die Bildkunstgeschichte
selbst zu fördern. Aber auch auf dem Felde der Literaturgeschichte
wird durch die unabweisbare Forderung, über die Grenzen des
Nationalen hinauszublicken, eine Fülle der Kenntnisse vorausgesetzt,
die vielleicht nur W. Creizenachs von mir immer wieder neu be-
staunte Allbelesenheit besitzt, und es ist mir fraglich, ob mein
instinktives Bemühen, die fremdnationalen Leistungen möglichst
auszuschalten und neben dem Deutschen zunächst nur das Inter-
nationale zu berücksichtigen, überall das Richtige getroffen hat.
Endlich mag im zweiten Teil auch die Heranziehung des Materials
Lücken aufweisen: es ist mir nicht gegeben gewesen, durch syste-
matisch vorgenommene Forschungsreisen eine wirkliche Vollständig-
keit herbeizuführen.
Eine Anzahl anderer Mängel hängt mit der zeitlichen Ent-
stehung des Buches zusammen. Seine Anfänge reichen in das Jahr
1901 zurück; im Jahre 1909 war es zum größten Teil, aber eben
doch noch nicht ganz vollendet, und eben in diesem Jahre sah
ich mich genötigt, zu meiner ausgebreiteten akademischen Tätigkeit
auch noch die Schriftleitung der „Gesellschaft für deutsche Er-
ziehungs- und Schulgeschichte" zu übernehmen. So beschloß icii.
mich selbst zum Abschluß des Buches zu zwingen, indem ich die
Drucklegung alsbald beginnen ließ. Das Nebeneinanderhergehen
des Druckes und der Arbeit am Manuskript hat nun einige Wider-
sprüche der Darstellung herbeigeführt, auf die am Schluß des
Buches, S. 525 ff., besonders aufmerksam gemacht ist; an der
YJ Vorwort.
gleichen Stelle sind auch literarische Nachträge notiert, die eben-
falls durch jene lange währende Entstehung notwendig gemacht
wurden. Vor allem aber hätte ich, wenn die Drucklegung des
Ganzen auf den Abschluß des Manuskripts hätte warten dürfen,
die umfangreichen Auseinandersetzungen über die mittelalterliche
Schauspielkunst, die ursprünglich nur als eine Hilfs- und Neben-
untersuchung gedacht waren, wie das Buch so manche enthält, die
sich dann aber während des Druckes zu selbständigem Leben aus-
wuchsen, in eine besondere Abteilung verwiesen, während sie jetzt
den Fluß der Gesamtdarstellung empfindlich unterbrechen. In dem
unten folgenden Inhaltsverzeichnis sind diese Erörterungen durch
besonderen Druck ebenso wie ein gleichfalls etwas zu lang geratener
Einschub des zweiten Teils als eigentlich selbständige Abschnitte
gekennzeichnet. Dagegen mußte, da durch jene Erweiterung der
Umfang des Buches schon stark angeschwollen war, ein ursprüng-
lich geplanter, S. 15 Anm. 4 auch bereits erwähnter Anhang un-
gedruckt bleiben : das Ergebnis einer Kollation der Hans Sachsischen
Handschriften mit dem gedruckten Text in bezug auf die szenischen
Bemerkungen, deren Varianten in Goetzes sonst so vortrefflicher
Hans-Sachs-Ausgabe gar nicht oder nur in sehr willkürlicher Aus-
wahl mitgeteilt werden. Ich werde meine Zusammenstellungen der
Handschriftenabteilung der Berliner Königlichen Bibliothek über-
geben, wo sie dem Forscher ohne weiteres zur Verfügung stehen
sollen.
Für die Ermöglichung jenes Verfahrens der vorzeitigen Druck-
legung, ohne die das Buch vermutlich auch heut noch unvollendet
sein würde, bin ich der Weidmannschen Buchhandlung zu besonders
tief gefühltem Dank verpflichtet : sie hat mit dem ihr so oft nach-
gerühmten Verständnis für die Schwierigkeiten, unter denen wissen-
schaftliche Arbeit mitunter zustande kommt, aller Verzögerung
gegenüber unerschütterliche Geduld bekundet. Mein ergebenster
Dank gebührt ferner dem Generalintendanten der Königlichen Schau-
spiele zu Berlin, Seiner Exzellenz dem Herrn Grafen von Hülsen-
Haeseler, der sein lebhaftes Interesse für die junge Theater-
wissenschaft zu Gunsten des vorliegenden Buches bekundete: zur
Herstellung der unentbehrlichen Illustrationen überwies er mir
gütigst die von Seiner Majestät dem Kaiser und König zur Heraus-
gabe eines Werkes über die Geschichte des deutschen Theaters
bewilligte Summe von 1 ()()() Mark. Ein letzter, ganz besonders
herzlicher Dank endlich kann hier nicht ausgesprochen werden,
weil der, dem er zukommt, sich seine öffentliche Bekundung mit
aller Entschiedenheit verbeten hat.
Berlin, Weihnachten 1913.
Max Herrmann.
Inhalt.
Einleitung
Seite
1
Erster Teil:
Das Theater der Meistersinger von Nürnberg.
Erstes Kapitel: Zuschauerraum und Bühne 11
Die Anlage der Bühne S. 13. — Die Nürnberger ^Nlarthakirche als theatra-
lischer Schauplatz S. 14. — Nürnberger Aufführungen 1527—1550 S. 14. —
Die Marthakirche einst und jetzt S. 16. — Inneres der Kirche S. 18. — Das
Predigerkloster als Aufführungsort S. 20. — Der Altarraum der Marthakirche
als Bühnenraum S. 21. — Podium und Abschlußvorhang S. 23. — Hans
Sachsens Drama. Personenzahl. Raum hinter der Bühne S. 23. — Auf- und
Abgänge , Richtungen des Auftretens und Abgehens S. 24. — Terminologie
der szenischen Bemerkungen S. 28. — „Eingehen" und „kommen" S. 29. —
Das Buch des Inspizienten S. 35. — Die Sakristei S. 36. — Das Podium
S. 37. — Podium und Stufen S. 38. — Zwei Auftrittsorte S. 38. — Auftrittsort
kämpfender Heere S. 39. — Stellung des Ehrnholts S. 40. — Abgehen aller
Personen am Schluß. — Kanzel und Chorstuhl S. 43. — Das Sitzen auf dem
Theater S. 45. — Nochmals die Terminologie der szenischen Bemerkungen
S. 49. — Unregelmäßigkeiten S. 50. — Der dritte Bühnenaufgang S. 50. —
Sakristei und Bühne S. 53. — Die zweite Sakristeitür als Höhle, Ofen, Grab,
Fluß S. 54. — Die ganze Bühne S. 55.
Zweites Kapitel: Dekorationen, Requisiten, Kostüme 57
Dekorationen S. 57. — Theatervorhang? S. 57. — Abtragen der Toten
S. 58. — Die Raumverhältnisse. Möglichkeit einer Hinterdekoration S. 60. —
Dekorationsmaterial. Teppiche S. 61. — Dekorationsmalerei für Festlichkeiten
S. 62. — Theaterdekorationen in Italien und Deutschland S. 64. — Die
Phantasie des Publikums in bezug auf die Vorstellung der Landschaft, be-
obachtet an Holzschnitten und Volksliedern S. 66. — Hans Sachsens Phan-
tasie S. 67. — Dekorationsforderungen der szenischen Bemerkungen S. 68. —
Die Tür als Requisit S. 69. — Dialog und Phantasie S. 73. — Innenraum
und Landschaft S. 75. — Requisiten S. 78. — Die Materialfrage S. 79. —
Holzschnitzerei und Wachsplastik S. 82. — Köpfe und Götterbilder S. 82. —
Tiere auf der Bühne S. 84. — Kinder auf der Bühne S. 86. — Das Schiff
S. 87. — Feuerwerk S. 90. — Lokal- und Personalfrage. Herbeischaffung
der Requisiten S. 91. — Aufbewahrungsraum S. 92. - Wegschaffung der
Requisiten S. 97. — Abtragen der Toten S. 98. — Keine Theaterdiener
S 101. Kostüme S. 102. — Kostüme in Hans Sachsens Erzählungen
S. 103. — Interesse der Zeit für die Tracht S. 104. — Einzelne Trachten- y
bilder seit dem Ausgang des 15. Jh. S. 105. — Handschriftliche Trachten- ^
bücher höfischen und bürgerlichen Ursprungs S. 106. — Ethnologische Inter-
VIII Inhalt.
Seite
essen S. 107. — Spanische Trachtenbilder augsburgischen Ursprungs S. 108. —
Trachteninteresse in Nürnberg. Sigismund Heldts Trachtenbuch S 111. —
Trachten in der Bücherillustration S. 114. — Theaterkostüm im Mittelalter
S. 114. — Kostüm des geistlichen Theaters im 16. Jh. S. 117. — Das Theater-
kostüm des 16. Jh. und das neue Interesse an der Tracht S. 118. — Theater-
kostüni bei der Aufführung weltlicher Dramen S. 119. — Hans Sachsens
Theaterkostüme: Tradition und Neuerungsspuren S. 120. — Ausländische
Tracht. Götter und Heroen S. 121. — Das typische Attribut als Kostümmittel
S. 122. — Naive Benutzung des Zeitkostüms; Mangel an Phantasie S. 124. ~
Stoff und Farbe S. 126. — Wiederbelebung Hans Sachsischer Bühnentrachtea
S. 128. — Kostümliche Betrachtung: der Drache S. 130. — Umkleidung und
Unterkleidung S. 131. — „Rüstung" der „Stulticia" S. 133.
Drittes Kapitel: Die Schauspielkunst 137
Terminologischer Sinn der szenischen Bemerkungen. Zwei schauspielerische
Stile: Drama und Fastnachtspiel S. 137. — Vollständigkeit der szenischen
Bemerkungen S. 139. — Meistersängerische Schauspielkunst. Verzicht auf
Individualisierung S. 141. — Die Rollen des Schmidtlein S. 142. — Gründe
für die Rollenzuteilung S. 145. — „Gestus" und Aktion S. 146. — Die
Aktion auf Hans Sachsens Bühne S. 147. — Kämpfe auf der Bühne.
Vorbild des Turniers S. 148. — Pathetische Pose S. 151. — Darstellung
rein körperlicher Erlebnisse S. 152. — Sterben, Schlafen, Kranksein
im ernsten Drama S. 152. — Körperliches im Fastnachtspiel S. 156. — Körper-
liches in Hans Sachsens epischer Dichtung S. 157. — Körperliches auf dem
mittelalterlichen Theater S. 159. — Das seelische Erleben: die Inhalte
der Darstellung. Gruß. Leben der Sinne S. 161. — Gefühlsleben. Mehr
Lust als Unlust. Mehr Zuneigung als Abneigung S. 162. — Lyrisch-pathe-
tischer Stil im ernsten Drama S. 163. — Die psychischen Inhalte der Dar-
stellung auf dem mittelalterlichen Theater S. 163. — Dramentexte des Mittel-
alters als Untersuchungsmaterial S. 164. — Besonderheiten der mittelalterlichen
Schauspielkunst S. 165. — Ihre seelischen Inhalte S. 166. — Die Mittel
der Darstellung in der nürnbergischen Schauspielkunst. Akustisches.
Weinen, Seufzen S. 167. — Lachen, Schreien S. 168. — Gefühlsmäßige
Färbung des Vortrags im ernsten Drama und im Fastnachtspiel S. 169. —
Gefühlsmäßige Färbung im mittelalterlichen Schauspiel S. 172. — Stärke der
Stimme auf dem mittelalterlichen Schauplatz S. 173. — Körperhaltung bei
Gefühlserregungen auf Hans Sachsens Bühne S. 174. — Schauspielerische
Autosuggestion im Mittelalter und im 16. Jahrhundert.
Die mittelalterliche Schauspielkunst in Deutschland^) ., . . . . 176
Orundcharakter: Sparsamkeit und Einförniigkeit der Gesten S. J76. — Gesten
der biblischen Vorlage S. 176. — Das mittelalterliche Theater: labile und
stabile Gesten S. 177. — Reichtum der Gesten in andern Künsten S. 17S.
Die Gesten des weltlichen Epos in Deutschland 178
Allgemeines S. 179. — Der Gebärdenstil der vorritterlichen weltlichen Er-
zählung S. 181. — Der Gebärdenstil der kla.ssischen Epik S. 185. — Mimik
und Gestik in den Nibelungen und der Kudrun S. 194. — Der nach klassische
und spielmännisclw. Gebärdenstil S. 195. — Der Gebärdenstil der allegorischen
und der l)iirgertichen E/>ik S. 197.
Schauspielkunst und Liturgie 201
Schauspielkunst und Theologie S. 201. — Schauspielkunst und Gottesdienst
S. 202. — Die Gesten der Liturgie S. 202.
1) Zur Ergänzung vgl. S. 15!)f., 163ff., 172f., 175.
Inhalt. IX
Seite
Die Gesten der neu testnmentlichen E rziihlunn in Den iscli land . . 205
Stärkere Gebnndenlieit als im weltlichen Epos S. 205. — Leichte Lösnnffen
und ihre Ermöglichung S.205. — Umschwung durch die Marienepik S.207. —
Reste der alten Gebundenheit S. 209.
Die Gesten in der geistlichen Bildkunst des deutschen Mittelalte rs 210
Liturgische und dogmatische Bindung S. 210. — Auswahl der Szenen.
Älteste Reihe: Perikopenkunst S.211. — Zweite Reihe: Typologie S.212.—
Dritte Reihe: Vorwiegen des Historischen S. 213. — Die Frage der „stabilen
Gesten" S. 215. — Keine stabilen Gesten in der Bildkunst S. 216. — Die
labilen Gesten S.217. — Bibel und Bildkunst S.218. — Die größere Freiheit
der bildnerischen Ausdrucksbewegungen S. 218. — Die Gebärde der karo-
lingischen und ottonischen Kunst S. 220. — Die Gebärde der romanischen
Kunst S. 224. — Die Gebärde der gotischen Plastik S. 226. — Der Gebärden-
schatz der romanischen und gotischen Kunst S. 228. — Die Gebärde der
hochgotischen Kunst S. 231. — Der Gebärdenschatz des 14. und des be-
ginnenden 15. Jahrhunderts S. 232. — Die Gebärdung der Realistengeneration
der Vorrenaissance S. 234. — Die Gebärde der Spätgotik S. 236. — Völlige
Verschiedenheit der Gestik in den drei Künsten S. 240.
Die S chauspielkunst des ausgehenden M ittelalters 241
Umschwung durch die Gestik der dramatischen Marienklagen S. 241. —
Pathetik, Individualisierung, Naturalismus im Donaueschinger Spiel S. 243.
Die Gebärdensprache der Meister singerbühne . 244
Mimik, Gesamtkörper S. 244. — Arme und Hände S. 246. — Verwandtschaft
mit der Gestik des mittelalterlichen Theaters S. 249. — Unterschiede S. 250. —
Die Gestik in Hans Sachsens erzählender Dichtung S. 251. — Epische und
theatralische Gestik bei Hans Sachs. Die Gebärdensprache des Fastnacht-
spiels S. 253. — Epos und Theater: einige Ähnlichkeiten in den Gebärden.
Das Zusammenschlagen der Hände über dem Kopf S. 254.
Die Schauspielkunst des Schultheaters 256
Unmöglichkeit einer Wiederbelebung der römischen Schauspielkunst S. 256. —
Schauspielkunst und Rhetorik S. 258. — Pronunciatio und actio S. 259. —
Jodocus Willich S. 260. — Stimme, Mimik und Gestik S. 262. — Schul-
theaterkunst und Meistersingerkunst S. 265. — Selbständigkeit der Nürn-
berger Theatergestik S. 267.
Die Gestik der Bildkunst im Zeitalter Dürers S. 268. — Hans Sachsens Leistung:
Systematisierung und Normalisierung der theatralischen Tradition S. 270.
Zweiter Teil:
Dramenillustrationen des 15. und 16. Jahrhunderts.
Erstes Kapitel: Ziele und Wege 273
Zweites Kapitel: Illustrationen antiker Dramen 27^
Vorherrschaft der Terenzillustrationen. Die Terenzbilder der ottonischen
Renaissance S. 277.
Miniaturen
Miniaturkunst und Altertumsbegeisterung. Frühhumanistisches Interesse für
Seneca S. 279. — Ulustrierte Senecahandschriften S. 279. — DarsteUung des
„Hercules furens". N. Treveth und die Auffassung des antiken Theaters
S. 279. — Französische Terenzillustrationen S. 283. — Das „Thealrum Ro-
manum" im „Terence des Ducs" S. 284. — Die Szenenbilder S. 289. —
Terenzminiaturen des späteren 15. .Jahrhunderts S. 291.
278
^ Inhalt.
Seite
Der Ulmer „Eunuchus" - 292
Zusammenhang mit den alten Miniaturen S. 292. - Zusammenhang mit
gleichzeitigen Terenzauft'ührungen S. 294. — Die Darstellung des Lokalen
S. 298.
DerLyonerTerenz 300
Jodocus Badius S. 300. — Badius und die Ferrareser Aufführungen S. 301. —
Badius' Anteil an den Holzschnitten S, 302. — Zusammenhang mit den alten
Miniaturen S. 303. — Badius' Anschauungen über das antike Theater S. 305. —
Hineinziehung der flandrischen „abele speien" S. 307. — Einfluß L. B. Albertis
S. 310. — Das Gesamtbild des Theaters S. 312. — Die Szenenbilder S. 313. —
Podium und Szenenhäuschen S. 314. — Der Künstler ein Niederländer S. 316.
Der Straßburger Terenz 317
Gesamteinrichtung S. 318. — Das Theatrum S. 319. — Die Straßburger
Szenenbilder und die Ulmer und Lyoner Holzschnitte S. 322. — Clichesystem
S. 323. — Personen S. 324. — Lokales S. 325. — Gesamtbilder zu den ein-
zelnen Komödien S. 326.
DerBaselerTerenz 329
Die Dürerhypothese S. 329. — Ihre Gegner S. 331. — Datierung des Baseler
Terenz S. 332. — Baseler und Straßburger Terenz S. 334. — Sebastian Brant
als Berater des Baseler Künstlers S. 336. — Baseler Terenz und Ulmer
„Eunuchus" S. 337. — Baseler Terenz und Lyoner Terenz S. 340. — Die
Baseler Bilder und die Terenzverdeutschung von 1499 S. 343. — Jakob
Locher S. 343.
Der Venetianer Terenz 346
Abhängigkeit S. 346. — Gesamttheaterdarstellung S. 348. — Die Szenenbilder
S. 349.
Holzschnitte des 16. Jahrhunderts 351
Deutschland S. 351. — Italien S. 352. — Nachbildung der italienischen
Terenzbilder durch das wirkliche Theater S. 353. — Frankreich S. 354.
Theatergeschichtliche Ergebnisse 3oo
Zusammenfassung S. 355. — Kostümfragen: methodische Grundlagen für eine
wissenschaftliche Kostümkunde des Mittelalters S. 356. — Die Gebärden S. 360.
— Der Ulmer „Eunuchus" und das Theater S. 360. — Der Straßburger Terenz
und das Theater S. 362. — Der Baseler Terenz und das Theater S. 363. —
Der Lyoner Terenz S. 364.
Lebende Bilder 364
Holzschnitte und Zeichnungen lebender Bilder S. 364. — Der Brüsseler
Einzug v. .1. 1490 S. 365. — Aufzüge S. 367. — Schaugerüste S. 368. —
Lebende Bilder und dramatische Aufführungen S. 369. — Die Personagia
und die Rederijkers S. 374. — Rederijkers und Lukasgilden S. 376. — Die
Brügger Personagia v. ./. 1515 S. 379. — Literarische Erklärung der Brüsseler
Bilder: die Stoff kreise S. 381. — Die Stoff kreise der lebenden Bilder und des
Dramas S. 385. — Verhältnis der lebenden Bilder zur Malerei S. 388. — Die
Stoffkreise der lebenden Bilder und der Gemälde S. 388. - Bildkünstlerische
Formprinzipien bei den lebenden Bildern S. 394. — Theatergeschichtliclie
Bedeutung der lebenden Bilder S. 396. — Bühnengerüst und Dekoration
S. 397. — Requisiten, Beleuchtung S. 400. — Kostüme S. 401.
Kostüme des Lyoner Terenz S. 406. — Gebärden auf den lebenden Bildern
S. 409. — Gebärden im Lyon<M- Terenz S. 409.
Drittes Kapitel: Illustrationen zu schweizerischen Dramen . . . 412
Gerold Edlibach
412
Inhalt. XI
Seite
Die Bildkunst in Zürich S. 412. — Gerold Edlibach S. 413. '— Edlit)achs
Zeichnun<j des Zehnalferspiels S. 415. — Edlit)achs Zeichnung zu ßrunners
Fastnachtspiel S. 418.
Pamphilus Gengenbach 419
Der Baseler Holzschnitt und die Gengenbachsche Druckerei S 419. — Gengen-
bachs Spiel von den zehn Altern: Entstehungszeit S. 421. — Die Holzschnitte
zum Zehnalterspiel S. 422. — Die Tradition der Zehnalterillustrationen S. 425.
- Theatersinn der Bilder: Lokales S. 427. — Die Attribute der Darsteller
S. 430. — Maske S. 432. — Kostüme und Gesten S. 433. - Der „Nollhart"
imd die Holzschnitte des Ambrosius Holbein S. 434. — Die Nollharlholz-
schnitte im bildkünstlerischen Zusammenhang S. 436. — Die Darstellung der
Sibylla S. 437. — Die „Gouchmat" : Entstehungszeit S. 439. — Die Bilder der
„Gouchmat" und ihr Ursprung S 440.
Niklas Manuel 444
„Des Papst und Christi Gegensatz": Spiel und Zeichnung S 444. — Manuels
Zeichnung und die bildkünstlerische Tradition S. 448. — Manuels Ablaßkrämer
S. 450. — Ursprünglich Theaterstück, später Dialog S. 452. — Die Zeichnung
zum un theatralischen Dialog gehörig S. 453.
Augustin Frieß und Jakob Ruof 454
Buchausstattung und Theater in Zürich S. 454. — Erste Periode der Dramen-
ausstattung bei A. Frieß S. 455. — Zweite Periode: Nachahmung des Straß-
burger Druckers Frölich S. 457. — Dritte und vierte Periode: S. 459. —
Theatergeschichtlich wichtig nur die dritte Periode S. 460. — Augustin Frieß
und Jakob Ruof S. 461. — Ruofs Tellspiel: die Aufführung und die Holz-
schnitte S. 462. — Ruofs Jobdrama: die Aufführung und die Holzschnitte
S. 464. — Bilder zu Ruofs Passionsspiel und Bircks Susanna S. 466. — Die
Kostüme der Ruof-Frießschen Holzschnitte S. 468.. — Die Heroldsbilder und
ihr theatergeschichtlicher Wert S. 471. — Herold und Actor S. 473. — Die
Zeichnungen zu Ruofs Weingartenspiel S. 474, — Die Entstehungsgeschichte
der Handschrift S. 475. — Untheatralische Elemente der Zeichnungen S. 477.
— Theatralisches: die Hölle S. 478. — Nichttheatralischer Charakter der Dar-
stellungen des Weingartens S. 480. — Die Kostüme S. 482. — Die Herolde
S. 483. — Geistliche Verkleidung S. 485. — Propheten und Apostel S. 487. —
Die Engel S. 489. — Die Teufelsbilder S. 492. — Teufel auf dem Theater
S. 495. — Teufelstrachten und Teufelsmasken S. 496. — Schweizerische und
elsässische Dramenillustrationen S. 500.
Schlußwort: Die theatergeschichtlichen Gesamtergebnisse und ihr
geistiger Sinn 501
Berichtigungen und Nachträge 525
Namen- und Sachregister 527
Verzeichnis der Abbildungen.
^ Seite
Abb. 1. St. Marthakirche zu Nürnberg (nach einer Abbildung des 18. Jh.) ... 17
2. Grundriß der Marthakirche zu Nürnberg 19
3. Grundriß des Remters im Nürnberger Predigerkloster 20
4. Chorraum der Nürnberger Marthakirche 22
5. Grundriß der Meistersingerbühne in der Marthakirche 56
6. Nürnberger Musikanten. Aus Cod. Heldt fol. 164 102
7. Zwei Türken. Aus Cod. Heldt, toi. 316 111
8. Jakobsbruder. Aus Cod. Heldt fol. 43 113
9. Vornehmer Spanier. Aus Cod. Heldt fol. 392 b 122
10. Briefbote. Aus Cod. Heldt fol. 451b 128
11. Aussätziger. Aus Cod. Heldt fol. 44 124
12. Nürnberger Fußturniei". Aus Cod. Heldt fol. 95 125
„ 13. Hofmann. Aus Cod. Heldt fol. 44 b 127
„ 14. Narr. Aus Cod. Heldt fol. 168 129
15. Nürnberger Herold. Aus J. Heros, Der indische Pilgerer (1562) . . . 134
,, 17. Darstellung des „Hercules furens" im Cod. Lat. Urbin. 355 281
„ 18. Theatrum Romanum im Cod. Lat. Ars. 664 285
„ 19. Terentius, Andria I, 5 im Cod. Ars. 664, links v. 240 ff., rechts v. 267 ff. 288
., 20. Terentius, Eunuchus 11, 2 im Cod. Ars. 664, links v. 270 ff., rechts v. 283 289
., 21. Terentius, Eunuchus 1, 1 im Cod. Ars. 1135 291
„ 22. Ulmer „Eunuchus" IV, 4 (v. 669 ff.) 293
„ 23. Ulmer „Eunuchus" I, 1 295
„ 24. Ulmer „Eunuchus" II, 2 (V. 270 ff ) 295
„ 25. Ulmer „Eunuchus" II, 3 (v. 293 ff.) 296
„ 26. Ulmer „Eunuchus" III, 1 (v. 398 ff.) 296
„ 27. Ulmer „Eunuchus" IV, 5 (v. 739) 297
,. 28. Ulmer „Eunuchus" V, 5 (V. 975 ff.) 297
„ 29. Ulmer „Eunuchus" V, 6 (v. 1002 ff.) • 298
„ 30. Ulmer „Eunuchus" V, 8 (V. 104911) '. 298
31. Lyoner Terenz : Gesamtdarstellung des Theaters 304
„ 32. Lyoner Terenz: Andria, Prolog 305
33. Lyoner Terenz: Andria I, 1 306
„ 34. Lyoner Terenz: Andria HL 1 (v. 453 ff.) 307
„ 35. Lyoner Terenz: Andria V 4 (904 fL) 308
„ 36. Lyoner Terenz: Andria V, 5 (v. 957 ff.) 309
., 37. Lyoner Terenz: Eunuchus II, 2 (v. 232 ff.) 310
38. Lyoner Terenz: Eunuchus I, 1 311
„ 39. Lyoner Terenz: Eunuchus II, 3 (V. 293 fL; 303 ff.) 312
„ 40. Lyoner Terenz: Eunuchus V, 6 (v. 1002 ff.; 1006 11) 313
„ 41. Straßburger Terenz: (jesamtdarstellung des Theaters 320
42. Straßburger Terenz : Andria, Prolog 322
,, 43. Straßburger Terenz: Andria 1,1 323
., 44. Straßburger Terenz: Eunuchus II, 2 (V. 27011) 323
„ 45. Straßijurger Terenz: Eunuchus IV, 7 (v. 77 ff.) . . 324
,, 46. Straßburger Terenz: Gesamtdarstellung des „Euiuicluis" 327
47. Baseler Terenz: (Jesamtbild des Theaters 333
„ 48. Baseler Terenz: Der Dichter 334
„ 49. Baseler Terenz: Brants Entwurf zu Andria V, 4 (v. 90411) 335
„ 50. Baseler Terenz: Andria V, 4 (v. 90411) 336
„ 51. Baseler Ton-enz: Andria V, 5 (V. 957 ff.) 3:^8
„ .52. Baseler Terenz: Eunuchus 11,2 (v. 270 fL) 338
, .53. Baseler Terenz: Eunuchus 111, 1 (v. 398 fL) 339
Verzeicimis der Abbildungen. vttt
XIII
Abb. 54. Baseler Terenz: Eunuehus IV, 3 (v 739 ff ) ''^'"'*^
„ 55. Baseler Terenz: EunuchusV;(Mv;i002ff.):Zwei.eAustührung ' ^ IT,
., 6o. Venetianer Terenz: Gesamttheaterdarstellung « ■ ■ . d41
„ 57. Venetianer Terenz: Andria Ifl, 1 (v. 4.53 ff.) ^'^'
., 58. Venetianer Terenz: EunuchusI, 1 ^t^
., 59. Venetianer Terenz: Eunuchus II, 2 (V. 232 ff.) !^'!^
„ 60. Brüsseler Einzug: der histrio ..... '^''1
„ 61. Brüsseler Einzug: der Narr zu Pferde ^^'
„ 62. Brüsseler Einzug: maskierte Musikanten ^^^
., 63. Brüsseler Lebende Bilder: Judith und Holofernes ' ' tll
„ 64. Brüsseler Lebende Bilder: Tobias und Sara '
,. 65. Brüsseler Lebende Bilder: Abimelech dnr^h .i,,..^ ^,^-.,..'..'...:. '
«« „ .. , Abimelech durch einen Steinwurf getötet 377
66. Brüsseler Lebende Bilder: Salomos Vermähluna ^ ' l''
6/. Brüsseler Lebende Bilder: Rebeccas Vermählt "
68. Brüsseler I.ehpnrio Riiri^^. i?„n ., " '^^1
Brüsseler Lebende Bilder: Esther vor Ahasver
an
69. Brüsseler Lebende Bilder: Debora feuert die Krieger an IT-
'0. Brüsseler Lebende Bilder: Siseras Ermordung durch Jael '
i7. P.
!8. P.
Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Sechzigjähriaen
Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Siebzigjährigen
89. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Achtzigjährigen
90. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Neunzigjährigen
399
n. Brüsseler Lebende Bilder: der Traum des Astva^e. ' ' ' '''
r2. Brüsseler Lebende Bilder: das Urteil des Paris Z
'3. Brüsseler Lebende Bilder: „Sinopis"
74. Brüsseler Lebende Bilder: „tres virgines'^ !!|!?
75. Brüsseler Lebende Bilder: „Domus deliciae" Zl
76. Brüsseler Lebende Bilder: Sankt Lukas malt die Madonna
78' b"^^"^'' Yl""^: ^''''"'- ""'' ^""^•^ ^'"'^ ^^'-»« ™'t ^«'nem Hofstaat 401
^8. Brugger Lebende BUder: Moses bringt die Tafeln, Louis de Nevers .ib
Brügge Privilegien ...
''~'m^TuMr'"'" Federzeichnungen zu dem Spiel von den zehn Altern '''
81. Edlibachs Federzeichnung zu Brunners Fastnachtspiel ' ' '^Vl«
82 P- Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Zehnjährigen 42'>
83. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Zwanzi^jähric
82. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Zehnjährigen
Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Zwanzigjährigen 4->3
84. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Dreißigjährigen 424
80. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Vierzig ähri^en . . 4.5
86. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Fünfzigjährigen 4^6
427
428
429
430
438
91. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Hundertjährigen . 431
92. P. Gengenbach. Der Nollhart: Der Bruder mit dem König vo,
93. P. Gengenbach, Der Nollhart: Papst und Sibylle .
94. P. Gengenbach, Gouchmat: Venus mit Cupido
95. u. 96. P. Gengenbach, Gouchmat : Der .Jüngling vor und nach den
97. P. Gengenbach, Gouchmat: Der Mönch mit dem Gouchvogel
98. N. Älanuel, Federzeichnung: Des Papst und Christi Gegensatz ' 44.5
99. N. Manuel, Federzeichnung: Der Ablaßkramer ,-.
100. J. Ruof, Teil (Frieß). Erstürmung der Burg Sarnen ,,,
101. J. Ruof, Teil (Frieß). Apfelschuß ^^l
102. J. Stumpf, Weltchronik (Froschaueri. Apfelschuß .^Ö
103. Tellenlied (Frieß). Apfelschuß [
104. J. Ruof, Job (Frieß). Satans Gespräch mit Gott ,^1
105. J. Ruof, Job (Frieß). Halle der Kinder Jobs . 46"
106. J. Ruof, Job (Frieß). Job in seiner Halle beim Schmaus 468
10 <. .L Ruof, Job (Frieß). Job empfängt die schlimmen Nachrichten . " ' 468
^JY Verzeichnis der Abbildungen.
Seite
Abb. 108 J. Ruof, Job (Frieß). Job von Teufeln gequält; Job und sein Weib . . 469
109. J. Ruof, Job (Frieß). Job und seine Freunde 470
110. J. Ruof, Teil (Frieß). Herold und Actor 471
111. J. Ruof, Teil (Frieß). Knabenherold, Actor und Publikum 472
112. J. Ruof, Weingartenspiel, Höllenrachen zu Akt 2 (Wyß N. 9) . . . . 478
113. J. Ruof, Weingartenspiel. Höllenrachen zu Akt 4 (Wyß N. 53) ... 479
114. J. Ruof, Weingartenspiel. Titelzeichnung (Wyß N. 1) 480
115. J. Ruof, Weingartenspiel. Weingarten zu Akt 2 (Wyß 19) 481
116. J. Ruof, Weingartenspiel. Herold und Actor im Vorspiel (Wyß N. o) 483
117. J. Ruof, Weingartenspiel. Herold und Actor am Ende (Wyß N. 75) . . 484
„ 119. J. Ruof, Weingartenspiel. Herold als Epilog (Wyß 76) 484
119. J. Ruof, Weingarten.spiel. Vater mit drei Propheten (Wyß N. 26) . . 487
120. J. Ruof, Weingartenspiel. Vater mit den Aposteln (Wyß N. 62) . . . 488
„ 121. J. Ruof, Weingartenspiel. Engel Raphael (Wyß N. 55) 489
122. J. Ruof, Weingarienspiel. Teufelsbote und Luzifer (Wyß N. lOj . . . 493
„ 123. J. Ruof, Weingartenspiel. Satan (Wyß N. 11) 493
„ 124. J Ruof, Weingarienspiel. Teufel Bell (Wyß N 12) 494
„ 125. J. Ruof. Weingarienspiel. Teufel Astaroth (Wyß N. 13) 494
„ 126 u 127. Teufelskostüm aus Tirol (Vorder- und Seitenansicht) 496
128. Teufelsmaske aus Sterzing, Museum Ferdinandeum zu Innsbruck . . . 497
129. Teufelsmaske aus Oetz, Museum Ferdinandeum zu Innsbruck .... 498
Verzeichnis bibliographischer Abkürzungen ^\
Abel s. S. 286, Anm. 1.
Baechtold s. S. 444, Anm. 2. Burckhardt s. S. 329, Anm. 1. Bolle s. S. 421,
Anm. 1. Burg s. S. 444, Anm. 2. Busscher s. S. 377, Anm. 1.
Cohen s. S. 525 (zu S. 9). Creizenach, W., Geschichte des neueren Dramas I
2. Auflage. Halle 1911 (I.Aull. 1893); IL Halle 1901. HI. Halle 1903. IV. Halle 1909.
Doege s. S. 104, Anm. 1.
Engelhardt s. S. 278, Anm. 1.
Flechsig s. S. 295, Anm. 1.
Hammitzsch s. S. 8, Anm. 1. Hampe s. S. 14, Anm 1. Hartmann s. S. 203,
Anm. 3. Heinze s. S. 491, Anm. 1. Heinzel s. S. 83, Anm. 1. HS. s. S. 13, Anm. 1.
KG. = Hans Sachs, Werke, herausgegeben von A. v. Keller u. E. Goetze. 26 Bände
Könnecke, G., Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Naiionalliteratur. 2. Aufl.,
Marburg 1895. Kristeller s. S. 299, Anm. 1.
Lippmann s. S. 346, Anm. 1. Lommatzsch s S. 179, Anm.
Martin s. S. 284. Michels s. S. 14, Anm. 2.
Petersen s. S. 185, Anm. 1.
Heuouard s. S. 300, Anm. 3. Röttinger s. S. 339, Anm. 1. Rondot s. S. 316
Anm. 3.
Schauspiele, Schweizerische s. S. 461, Anm. 1. Schmidt, Expeditus
P. S. 15, Anm. 2. Schultz, Alwin s. S. 105, Anm. 1. Stornajolo s. S. 280, Anm. 1
Vögelin s. S. 445, Anm. 3; 455, Anm. 1.
Weisbach s. S. 331, Anm. 1. Wölfflin s. S. 268, Anm. 1. Woltmann s. S. 435,
Anm. 1. Würfel s. S. 17, Anm. 1. Wyß s. S. 474, Anm. 1 (zu S. 461, Anm. 1).
Zacher u. Matthias s. S. 42.5, Anm. 1. Zappe rt s. S. 202. Anm. 1. Zemp
s. S. 413, Anm. 1. Zion, N' ü rnbergisches s.S. 17, Anm. 1.
1) Zeitschriften werden nach dem in den „Jahresl)orichteM liir (icschichtswissen.
schalt" und den „Jahresberichten für neuere deutsche Lilcraturgeschichte" gebräuch-
lichen Kürzungssystem zitiert.
Bibliotheken und andere Sammlungen,
deren Bestände benutzt worden sind.
Basel, Museum; Universitätsbibliothek.
Berlin, Kgl. Bibliothek; Bibliothek des Kgl. Kunstgewerbemuseums; Lipperheidesche
Kostümbibliothek'); Kgl. Kupferstichkabinett.
Bern, Stadtbibliothek; Universitätsbibliothek.
Bonn, Kgl. Universitätsbibliothek.
Breslau, Stadtbibliothek.
Darmstadt, Großherzogliche Hofbibliothek.
Donaueschingen, Fürstliche Bibliothek.
Dresden, Kupferstichsammlung König Friedrich Augusts 11.
Einsiedeln, Stiftsbibliothek.
Erlangen, Kgl. Universitätsbibliothek.
Frankfurt a. M., Stadtbibliothek.
Innsbruck, Museum Ferdinanden m.
München, Kgl. Hof- und Staatsbibliothek.
Nürnberg, Stadtbibliothek; Germanisches Nationalmuseum: Pfarrarchiv der Martha-
kirche; Stadtbauamt.
Paris, Bibliothek des Arsenals.
Rom, Vaticana.
Sankt Gallen, Stadtbibliothek.
Seebarn bei Korneuburg, Gräflich Wilczeksciie Sanunlungen.
Weimar, Großherzogliche Bibliothek.
Wien, K. und k. Hofbibliothek.
Zürich, Stadtbibliothek; Stadtarchiv.
1) Ihrem Leiter, Herrn Direktorialassisteuten Prof. Dr. Doege, bin ich zu besonderem DaiiW
verbunden.
Einleitung.
H e r r m a n n , Theater.
Die Beschäftigung mit der Theatergeschichte hat während der
letzten Jahrzehnte eine bemerkenswerte Steigerung erfahren. Wir
haben Forschungen, die sich „theatergeschichthche" nennen, wir
haben eine „Gesellschaft für Theatergeschichte ", die viele Mitglieder
zählt, wir hören von dem Plane, Theatermuseen zu begründen. Solches
theaterhistorische Interesse erklärt sich gewiß in erster Reihe aus
der großen Neigung unserer Zeit für das lebendige Theater, das
heute in dem ewigen, nur durch wenige wundersame Vereinigungs-
stunden unterbrochenen Kampfe zwischen Drama und Theater als
Triumphator erscheint, ja darüber hinaus aus der im tiefsten Sinne
schauspielerischen Natur des modernen Menschen; aber das so aus
dem Tagesinteresse Geborene ist es wohl wert, zu einem dauernden
Besitz der historischen Wissenschaft zu führen. Unter den verschiede-
nen Zweigen der allgemeinen Kulturgeschichte nimmt die Geschichte
der Theaterspiele eine besonders wichtige Stelle ein, weil die Be-
tätigung und Entwicklung der Völkerseelen hier besonders scharfe
und unmittelbare Spiegelbilder liefern; sie stellt ferner ein eigen-
artiges Gebiet der allgemeinen Kunstgeschichte dar, das freilich den
Gebieten der eigentlichen Hochkünste, der Literatur-, Musik- und
Bildkunstgeschichte nicht vollkommen ebenbürtig ist, aber doch
eine große Reihe bemerkenswerter Kunstgebilde in geschichtliche
Beleuchtung rückt; sie liefert endlich Material, ohne dessen Be-
herrschung ein Hauptteil der Literaturgeschichte : die Geschichte
der dramatischen Dichtung zum vollen Verständnis nicht gebracht
werden kann.
Wir haben den Wunsch und zwar den berechtigten Wunsch,
eine theatergeschichtliche Wissenschaft zu besitzen, - — wir besitzen
sie aber noch ganz und gar nicht. Ja, wir wissen noch nicht ein-
mal die Aufgaben der künftigen Wissenschaft gebührend abzu-
grenzen. Daß in theatergeschichtlichen Festsitzungen Vorträge über
die dichterische Bedeutung eines Schillerischen Dramas oder über
die Tagebücher eines großen österreichischen Dramatikers gehalten
werden konnten, ist ein nur allzudeutliches Symptom dafür, daß
man auch unter den Adepten die Geschichte der dramatischen
Dichtung und die Geschichte des Bühnenwesens immer noch durch-
einander wirft. Das Drama als dichterische Schöpfung geht uns
aber in der Theatergeschichte nichts oder nur in soweit etwas an,
1*
4 Einleitung.
als der Dramatiker bei der Abfassung seines Werkes auch auf die
Verhältnisse der Bühne Rücksicht nimmt, und insofern also das
Drama uns einen unbeabsichtigten Abdruck vergangener Theaterver-
hältnisse liefert ; wir betrachten es ferner als Bestandteil des Theater-
spielplans und als Gegenstand der Bemühungen nachgeborener Büh-
nenkünstler, es ihren veränderten Theaterverhältnissen zu eigen zu
machen. Das spezifisch Dichterische aber bleibt für uns ganz
außer Betracht ; das völlig unkünstlerische 'Theaterstück' im engeren
Sinne des Wortes ist für unsern Gesichtspunkt unter Umständen
wichtiger als das größte dramatische Meisterwerk der Weltliteratur.
Was uns eigentlich angeht, ist nicht zu allen Zeiten dasselbe, weil
das Urwesen des Theaters in den verschiedenen Kultursituationen
sehr verschiedenartige Erscheinungsformen zu Tage fördert — die
wichtigsten Einzelgebiete, die wir zu erhellen haben, sind : das
Theaterpublikum, die Bühne mit ihren verschiedenartigen Einrich-
tungen, die Schauspielkunst und endlich die künstlerische Leitung
der Vorstellungen. Alles Faktoren einer nach eigenen Gesetzen
lebenden Eigenkunst sozialen Charakters, die zwar neuerdings im-
mer wieder Rücksicht zu nehmen hat auf die ihr zugefallene Auf-
gabe, Schöpfungen einer anderen Kunst: der dramatischen Poesie
zu verlebendigen, die aber ursprünglich in sich vollkommen frei
ist und diese Unabhängigkeit und Selbständigkeit bis auf unsere
Tage, oft sogar mit allzustarken Ebenbürtigkeitsansprüchen, immer
wieder betont. Daß wir über das Wesen dieser Theaterkunst in
ästhetischer Hinsicht uns noch so wenig oder garnicht verständigt
haben, trägt ebenfalls dazu bei, die Theatergeschichte noch unter
der Wissenschaftsstufe zurückzuhalten : haben doch auch Literatur-,
Bildkunst- und Musikgeschichte einen wissenschaftlichen Charakter
erst angenommen, seitdem ihre Vertreter den allgemeinen Fragen
des künstlerischen Schaffens und Wirkens ihre Aufmerksamkeit
gewidmet haben.
Aber auch wo die theatergeschichtliche Forschung unter Aus-
schaltung des Dramatischen sich im besondern den Leistungen zu-
zuwenden bemüht, die ihr wirklich zukommen, befindet sie sich noch
in einem vorwissenschaftlichen Zustande; es ist kein Zufall, daß
auf diesem Gebiete der Wissenschaftler sich so ruhig mit dem
Dilettanten verbündet: denn auch die allermeisten Wissenschaftler
sind hier über den Dilettantismus noch nicht hinausgekommen.
Wenn man uns solcher Erklärung gegenüber etwa auf eine vielge-
rühmte Schauspielerbiographie als auf ein vorzügliches und durch-
aus wissenschaftliches Werk hinweist, so muß betont werden: solche
Epitheta verdient es nur in biographischer und kulturgeschichtlicher
Beziehung, in dem Kern seiner Aufgabe versagt es ganz: niemand
vermag aus ihm ein nur einigermaßen deutliches Bild von der
Kunst seines Helden sich zu machen.
Einleitung. 5
Und hier liegt das Entscheidende. Wir begnügten uns meistens
damit, glücklich aufgestöbertes Material: Aktennotizen, Kritikerur-
teile, Bilder zusammenzufügen, und nannten das Ergebnis Theater-
geschichte, Ein Zustand, wie er einst in der Literaturgeschichte
herrschte, als sie noch Literärgeschichte war. Wer möchte es
heut noch unternehmen, Dichtungsgeschichte zu schreiben, d. h.
die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Dichtwerken der Ver-
gangenheit aufzuzeigen, ohne zuvor diese einzelnen Leistungen
selbst dermaßen aufgedeckt, ergänzt, beleuchtet zu haben, daß sie
wie in unmittelbarer Gegenwart vor dem Auge des Betrachters
stehen?
Solche speziell philogogische Grundleistung hat auch die thea-
tergeschichtliche Wissenschaft viel schärfer ins Auge zu fassen
und durchzuführen, ehe sie sich an die Arbeit der historischen
Verknüpfung macht. Zuerst die Zustände und dann die Abfolge!
In allererster Reihe gilt es sich die Aufgabe zu stellen, durch
kritische Würdigung des gesammelten Materials, durch eine die
Lücken der Überlieferung kombinatorisch ergänzende Rekonstruk-
tion die theatralische Einzelleistung der Vergangenheit, die wirk-
liche Gesamtvorstellung mit allen ihren Teilen wieder lebendig
werden zu lassen. Die Mittel, die für die Materialsichtung und
für den ergänzenden Aufbau zur Verfügung stehen, sind zunächst
keine andern wie die der historisch-philologischen Kritik im allge-
meinen; so wie diese Mittel aber jedesmal durch die besonderen
Bedingungen des der Untersuchung harrenden kulturellen oder
künstlerischen Geschehens entscheidend modifiziert werden, so
kommt es für die theaterhistorische Kritik auch darauf an, den
Eigentümlichkeiten dieses Kunstgebietes bis ins letzte gerecht zu
werden. Grade hier aber liegen große Schwierigkeiten. Man achte
nur auf das fast erfolglose Ringen der modernen Theaterkritik,
die theatralischen Leistungen, die sie doch in unmittelbarer, lücken-
loser Lebendigkeit vor sich hat, so zu beschreiben, daß ein voll-
ständiges und scharfes Bild auch für den entsteht, der die Vor-
stellung nicht besucht hat — um wieviel schwieriger ist es, Mittel
und Wege zu finden, um aus den Trümmern der Überlieferung
die längst vergangene Leistung einigermaßen deutlich wieder er-
stehen zu lassen.
Will die Theatergeschichte eine Wissenschaft werden, so muf5
sie ihre besondere Methode erhalten. An dieser Stelle soll indes-
sen keine methodologische Abhandlung geboten werden. Das
Reden von der Methode, das in den letzten Jahren unter den jün-
geren Forschern z. B. der Literaturgeschichte eine gewisse Rolle
spielt, ist älteren Genossen mitunter sehr auf die Nerven gefallen,
und obschon auch der bloße Hinweis auf Straßen, auf denen im
Gegensatz zu den allzubetretenen vielleicht lockendere Ziele zu er-
6 Einleitung.
reichen sind, etwas Verdienstliches haben kann und obschon es
begreifhch ist, daß nicht sofort der Mut gefunden wird, sicli in un-
bekannte Gegenden zu wagen, in denen oft jeder Scliritt vorwärts
mühsam erkämpft werden muß, so ist doch nicht zu leugnen, daß
tatsächlich auf die Dauer das bloße Sprechen von der Methode,
das ewige Man müßte der Methodologen etwas Fatales erhält und
mindestens den Anschein der Unfruchtbarkeit erweckt.
Das vorliegende Buch versucht es daher lieber, zugleich mit
der praktischen Durchführung einiger theatergeschichtlicher Unter-
suchungen Methode zu bringen. Die neuen Wege führen durch
die verschiedenartigsten Wissenschaftsgebiete, die schwerlich ein
und derselbe Forscher in gleicher Weise fachmännisch zu beherr-
schen vermag, oft genug an Punkte, die auch die betreffende
Sonderwissenschaft noch im Dunkeln gelassen hat und die doch
nicht unbeachtet bleiben durften; mannigfache Nachsicht wird da-
her vonnöten sein. Hier sei nur mit zwei Worten Allerallgemein-
stes angedeutet. Theaterkunst ist eine Raumkunst — in erster
Linie kommt es darauf an, den Raum der Vorstellung und die Art
seiner Benutzung genau zu kennen. So wird es sich empfehlen,
von einem Fall auszugehen, in dem der Ort der Aufführung uns
bis heute erhalten oder doch rekonstruierbar ist, und in dem wir
ferner die Theaterstücke besitzen, die ein unmittelbar bei der Auf-
führung beteiligter Autor eben für die Darstellung auf dieser uns
erhaltenen Bühne verfaßte, und nicht eher zu ruhen, bis die Räum-
lichkeiten dieser Bühne mit den in den Theaterstücken, zumal
ihren szenischen Bemerkungen gestellten Anforderungen bis ins
kleinste in Einklang gebracht sind. Vom sicher Erhellten werden
wir dann auch den Blick auf minder günstig Beleuchtetes richten
dürfen.
Es wird ferner notwendig werden, sich mit der Erkenntnis des
eigentlichen Bühnenraumes und seiner Ausnutzung durch die Mit-
wirkenden nicht zu begnügen, sondern auf Grund dieser Erkennt-
nis und unter erneuter Heranziehung der in den szenischen Be-
merkungen erhaltenen Andeutungen und ihres theatralischen Sinnes,
der auf verschiedene Art immer wieder nachgeprüft werden muß,
alles Nötige über Dekorationen, Maschinerien und Requisiten und
ihre Verwendung durch die Spielleitung und deren Hilfskräfte zu
ermitteln; zu genauerer Feststellung werden analoge Verhältnisse
der bildenden Kunst herangezogen, wird der Stand des Kunstge-
werbes und der Handwerke berücksichtigt, wird vor allem auch
die Elgeiuui des PubUkums, seine Anforderungen an den Natura-
lismus der Bühnenbilder und seine Phantasiebegabung untersucht
werden müssen.
Auf ähnhche Weise soll auch von allen Seiten her das Kostüm
der Schauspieler festgestellt werden ; wichtiger aber wird dann
Einleitung. 7
der Versuch werden, die eigentliche Schauspielkunst zu rekonstru-
ieren. Es ist fast unmöglich, den Gang der Untersuchung mit
wenigen Sätzen auch nur zu einer schattenhaften Vorstellung zu
bringen. Die dürftigsten urkundlichen Notizen gilt es hier in wirk-
liches Leben umzusetzen und die szenischen Bemerkungen des
Dichterregisseurs bis ins letzte auszubeuten, die besonderen Zwecke
und Bedingungen der Vorstellungen, die Gesamtfähigkeit der
Mitwirkenden, die schauspielerische Tradition, die von früheren
Zeiten her besteht, den Raum, auf dem der Darsteller sich bewegt,
und dergleichen mehr zu berücksichtigen, die Menschendarstellung
in der Erzählung und in der bildenden Kunst gegen die theatra-
lische abzugrenzen und besonders die letztere dadurch scharf zu
beleuchten. Das Wichtigste wird doch immer sein, den papierenen
Ermittlungen dadurch zum Leben zu verhelfen, daß man sie in die
Praxis der eigenen Stimme, des eigenen Körpers, der eigenen
Seele überträgt und so in unwillkürlicher Ergänzung aus der
lückenhaften Überlieferung ein blutvolles Gesamtbild herstellt, so
wie der Literarhistoriker schließlich doch eine größtenteils ver-
lorene Dichtung nur dadurch herstellt, daß er die kritisch herge-
richteten Reste in seine eigene Seele aufnimmt und zum Zwecke
der Neuschöpfung des Verlorenen sich in den alten Dichter ver-
wandelt.
Ist das Ziel aller solcher Untersuchungen im wesentlichen die
Herstellung verloren gegangener Leistungen, bis sie in der An-
schaulichkeit eines unmittelbaren Abbildes vor uns stehen, so darf
daneben eine andere Betrachtung nicht zurückbleiben, die zunächst
mehr ein Abbauen als ein Aufbauen verfolgt und sich statt mit
der Herstellung neuer Bilder mit der kritischen Prüfung überlieferter
beschäftigt. Szenenbilder aus älterer Zeit haben nicht den un-
mittelbaren Realitätswert, den die heutigen Momentaufnahmen
theatralischer Leistungen besitzen; anderseits kann in ihnen, auch
wo sie in der Form von Dramenillustrationen auftreten, ein Stück
der wirklichen Aufführung mit überliefert sein. Dieses echte Stück
gilt es herauszuholen oder die völlige Theaterfremdheit der be-
treffenden Illustration aufzuzeigen und so durch die Fortschaffung
unbrauchbaren Materials der Theatergeschichte einen Dienst zu
erweisen — in erster Reihe müssen zu dem Zwecke die Elemente
ausgesondert werden, die durch die rein bildkünstlerischen Auf-
gaben der betreffenden Darstellungen bedingt sind.
Aber nicht nach solchen dürftigen Andeutungen will die hier
empfohlene theatergeschichtliche Methode beurteilt sein, sondern
wie schon bemerkt, aus der vorgelegten Übertragung in die Praxis.
Die betonte Methodologie dieses Buches soll indessen auch keines-
wegs eine Schablone sein, mit deren Hülfe künftige theaterge-
schichtliche Untersuchungen leicht durchgepinselt werden könnten.
8 Einleitung.
Sie stellt einerseits einen ersten Versuch dar und darf infolgedessen
gewiß nicht den Anspruch erheben, jenseits aller Verbesserungs-
und Verfeinerungsmöglichkeiten zu stehen; es ist aber ferner zu
bedenken, daß bei aller Neigung zum Konservativen, die einen
Grundzug im Wesen der Theaterkunst bildet, im Verlauf ihrer
langen Geschichte doch auch eine große Verwandlungsfähigkeit
sich zeigt, daß bei der komplizierten Art der Bühnenkunst die Be-
dingungen, unter denen ihre Schöpfungen entstehen, vielfach wech-
selnde sind und daß solchem Wechsel auch eine gewisse Beweg-
lichkeit in den Rekonstruktionsmethoden entsprechen muß. Die
Wege, die hier für das Mittelalter und die Reformationszeit zu
einem gewissen Ziele führen möchten, sind für die folgenden Jahr-
hunderte gewiß nicht überall in gleicher Weise gangbar.
Wenn es aber soeben hieß, die Untersuchungsweise dieses
Buches stelle einen ersten Versuch dar, so gilt das nur mit einer
starken Einschränkung. In dem Jahrzehnt, das von dem ersten
Keimen der hier vorliegenden Arbeiten bis zu ihrem völligen Ab-
schluß so ziemlich verstrichen ist, haben sich die Bemühungen,
die Theatergeschichte zum Rang einer Wissenschaft zu erheben,
deutlich bemerkbar gemacht. Wir haben nicht nur ein paar theater-
baugeschichtliche Studien sachverständiger Architekten zu verzeich-
nen '), deren Bemühungen unserer Gesamtwissenschaft werden
zum Vorteil gereichen können, wir besitzen auch das Buch von
J. Petersen über „Schiller und die Bühne" 2), das, ohne alle
Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten scharf zu erfassen,
namentlich ohne den Raumkunstcharakter der Bühnenleistungen
gebührend zu berücksichtigen, doch in einer bisher nicht durch-
geführten Art das Material über die deutschen Bühnen im aus-
gehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gesammelt und
wissenschaftlich verarbeitet hat; wir besitzen wenigstens eine
Arbeit über einen Schauspieler des 18. Jahrhunderts, die meinen
oben geäußerten Anschauungen gemäß die schauspielerische Eigen-
art ihres Helden aus den latenten Darstellungsanforderungen
seiner Theaterstücke rekonstruiert und unter Benutzung der Seele
des modernen Forschers lebendig werden läßt: die Studie über
Johann Christian Brandes von Johannes Klopfleisch '^). Einen will-
kommenen Bundesgenossen dürfen wir in Albert Köster^) begrüßen,
1) M. Ha mmitz seh, Der moderne Theaterbau. Der höfische Theaterbau. Der Anfang der
modernen Theaterbaukunst, ihre Entwickhing und Betätigung zur Zeit der Renaissance,
des Barock und des Rokoko. Berlin 19()(i.
A. Doebber, Lauch.städt und Weimar. Eine Iheaterbaugesciiichtliciie Studie. Berlin 1908.
2) Berlin 1904.
3) Heidelberger Diss(!rlalion 19()(J. Eine ähnlich angelegte Schrift von Dr. H. K u ndsen
über Heinrich Beck wird bald hervortreten.
4) Ich hebe hier besonders seine ausgezeichnete Bespreclumg des Petersenschen
Buches hervor: Anzeiger für deutsches Ailertum Bd. 30, S. 205 ff. (erschienen 1907).
Einleitung. 9
aus dessen Schule die sehr tüchtige Arbeit von C. H. Kaulfuß-
Diesch „Die Inszenierung des deutschen Dramas an der Wende
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts"') hervorgegangen
ist. Endhch hat auch die Shakespearephilologie der jüngsten Zeit
zwei Schriften-) hervorgebracht, die die Bühnenverhältnisse der
elisabetanischen Zeit mit moderner Energie ins Auge fassen.
Während aber solche Untersuchungen zur neueren Theater-
geschichte die Sicherheit der methodologischen Linienführung und
die Allseitigkeit der Betrachtung, zumal den Mut zum Betreten
auch bildkunstgeschichtlicher Forschungswege mitunter noch ver-
missen lassen, sieht es auf dem Gebiet der Behandlung des antiken
Theaters wesentlich anders aus. Die ganze Parvenühaftigkeit der
neueren Philologie wird einem wieder deutlich, wenn man nach
der mühsamen Durchführung theatergeschichtlicher Untersuchung
in die Parallelarbeiten der klassischen Philologen sich vertieft, und
mit einigem Staunen liest man das zusammenfassende Urteil eines
Kenners-^), daß es eigentlich auch eine Wissenschaft vom antiken
Theaterwesen noch nicht gebe. Wie wird der oben ausgespro-
chene Satz von der Nichtexistenz einer Theatergeschichtswissenschaft
auf dem Gebiete der neueren Zeit dadurch beleuchtet! Denn
seit den Tagen Gottfried Hermanns, Wieselers, Schönborns u. a.
finden wir hier Untersuchungen, wie wir sie brauchen, mögen sie
inzwischen auch durch Zuführung neuen Materials und Verfeinerung
der Methoden gänzlich veraltet sein und etwa neben dem großen
Werke über das griechische Theater von Dörpfeld und Reisch^)
sich gar nicht mehr sehen lassen können: Wegrichtung und Wander-
art sind doch schon seit langer Zeit die richtigen. Der erst in unserer
Generation langsam sich wandelnde Grundzug der Altertums-
wissenschaft, die Ermittlung des Zuständlichen vor der Betrachtung
der historischen Abfolge zu bevorzugen, ist der uns für die neuere
Zeit noch fehlenden rechten Begründung der Theatergeschichte
ungemein zugute gekommen ; die Behandlung der Theaterraumver-
hältnisse, die kritische Verwendung der Bildkunstwissenschaft
stehen ganz im Vordergrund, so sehr, daß der ganze theater-
wissenschaftliche Betrieb beinahe zu sehr einen archäologischen
Charakter erhält und die nicht ihm unterzuordnenden Theater-
elemente, so besonders die Schauspielkunst, über Gebühr ver-
nachlässigt werden. Ein ungeheurer Vorsprung, den der Erforscher
1) Leipzig 1905 (Probefahrten Band 1).
2) C. Brodmeier, Die Shakespeare-Bühne nach den alten Bühnenanweisungen.
Weimar 1904.
R. Wegener, Die Bühneneinrichtung des Shalcespeareschen Theaters nach den zeitge-
nössischen Dramen. Halle 1907.
3) Oehmichen in Iwan ^lüUers Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft
V, 3. S. 183.
4) Athen 1896.
10 Einleitung.
des antiken Theaterwesens vor den Genossen auf modernem Felde
hat, besteht ferner darin, daß er für fast alle seine Hilfsunter-
suchungen, in denen er die Lebensbetätigungen auf andern Kultur-
und Kunstgebieten heranzieht, reiche Vorarbeiten und oft unmittel-
bare Beantwortung seiner Fragen vorfindet, während wir unserseits
nur allzu oft gezwungen sind, wichtige Probleme der Nachbar-
wissenschaften erst in selbständiger Forschung irgendwie der
Lösung näher zu bringen.
Von verschiedenen Richtungen her erklärt es sich, daß die
neuere Theatergeschichte nicht töchterlich an die antike sich an-
schließt, sondern aus ihren eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen
heraus eine freie Existenz sich zu schaffen sucht und erst nach-
träglich in ein Wahlverwandtschaftsverhältnis zu jener tritt. Möge
sie allmählich der älteren Genossin sich würdig erweisen!
Erster Teil:
Das Theater der Meistersinger von Nürnberg.
Erstes Kapitel:
Zuschauerraum und Bühne.
Wir stellen uns die Aufgabe, eine theatralische Aufführung
der Vergangenheit bis ins kleinste dermaßen wieder lebendig
werden zu lassen, daß man sie, wenn nur die finanziellen Mittel
zur Verfügung stehen, ohne Furcht vor bedenklichen Verstößen
tatsächlich einem modernen Pubhkum vor Augen bringen könnte.
Keine einzige Periode der deutschen Geschichte liegt theaterge-
schichtlich betrachtet so sehr im Dunkeln wie das sechzehnte Jahr-
hundert — und doch: gerade hier liegen die Umstände so, daß
man unter Anwendung bisher wenig erprobter Untersuchungsmittel
auf eine besonders interessante Stelle das hellste Licht fallen
lassen kann: auf die Aufführungen, die die Nürnberger Meister-
singer unter Hans Sachsens Leitung um die Mitte des Refor-
mationsjahrhunderts veranstaltet haben.
Wir wählen ein beliebiges Drama des Dichters, um einen be-
stimmten Ausgangspunkt für unsere Betrachtung zu haben, und
entscheiden uns für sein Nibelungendrama, die Tragedj des
lüiernen Sewfried vom 14. September 1557, die ja literarisch nicht
sowohl Hans Sachsens Fähigkeiten als vielmehr die Grenzen
seines Könnens offenbart, in theatrahscher Hinsicht aber so eigen-
artige Anforderungen stellt, daß es uns besonders reizen muß, ein
authentisches Bild seiner Inszenierung zu gewinnen. ') Die Art dieser
Inszenierung muß sich natürlich ebenso auf jedes andere der großen
Hans Sachsischen Dramen (63 Tragödien, 65 Komödien) anwenden
lassen, während die Fastnachtspiele mit ihrer andersartigen
dichterischen und theatralischen Tradition mehr beiseite bleiben.
„Auf jedes andere" — das wird sich doch nicht aufrecht erhalten
lassen. Der erste Punkt nämlich, dem wir unsere Aufmerksamkeit
zuzuwenden haben, betrifft
die Anlage der Bühne.
Zu einem sicheren Ergebnis aber werden wir in dieser Be-
1) Das Drama hat zugleicli den äußerlichen Vorzug, daß es im Gegensatz zu den
übrigen Tragödien und Komödien des Verfassers in einem auf seine Handschrift zurück-
gehenden Neudruck bequem zugänglich ist: herausgegeben von E. Goetze, Halle 1880.
(Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jh. Nr. 29). Weiter unten öfters als
HS. (= Hüren Seufrid) zitiert.
14 Die Nürnberger Marthakirche als theatralischer Schauplatz.
Ziehung immer nur da kommen, wo wir einen noch vorhandenen
oder völHg rekonstruierbaren Schauplatz mit den Anforderungen
derjenigen Dramen vergleichen, bei deren Abfassung der Verfasser
die örtlichen Verhältnisse eben dieses Schauplatzes durchaus be-
rücksichtigt haben muß.
Über den Ort, an dem zu Nürnberg die dramatischen Auf-
führungen der Meistersinger stattfanden, sind wir seit dem Jahre
1550 amtlich unterrichtet : durch die Bescheide, die die spiellustigen
Bürger auf ihre Konzessionsgesuche seitens des Rates erhalten
haben und die gelegentlich auch die Angabe der Lokalität ent-
halten, die für die Vorstellung bewilligt oder abgelehnt wurde. In
einer Ratsprotokolleinladung heißt es zum 5. Januar 1551 ') : Des-
gleichen soll denen, die bei sant Marthe ain comedi halten
wollen, dasselbig auch nur am Feirtag nach der predig und die-
selbig kirchen darzu zu geprauchen vergönnt werden, weil sies
Fernt auch gepraucht haben. Fernt — d. h. das vorige Jahr,
also 1550.
Ist damit nun aber nachgewiesen, daß diese Aufführung auch
wirklich die erste Meistersingeraufführung in der Marthakirche ge-
wesen ist? Die erste Aufführung der Meistersinger überhaupt war
es nicht. Als eine Einladung zu jener durch das oben mitgeteilte
Protokollstück genehmigten Veranstaltung des Jahres 1551 hat
Hans Sachs am 3. Dezember 1550 einen Meistergesang verfaßt-);
hier wird zunächst der Vortrag der verschiedenartigsten Meister-
lieder verheißen, und dann steht in der dritten Strophe:
Auch wellen wir wie andre jar
Da ein comedj halten.
Auch aus gotlicher Schriße dar,
Von Isaac dem alten . .
Dieser Hinweis auf die andre jar zeigt uns, daß nicht nur die
Aufführung des Jahres 1550 ins Gedächtnis zurückzurufen ist, son-
dern daß eine schon ältere Tradition besteht.
Aber wie weit geht sie zurück? Hans Sachsens dramatische
Leistungen setzen, wenn wir hier nicht sowohl an das Fastnacht-
spiel wie an Tragödie und Komödie denken, im Jahre 1527 ein und
reichen zunächst bis zum Jahre 1536. Daß sie nicht auf dem Papier
geblieben, daß wenigstens einige von ihnen aufgeführt worden
sind, können wir beweisen, obwohl die städtischen Archivalien
schweigen. Ein von Hans Sachs im März 1551 für einen Meister-
singer namens Schmidlin gedichteter Gesang, in dem die Rollen
1) Harape, Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg (Nürnberg 1900). S. 283
(N. 54 vgl. 50) u. S. 61.
2) Vgl. Michels, Vierteljahrssdn-ift für Literaturgeschichte 3, S. 31 ff.
Nüniberoer Aufführungen 1527 — 1550. 15
zusammengestellt werden, die der Schmidlin gespielt hat,') zeigt
uns auch, abgesehen von den Fastnachtspielen, mehrere Hans
Sachsische Stücke der älteren Zeit. Daß es sich aber hier schon
um regelmäßige Aufführungen der Meistersinger gehandelt hat, ist
sehr zweifelhaft — wird doch die Abfassung der Hans Sachsischen
Dramen im Jahre 1536 auf geraume Zeit völlig unterbrochen. Einen
wirklichen Aufschwung des Nürnberger Theaters führen dann offen-
bar die gelehrten Aufführungen Nürnberger Schulmeister herbei,
die in lateinischer und in deutscher Sprache, aber jedenfalls auch
dann ganz im Stile der gelehrten lateinischen Darstellungen ge-
halten sind.-) Amtlich wird am 26. Dezember 1549 den jungen
knaben beim Rapolt vergönnt, //• comedi lateinisch in der regiment-
stuben (des Rathauses) zu spielen, aber schon vorher sind durch An-
gaben deutscher Dramendrucke Schüleraufführungen unter Leitung
des bekannten Leonhard Culmann nachzuweisen : zwei schon im
Jahre 1539, drei weitere im Jahre 1544 — alle fünf in deutscher Sprache.
Von hier geht offenbar die Anregung für Hans Sachs zu neuer dra-
matisch-theatrahscher Tätigkeit aus : 1545 setzt sie mit der Abfassung
von drei Dramen ein und wird seit dem November 1547 immer
lebhafter, um dann zumal seit 1550 zu jener staunenswerten Frucht-
barkeit zu führen. Schon bei den allerersten dieser Werke, deren
Stoffe dem Decamerone entnommen sind, denkt der Dichter an eine
Aufführung: sie sind, seinen eigenen Angaben nach, mit so und so
viel Personen zu spielen oder auch wohl zu agieren. Ja, vom
April des Jahres 1546 an verraten uns des Dichters Handschriften
in szenischen Bemerkungen, die später für den Druck verändert
sind, auch etwas über die Bühneneinrichtung, die der Dichter bei
der Abfassung der Dramen im Sinne hatte: in der Griselda heißt
es dort, wo die Brautfahrt des Markgrafen und die erste Begegnung
mit Griselda vorgeführt werden : ^) Sie geni in dem sal herumb . . .
Griselda get mit Eim waserkrug zv irer zenn. Und ebenso im Hiob
aus dem November 1547^): Job get aus der zen; und schließlich
ganz ausdrücklich am Schluß des Dramas hinter dem Personen-
verzeichnis : Vnd ein Seen mus man habn zv dieser ComedJ. Damit
ist ganz deutlich bewiesen, daß diese neue Reihe Hans Sachsischer
1) Nicht Hans Sachs selbst, wie es bei Michels heißt, der den Meistergesang a. a. 0.
S. 43 ff. gedruckt und erläutert hat, und ebenso bei Hampe S. 62f. Michels berichtigt sich
S. 615f. Das Gedicht wird uns weiterhin noch für einen andern Zweck wichtiges Material Uefern.
2) Über die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramao sind wir durch das diesen
Titel tragende Buch des P. Expeditus Schmidt (Berlin 1903) besser als früher unterrichtet
— allerdings : eine sichere theatergeschichtliche Methode zeigt sich nur in einigen An-
sätzen, und das große chronologische und lokale Durcheinander ist reciit bedenklich.
3) KG. 21, S. 352 zu 2, S. 47, 4.
4) Gedruckt im Anhang dieses Buches als Ergänzung zu KG. 6, S. 35,12 und 55,15;
die letztgenannte Stelle auch bei KG. 23, S. 519, aber dort steht unverständlich statt
scen: ßen. Ebenso in den Menaechmen (1548): 'Rosina in die zen' (zu KG. 7, S. 101. 17).
16 Nürnberger Aufführungen 1527 — 1550.
Komödien und Tragödien, die offenbar für jene in dem an-
geführten Meistergesang aus den Jahren vor 1550 nachgewiesenen
regelmäßigen Vorstellungen der Meistersinger geschrieben sind,
angeregt ist durch die gelehrten Schulaufführungen der vierziger
Jahre. Denn diese zenn oder scen, von der da die Rede ist, das
ist nichts anderes als die scena der Schulbühne: die Andeutung
eines Hauses, aus dem die Personen kommen oder in das sie hin-
eingehen, durch einen Vorhang, hinter den man treten kann,') in
der Art, daß öfter mehrere Szenen einen Schauplatz begrenzen:
Griselda gel zu irer zenn. Der eigentliche Schauplatz aber ist ein
sal. Es wird daraus klar, daß diese ersten Meistersingeraufführungen
noch nicht in der Marthakirche stattgefunden haben — später ist von
sal und scen nicht mehr die Rede, und auch die eben behandelten
Hinweise in den Dramen von 1546 bis 1548 sind, wie erwähnt, später
bei der Veröffentlichung beseitigt worden : nun waren andere Bühnen-
verhältnisse maßgebend geworden — voran die, die durch die Räum-
lichkeiten der Marthakirche bedingt waren. Ihre Rekonstruktion ist
unsere eigentliche Aufgabe, und wir sehen nun, daß wir, da wir
mit Sicherheit erst in das Jahr 1550 die erste Aufführung in der
Kirche zu setzen vermögen, am besten uns auf die Benutzung der-
jenigen Hans Sachsischen Dramen beschränken, die seit 1550
verfaßt sind — es ist immerhin noch die überwältigende Majorität
und ein Material, dessen alles berücksichtigende Ausnutzung die
größten Aufgaben stellt. Die Frage nach der Entwicklung der
Hans Sachsischen Bühnenvorstellungen von 1527 bis zum Jahre
1550 erfordert eine besondere Untersuchung, — sie wird zumal mit
dem Umstände zu kämpfen haben, daß uns für die dramatischen
Werke vor 1545 statt der ursprimglichen Fassungen nur die
späten Redaktionen des Hans Sachsischen Alters zur Verfügung
stehen.
Wenn man heute in Nürnberg vom Bahnhof kommend das
Frauentor durchschreitet und in die Königstraße einlenkt, so sieht
man nach wenigen Schritten rechts die Marthakirche, die angeblich
1360 begründet, zuerst Kirche eines Pilgrimspitals war, dann nach
der Reformation den Meistersingern für ihre Veranstaltungen diente,
im 17. Jahrhundert wieder für Predigt und Kinderlehre benutzt und
schließlich 1810 den Reformierten eingeräumt wurde, die hier noch
heute ihren Gottesdienst begehen. Man sieht sie oder eigentlich:
man sieht sie beinahe nicht; denn sie ist sehr stark zurück- und
eingebaut, und die kleine Fassade, die wir S. 17 nach einer Abbildung
des 18. Jahrhunderts wiedergeben, tritt nicht sehr anspruchsvoll auf.
Schreitet man aber ins Innere, das unser theatergeschichtliches
Interesse im Grunde allein fesselt, so erblickt man eine freundliche
1) Vgl. zunächst Expedilus Schmidt a. a. O. S. 123 ff.
Die Martliakirclio jetzt und einst.
17
gotische Kirche von wenig bedeutenden, aber gefälhgen Raum-
verhältnissen.
Wieweit, so fragt sich nun zunä{;hst, ist der heutige Zustand
geeignet, uns das Bild der Zeit vorzuführen, in der Hans Sachs
mit seinen Meistersingern hier Tragödien und Komödien agierte?
Die Kirche ist 1615 und 1729 „renoviert"') und 1865 durch den Ober-
baurat Solger umgebaut worden. Worauf jene Renovierung sich
Abb. 1 : St. Martliakirche zu Nürnberg (nach einer Abbildung des 18. Jalirhunderts).
bezog, läßt sich freilich heut kaum noch ermitteln ; dagegen können
wir mit absoluter Sicherheit erklären, daß sie ursprünglich nicht wie
jetzt fünf schiff ig,-) sondern nur dreischiffig gewesen ist, und mit
leidlicher Bestimmtheit hinzufügen, daß sie in diesem Zustand bis
ins 18. Jahrhundert fortbestanden hat, also auch zu Hans Sachs-
ens Zeit dreischiffig gewesen ist: darauf weist die hier wieder-
gegebene Außenansicht hin, auf der doch sonst wahrscheinlich
eine Spur der niedrigeren Seitenanbauten zu sehen wäre, ebenso
auch eine im 18, Jahrhundert gedruckte, wohl aus dem 17. Jahr-
1) Vgl. A. Würfel, Diptycba ecclesiae . . . Beschreibung der übrigen Kirchen, Klöster
und Kapellen in Nürnberg (Nürnberg 1761? 62? 63?) S. 139. Hier auch bei S. 136 die
Außenansicht der Kirche. Die Renovierung von 1615 auch schon im „Nürnbergischen Zion"
(o. 0. = Nüi-nberg 1733) S. 68 erwähnt.
2) Eine im Pfarrarchiv aufbewahrte undatierte Bauzeichnung aus dem 19. .Jh. sieht
sogar noch eine Erweiterung nach rechts und nach links vor.
H e r r m a n n , Theater. 2
18 Inneres der Marthakirche.
hundert stammende Beschreibung der Kirchenfenster, i) Wir legen
also unsern Untersuchungen den von uns S. 19 gebotenen Grundriß
(Abb. 2) des gegenwärtigen Bauzustandes zugrunde, 2) müssen aber
die beiden äußeren Seitenschiffe uns fortdenken. Es handelt sich dem-
nach um eine Kirche von folgenden Maß Verhältnissen : Die Länge
des Schiffes beträgt 15,70 m, die mittlere Breite des von einem höl-
zernen Tonnengewölbe gedeckten Mittelschiffes 5,50 m, die der beiden
mit glatter Holzdecke gedeckten Seitenschiffe 4,50 bzw. 5 m, die
Höhe der letzteren 10,70, die Scheitelhöhe des Mittelschiffes 14 m.^^)
Der Chor, der aus zwei Kreuzgewölben und einem dritten mit fünf
Seiten des Achtecks geschlossenen besteht, ist 9,40 m lang und 10 m
hoch, die mittlere Breite beträgt in einer durch eine gewisse Un-
regelmäßigkeit des Baus verschuldeten kleinen Abweichung von
der Breite des Mittelschiffs 5,80 m; die Sakristei endlich, ein
Tonnengewölbe mit zwei Spitzkappen, ist 4,90 m lang und
4,40 m breit.
Auch über die innere Ausstattung der Kirche zu Hans
Sachsens Zeit läßt sich manches sagen. Von den Fenstern ist
die Rede schon gewesen ; die auf dem Grundriß angedeuteten Türen
zu den Seitenschiffen sind, wie schon die oben wiedergegebene
Außenansicht aus dem 18. Jahrhundert zeigt, nicht ursprünglich.
Besonders gut aber sind wir über die jetzt aus der Kirche entfernten
Altäre durch ein handschriftUches, von dem Gemälderestaurateur
1) Nürnbergisches Zion S. 124, wiederliolt Würfel S. 138: Von denen Fenstern so
in gleichen mit Historien und Wappen gezieret / melde nur deren Wappen : Das mittelste
Fenster hinter dem Altar ist bemahlet mit Historien Altes Testaments, von dem Stiffler
Hrn. Waldstromer. Diesem zur rechten ist eines durchaus mit Großischen Wappen
gemahlet : Diesem folget eines mit einem runden Wappen / darüber stehet / Heinrich
Oertel / starb 1366 / verneuert 1617. Nächst diesem ist eines von Hrn. Hannß Imhof ge-
stifftet. Dem erst gedachten Stiffters Fenster zur lincken Hand folget eines / durchaus gemahlet
worinnen stehet Friederich Stromer / verneuert 1578. Diesem folget eines zur lincken
mit nachfolgendem Wappen: ein Böhaimisch / Mufflisch und Pfintzingisches / ein
Böhaimisch und Tucherisches / ein Böhaimisch / Geuderisch und Voickhammerisches:
Nächst diesem folget eines / so mit einem Böhaimisch und Rieterischen Wappen gezieret.
Diesem folget noch ein gemahltes / mit dem Ottnantischen Wappen bezeichnet. Wenn
man vom Chor in die Kirch gehet / ist zur rechten Hand das erste Fenster ein
gemahltes / mit einem Schürstabischen Wappen / verneuert 1578. Zu oberst sind 3. kleine
Fenster neben einander / in dem ersten ist ein Imhöfisch, im zweyten ein Kohlerlsch,
im ch-itten ein Pfintzingisches Wappen. Zur lincken des Chors an der Sacristey ist ein
gtimahltes Fenster / unten mit einem Kreßischen / und auf beyden Seiten mit Stein-
lingerischen Wappen. Nächst diesem sind nach der Thür zu 3. Fenster / das erste hat
ein Rieteri.sch / das andere ein Mufflisch und Hallerisches, das dritte ein unbekanntes
Wappen. Denn kommt ein Fenster mit einem gleichfalls unbekannten Wappen.
2) Ich verdanke iim dem freundlichen Entgegenkommen des Herrn Baurats Oskar
Schultz in Nürnberg. Für gütige Beratung in baulichen Fragen und für zeichnerische Unttu'-
stützung bin ich ferner Herrn Intendantur- und Baurat A. Doeb ber in Berlin sehr verpflichtet.
3) Die Höhenverhältnisse sind mit Hilfe einer ebenfalls vom Herrn Baurat Schultz
zur Verfügung gestellten Querschnittzeichnung berechnel.
Ausstatlunsr der Marthakirche.
19
Fror 1828 angefertigtes Inventar') unterrichtet, mit dessen Hilfe
wir den Hauptaltar und einen der beiden Seitenaltäre als noch
heute an andern Stellen vorhanden nachweisen können. DerHaupt-
1 ■ ■
Abb. 2 : Grundriß der ^fartliakirche zu Nürnberg.
altar, der einst im Chorraum stand, befindet sich jetzt seit 1829 in
der Lorenzkirche,-) der Altar, der im Schiff neben dem Chor an
1) Aufbewahrt im Stadtarchiv Nürnberg. Daß es sich um die ursprünglichen AUäre
handelt, kann keinem Zweifel unterliegen. Kürzere Beschreibungei. auch im ..Nürnberg. Zion'"
und danach bei Würfel.
2) Das Hauptgemälde ist ein Ecce homo, darunter das Abendmahl, auf den Flügeln
innen weibliche, außen männliche Heilige. Über die Größenverhältnisse Jieß mir Herr
Kirchenrat Heller freundlichst das Folgende mitteilen : „Gesamtliöhe des Altars 3,61 m
(Stufe 19 cm, Altartisch 1 m, Aufsatz 2,42 m). Altartisch 2.26 m lang, 0.80 m breit. Auf-
satz im allgemeinen 32, imter Berücksichtigung des Gesimsvorsprungs über die Predella
44 cm tief, mit offenen Flügeln 3 m breit."
2*
20
Maithakirche und Predigerkloster.
der Sakristeiseite angebracht war, im Germanischen Museum'),
wälirend der ilim an der andern Seite entsprechende Altar-) noch
niclit wieder aufgetauclit ist, Endhch ein letzter, heute nicht mehr
auffindbarer Schmuck der Kirche: „Am Ende des Chors ist in der
Mitte ein großes Cruxifix von Holtz auf einem großen Schwibbogen,
um welches Cruxifix die vier Evangelisten in runden musirten
Creysen nebst ihren beygefügten Zeichen stehen" s).
Außer der Marthakirche wird als Schauplatz Hans Sachs-
ischer Aufführungen auch der Remter des Predigerklosters: der
heutigen Stadtbibliothek in der Burgstraße namhaft gemacht,^)
ein 23,50 m langer, 8,10 m breiter Saal, dessen Decke von zwei
Säulen getragen wird. Wir bieten hier einen Grundriß (Abb. 3) des
heuti[';en Zustandes. ')
Abb. 3 : Grundriß des Remters im Nürnberger Predigerkloster.
Es kann uns nun aber natürlich nicht genügen zu wissen: im
Remter, in der Marthakirche ist gespielt worden. Wir müssen ge-
nauer, so genau wie möghch die besondere Stelle der Bühne be-
zeichnen können. Und dafiu- bietet der Remter, abgesehen etwa
von den Säulen und den Lichtverhältnissen, nur sehr wenig An-
haltspunkte. Hier war der Willkür des Regisseurs bei der Anlage
der Bühne ziemlich viel Spielraum gelassen: der Anhalt, den wir
für genauere Ermittelungen brauchen, ist aber gerade der, daß
diese Willkür durch eingeschränkte Raumverhältnisse ziemlich ge-
bunden ist. Das ist in der Marthakirche der Fall, und ihren Raum
1) In der Volckamerkapelle an der Nordwand oben angebracht. Freundliche Mitteilung
der üii-eklion des Germanischen Museums. Die Höhe des Altarschreins beträgt 1,50 m,
die Breite 1,05 m, dit; Tiefe 0,20 ni. Eine Beschreibung der Bemalungen und Reliefdar-
sfellungen, die vielfach auf Martha Bezug nehmen, erübrigt sich hier.
2) Nach Frörs Besdireibung Höhe 4,9, Breite 3,9 Fuß. Das Hauptbild Maria mit
Christi Lcüchnam; Beziehungen auf Martha f(!hien.
3) Nihnbergisclies Zion a. a. 0., danach Würfel, auch bei Fror noch erwähnt.
4) Hampe a. a. O. S. TO.
5) In gütig(M' Weise vom Stadlhauamt in Nürnberg zur Verfügung gestellt, dem ich
auch sonst zu Dank verpflichtet bin.
Der Altarniuin als Spielplatz. 21
werden wir bei der nun folgenden Inszenierungsrekonstruktion um
so eher allein in Rechnung ziehen dürfen, als auch die archiva-
lischen Quellen ihm die erste Stelle einräumen: gewöhnlich wird
von der Obrigkeit die Marthakirche bewilligt, und so muß die
Einrichtung des Spiels auf ihre Verhältnisse berechnet worden
sein.
Hier aber belehrt uns schon der Raum selbst etwas genauer
über die Lage der Bühne. Die Kirchenbänke sind der gegebene
Platz für die Zuschauer '), vor ihnen muß gespielt worden sein, und
auch die Lichtverhältnisse weisen besonders auf den Altarraum als
den Spielplatz hin. Darf man eine archivalische Notiz aus etwas
späterer Zeit mit heranziehen ^), so ergibt sich hier die urkundliche
Bestätigung dieser Vermutung: es wird eine Spielerlaubnis mit dem
Zusatz erteilt : doch denjenigen, dies bei s. Martha halten werden,
sagen, da sie etwas in der kirchen an den stuelen oder altarn zer-
prechen, dasselbig wider machen zu lassen. An den Chorstühlen
oder Altären kann nur der etwas zerbrechen, der oben im Altar-
raum agiert. Zugleich aber scheint der Ausdruck ^//cire anzudeu-
ten, daß auch der vorderste Teil des Schiffes: zwischen den Kir-
chenbänken und dem Altarraum mit hereingezogen worden ist,
denn hier, rechts und links von den Eckpfeilern, sind, wie wir
sahen, die beiden Nebenaltäre angebracht gewesen. Und so bieten
wir eine photographische Aufnahme des Altarraumes (Abb. 4, S. 22),
wie er sich vom Schiff aus dem Beschauer darstellt.
Aber wurde der ganze Altarraum als Bühne benutzt? Auch
darauf läßt sich wohl ohne Heranziehung der besonderen hier ge-
spielten Werke eine allgemeine Antwort geben. Bei den gewöhn-
lichen Singschulen bereits, die in der Marthakirche abgehalten
wurden, wurde der Altar durch einen Vorhang verdeckt : die welt-
liche Verrichtung darf nicht im Angesicht des Heiligsten geschehen;
um wieviel mehr mußte man solche sakralen Rücksichten gegen-
über der Vorführung oft recht profaner Komödien nehmen. Durch
solche zunächst dem Göttlichen zu Ehren vorgenommene Verhül-
lung leistete man zugleich dem Theater einen doppelten Dienst:
man gab in der nichts besagenden Stoffhinterwand der nun abge-
grenzten Bühne der Phantasie des Zuschauers einen neutralen An-
blick, bei dem er sich jedenfalls besser all die Örtlichkeiten vor-
stellen konnte, in die der Dichter ihn führen wollte, als wenn ihn
der Altar beständig mahnte: du bist in der Marthakirche. Und
ferner war durch diesen Vorhang erst die Möglichkeit gegeben, die
1) Die Kirche faßt in ihrem erweiterten Zustand heute 600 Besucher; schwerlich wird
bei den Meistersingerauffülirungen, wo man doch auch sehen wollte, also nicht jeden
Platz in den Seitenschiffen brauchen konnte, das Publikum aus mehr als 300 Personen
bestanden haben.
2) 5. Jan. 1591; gedruckt Hampe 2, N. 196.
22
Chorraum der IMarthakirche.
Abb. 4
Chorraiim der Nürnberger Martliakirche (aufgenoiniiien für das vorliegende Buch durch
den Pliotographen Ferd. Schmidt in Nürnberg).
Podium und Al)sclilußvorhang. 23
Schauspieler „auftreten" zu lassen. Freilich, Genaueres über die
Situation des Vorhangs ergibt die bloße Betrachtung der Raumver-
hältnisse nicht: ob er sehr dicht vor dem Altar oder weiter vorn
angebracht war, läfM sich zunächst nicht ausmachen.
Endlich ist man wohl schon angesichts dieser lokalen Umstände
der Annahme geneigt, daß in dem Altarraum und dem etwa vorn
hinzukommenden Teile des Schiffes für die Abhaltung des Spiels
ein Podium errichtet war. Die natürliche Erhöhung beträgt nur
15 cm, und so würde man von den weiter hinten gelegenen Plät-
zen nichts oder wenig gesehen haben. Erst eine Zusatzerhöhung
von mindestens 80 cm würde nach einer sachverständigen Anset-
zung einigermaßen ausgereicht haben. Aber freilich: das sind
ganz vage Vermutungen, die sich ohne Vermehrung unseres Hilfs-
materials zu irgend einer Gewißheit nicht erheben lassen.
Hans Sachsens Drama.
Die ungefähre Lage der Bühne hatte der Raum allein ergeben ;
aber schon bei der Frage : wo ist der Abschluß vorhang an-
gebracht ? blieben wir stecken, und hier muß die Betrachtung der
durch das besondere Drama gebotenen Verhältnisse weiter helfen.
Nehmen wir an, der Vorhang wäre ganz nahe dem Altar: hinter dem
zweiten Kreuzgewölbe angebracht gewesen, so wäre dahinter ein
sechseckiger Raum geblieben, der einer annähernden Berechnung
nach, unter Abrechnung des vom Altar in Anspruch genommenen
Platzes 18 qm umfaßte. Dieser Raum hätte als alleiniger Hinter-
raum der Bühne zu dienen gehabt. Hier hätten die Schauspieler
vor dem Auftreten und nach dem Abgehen sich aufhalten, hier
hätten sie sich umkleiden, hier auch für das Stück etwa notwen-
dige Requisiten bewahren müssen. Ist das für die Anforderungen
möglich, die der HS. stellt? Die person in die tragedj sind 17.
Auf 18 Quadratmetern, die bei der eigenartigen Form des Hinter-
raumes noch nicht einmal voll auszunutzen gewesen wären, hätten
sich vor dem Beginn des Dramas und während der Pausen sieb-
zehn Menschen zusammen drängen müssen; kaum denkbar. In
andern Sachsischen Dramen, wo freilich oft auch ein kleineres
Personal genügt, wächst die Personenzahl gar bis zu 34 an.
Nun wird man freilich einwerfen können, daß nicht Jede Gestalt
durch einen besonderen Vertreter verkörpert worden sein muß, daß
möglicherweise mehrere jfiollen durch einen Spieler dargestellt worden
sein können, und wir werden in einem späteren Abschnitt sehen, daß
an der Aufführung tatsächlich vielleicht nur 11 Personen beteiligt
gewesen sind. Aber dann ist es mit dem ruhigen Stillstehen im
engen Raum erst recht vorbei, ein fortwährendes, Platz erfordern-
des Umkleiden ist erforderlich.
Aber auch ohne diese komplizierende Annahme ist Platz zum
24 Raum hinter der Biilme. Auf- und Abgänge.
Umkleiden der Schauspieler im HS. nötig. Der Titelheld nämlich
muß sich nicht weniger als viermal umziehen. Im zweiten Akt
(von 272 — 274) sagt er ausdrücklich von sich selbst:
Doch ich kamen thiirnier zeug hon.
Schaft mir ros, hämisch, schild vnd glennen
Zum thurniren, stechen vncl rennen.
Im dritten Akt aber (vor v. 396) schreibt die szehische Bermerkung
vor: Der hürnen Sewfrid kumbt gewappent. Im sechsten Akt tritt
Siegfried mit Crimhilden daheim in Worms auf, ohne daß etwas
Besonderes über sein Kostüm angegeben ist; wenn die Situation
es aber schon an sich unwahrscheinlich macht, daß er hier in
schwerer Rüstung ist, so geht die Notwendigkeit, an einen
Kostümwechsel vor dem sechsten Akt zu glauben, aus einer
späteren Bemerkung (vor v. 939) hervor, wo ausdrücklich ver-
langt wird: KÜnig Sewfrid kumbt gewappent. Die vierte Umklei-
dung endlich ist dem siebenten Akt aufbewahrt, wo es (vor v. 1062)
heißt: Der huernen Sewfried kumpt in kunicklichem gewant.
Auch der Riese Kuperan muß sich hinter der Szene waffnen
(vor V. 549); doch wird diese Stelle besser in anderm Zusammen-
hang betrachtet. Jedenfalls aber muß ein Umkleideraum vorhan-
den gewesen sein; die Requisiten in diesem Stück und noch mehr
in manchen andern Sachsischen Dramen verlangen, wie sich noch
zeigen wird, ebenfalls nicht wenig Platz. Der hinterste Teil des
Chors reicht so wenig aus, daß man vielmehr selbst bei Hinzu-
nahme noch einer ganzen Bogenwölbung den Raum als gar zu
beschränkt ansehen wird; dazu kommt, daß hinten auch eine
gewisse Bewegungsfreiheit vonnöten gewesen ist : die Neuauf-
tretenden mußten doch an die Auftrittsstelle gelangen können.
Und weiter: hinter der Szene mußten, wie sich zeigen wird, auch
noch Dinge arrangiert werden, die zur Aufführung gehörten und
Platz wegnahmen, darunter ein Hergang, der immerhin vielleicht
einigermaßen feuergefährlich war und deshalb in zu großer Nähe
weder des Altars noch des Vorhanges sich vornehmen ließ. Auch
das führt zu der Notwendigkeit, den Raum zwischen Altar und
Vorhang als ziemlich groß anzunehmen, den letzteren jedenfalls
weiter nach vorn zu verlegen. Wie weit? das wird sich allerdings
von hier aus noch nicht feststellen lassen. Vielleicht eher, wenn wir
die Frage aufwerfen, was der HS. für
A u f- u II d Ab g ä n g e
verlangt, und im Zusammenhang damit nuiß auch über die Größe
und die sonstige Beschaffenheit der Bühne das Nötige zu ermitteln
sein. Wir nahmen im Gange der bisherigen Untersuchung an: alle
Schauspieler und Requisiten befanden sich hinter dem Vorhang im
Altarraum; von dort wurde aufgetreten, dorthin wurde abgegangen.
RichtuM<ieii des Auftretens und Allgehens. 25
Kommen wir für den HS. mit einem Auftritts- und Abgangs-
ort aus?
Hier muß eine Betrachtung vorausgescliickt werden, die eigent-
lich eine erst später zu erlangende genauere Kenntnis der Phantasie
des Publikums voraussetzt. An dieser Stelle sei zunächst nur
zugestanden, daß die Phantasie der Zuschauer Hans Sachsens
äußerst naiv, anspruchslos, bereitwillig zu fast jeder Leistung war.
Gern stellen sie sich dort etwas vor, wo nichts ist; gern sehen sie
einen Gegenstand tur einen andern an: von den Grenzen solcher
Einbildungskraft soll hier noch nicht gesprochen werden. Aber was
man auch dem Publikum des 16. Jh. sicherlich nicht zumuten
durfte, das war die Aufgabe, innerhalb des gleichen Anschauungs-
komplexes unter einem Dinge zwei verschiedene, ja entgegen-
gesetzte sich vorzustellen. Ganz besonders wird das von der Be-
obachtung der Richtungen gelten, aus denen die Schauspieler kom-
men, in die sie gehen. Wenn jemand mit der Erklärung auftritt,
er komme aus a und gehe in die entgegengesetzte Richtung b, so
wird es sich niemand gefallen lassen, daß er nun nach a wieder-
abgeht; wenn die Phantasie eben die Aufgabe bewältigt hat, den
Hintervorhang für die Front eines königlichen Palastes anzusehen,
wird keiner bei der Sache bleiben können, wenn in derselben Si-
tuation, dem gleichen „Bilde'' nun jemand aus der Fremde kommt,
um i n den Palast zu gehen, tatsächlich aber aus dem den Palast
bedeutenden Hintervorhang hervorkommt. Hier ist die zur Ver-
folgung der dramatischen Hergänge notwendige Denktätigkeit viel
zu sehr in Auktion, als daß sie nicht die Phantasie fort und fort
entscheidend kontroUieren sollte. So scheinen mir auch die Illustra-
toren damals im Volk gelesene Bücher, dort wo sie mehrere
Situationen zeichnen, die hintereinander an der gleichen Stelle
spielen, zwar das Detail der Andeutungen des Landschaftlichen und
Architektonischen keineswegs immer einfach zu wiederholen, die
Richtungen aber in der einmal angesetzten Art getreu beizu-
behalten '). Es kommt endlich dazu, daß inbezug auf diesen
Punkt gerade die theatralische Phantasie der Zuschauer besonders
erzogen ist: durch das Spiel auf öffentlichem Markt, das gewiß
auch in Nürnberg noch nicht zu lange tot ist. Hier ist gerade
der eigenthche Anhalt für das dramatische Verständnis, die
Möglichkeit, in jedem Augenblick den Punkt der Handlungs-
entwicklung zu verstehen, in der konsequenten Verfolgung der
Richtung gegeben, in welcher die Schauspieler sich gerade be-
wegen. Wenn der einzelne Zus(;hauer nicht mehr verstehen kann,
was am entgegengesetzten Ende des Marktes gesprochen wird,
wenn er auch die dekorativen Details der feststehenden Häuser und
1) Als Beispiel werden die Illustrationen zum Volkslied vom Hürnen Seyfrid
dienen können, die auf Hans Sebald Beham zurückführen (vgl. ZDA. 45, S. 61 ff.).
26 Richtungen des Auftretens und Abgehens.
der gerade gebrauchten Requisiten nicht mehr zu erkennen vermag,
so sagt ihm die Richtung, in der die Schauspieler ziehen, nicht rein
durch das Medium der Phantasie, sondern noch mehr durch ver-
standesmäßige Erwägung: jetzt wird Christus vor Pilatus gebracht
usw. usw. So wird man auch in der Marthakirche die Ansetzung
der Richtungen innerhalb eines „Bildes" unmöglich ganz vernach-
lässigt haben können. Und am allermeisten mußte man jedenfalls
eine Konsequenz einer solchen Nichtbeachtung der dem Verstände
einleuchtenden Richtungen vermeiden : daß abgehende Personen auf
eben auftretende stoßen, die sie doch dem Gange der Handlung
nach unter keinen Umständen sehen dürfen.
Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, ist die Frage : kam die
Meistersingerbühne mit einer Auftrittsstelle — durch die Mitte des
Vorhangs — aus? rasch abgetan. Schon der HS. wird uns zeigen, daß
es dann an jenen bei aller Beweglichkeit der Phantasie unerträg-
lichen Situationen nicht gefehlt hätte. Im ersten Akt ging es allen-
falls noch an: da nach v. 123 ein neuer hypothetischer Schauplatz
vorgestellt wird, ein neues „Bild" eintritt, darf eine Pause erfolgen,
und die nach hinten abgehende königliche Gesellschaft brauchte
so den von hinten auftretenden Schmieden nicht unmittelbar zu be-
gegnen. Schon im zweiten Akt wird es anders. Der Ernholt
geht (nach v. 2S0) auf Geheiß des Königs Gib ich ins frawen
zimer nein, um die Königstochter Crimhilt zu holen: ins hinere
des Palastes also, den die Zuschauerphantasie in dem Hintervorhang
erblickt. Im gleichen Augenbhck kommt der junge Sewfrid: aus
der Ferne, tatsächlich aber eben von der Stelle, die im gleichen
Augenblick die Palasttür bedeutet, und er träfe hier ganz sinn-
widrig auf den abgehenden Ernholt. Ebenso würde nach v. 298
der mit Crimhilt davonfliegende Drache auf den König, Sewfrid
und den Ernholt stoßen, die von fern (vgl. 305) die Fahrt durch
die Luft mitangesehen haben, und, selbst wenn wir das Eintreten
einer kleinen Pause annehmen, wäre die Illusion gar zu gröblich ge-
stört. 0 Im dritten Akt sehen wir zunächst den Drachen mit der
Jungfrau am Fuß des Gebirges: sie muß in den höhlenartigen
Weg, der zum Gipfel führt: Dariimb schlewff in die hell herein,
sagt V. 394 der Drache zu ihr. Der Raum hinter dem Vorhang
würde also für den Zuschauer jetzt die hell bedeuten; im nächsten
Augenblick ist er gerade umgekehrt die Gegend, aus der der
verfolgende Sewfrid kommt. Das Eintreten einer Pause
kann zwar das Aufeinanderprallen der drei beseitigen, aber was
bleiben würde, wäre die Phantasiestörung, die noch besonders be-
ton l würde durch Sewfrids Worte (v. 399 ff): /// meinem sin las
ich mich duncken, Wiesich der trach da rein det schwingen
I) Die Stelle im Anlauft des zweiten Aktes — vor v. t!Ht — die nocli tjrößere
Schwieritikeilen niaclicn würde, soll später in andeini Zusaininenlinnfj; eiörli'rt werden.
Auf- und Abgänge. 27
Auf das gepirg durch diese klingen . . Wohin sollte er bei dem
da rein und diese wohl zeigen ? Nach der Stelle, von der er selbst
kam? Nach einer Stelle, an der der Drache soeben nicht abge-
gangen war? Beides hätte der Zuschauer gleich wenig gebrauchen
können. Im vierten Akt (vor v. 511) und im sechsten steht es
nicht besser; hier erweist besonders die Stelle v. 902 ff. die völlige
Unmöglichkeit, mit einer Abgangs- und Auf trittssteile auszukommen.
Sewfrid spricht zu Crimhilt: Ich wil gen in den innern sal; es
folgen die szenischen Bemerkungen: Der hüernen Sewfrid get ab.
Der Ferner kumpt und sieht im nach, kert sich zv Crimhilt und
spricht. Hier ist durch das sieht im nach das sonst noch etwa an-
wendbare Aushilfsmittel, eine Pause zwischen Abgehen und Auf-
treten anzunehmen, ausgeschlossen. Aber damit der Ferner
Sewfrid nachsehen kann, darf er ihm nicht in die Arme laufen,
und ferner zeigt sich auch hier der alte, durchaus zu beseitigende
Übelstand : der Raum hinter dem Vorhang bedeutet den innern
sal, und im gleichen Moment soll sich der Zuschauer vorstellen,
daß von dorther Dietrich aus seinem heimatlichen Bern kommt.
Hans Sachs rechnet also mindestens mit zwei Stellen für
Auftritt und Abgang. Aber wo waren sie gelegen? Solange wir
unsere bisher gewonnene Gesamtanschauung ungemodelt beibe-
halten, bleibt nur eine Möglichkeit übrig: statt des einen Eingangs
in der Mitte des Vorhangs müßten wir zwei: an seiner linken und
an seiner rechten Seite annehmen. Aber damit ist natürlich äußerst
wenig gewonnen. Jener Richtungsrationalismus, von dem wir vor-
hin ausgingen, verlangt — in bestimmten Fällen wenigstens — eine
möglichst entgegengesetzte Lage der beiden Eingänge. Wenn man
links hinter dem Vorhang bei X aus dem königlichen Palast tritt.
kommt man, zumal der ganze Vorhang von Wand zu Wand nur
5 '/2 Meter breit ist, nicht rechts hinterm Vorhang, bei Y also, aus
der Ferne. Oder anders ausgedrückt: nachdem jemand hinter den
Vorhang, wenn auch auf der einen Seite, abgegangen und damit
für die Zuschauer in den innern sal getreten ist, bedeutet der
ganze Vorhang für ihre Phantasie den Palast, und wer nun im
gleichen Augenblick am andern Endzipfel hervorkommt, der kommt
eben auch aus dem Palast und nicht von der Wanderschaft. Wie
weit Hans Sachs davon entfernt ist, von diesen beiden Hinter-
28 Terminologie der szenischen Bemerkungen.
eingängen Gebrauch zu machen, zeigt sich besonders an der schon
angeführten Stelle nach v. 902, wo der auftretende Berner dem
abgehenden Sewfrid nachsehen soll: daß in der szenischen Be-
merkung diese Situation besonders vorgeschrieben wird, setzt förm-
hch voraus, daß Sewfrid, indem er abgeht, dem auftretenden
Ferner direkt den Rücken zudreht und in dieser Stellung, indem
er auf seine Ausgangsstelle zugeht, noch ein paar Schritte auf der
Bühne tun kann. Geht Sewfrid bei X ab, indem der Ferner bei
Y erscheint, so ist jene Darstellung fast unmöglich. Es bleibt nichts
anderes übrig — und die weiter unten herangezogenen Situationen
aus andern Sachsischen Dramen werden die Berechtigung dieser
Behauptung erst recht erweisen — als die Erklärung: Hans Sachs
hat zwei einander wirklich entgegengesetzte Ausgänge zur Ver-
fügung gehabt; lag der eine, wie nicht anders anzunehmen, hinten
am Vorhang, so muß die Mögliclikeit bestanden haben, auch vorn
die Bühne zu betreten und zu verlassen.
Beruht nun die bisher vorgetragene Annahme im wesenthchen
auf einer Kombination, deren Elemente die gegebenen Raum-
verhältnisse einerseits, die erschlossene Psychologie des Hans
Sachsischen Fublikums anderseits sind, so wird sich weiter fragen :
ist sie durch eine, vielleicht nicht ohne weiteres erkennbare, Be-
stätigung noch zu stützen, die uns der Dichter selbst gibt? Der
Dichter Hans Sachs in seiner Eigenschaft als Kenner der Bühnen-
verhältnisse, für die er schreibt, so zu sagen als Regisseur seiner
eigenen Werke. Solche Bestätigung aber dürfen wir nicht aus der
eigentlichen Dichtung herauslesen, sondern nur aus demjenigen
ihrer Bestandteile, in dem möglicherweise der Poet wenig oder
gar nicht, dagegen der Regisseur durchaus zu Worte kommt.
Es fragt sich : gibt es bei Elans Sachs eine einigermaßen feste
Terminologie der szenischen Bemerkungen?
Außerordentlich mannigfaltig ist ihr Inhalt: nicht nur auf Ab-
gehen und Auftreten, sondern auch auf Dekorationen, Requisiten
und Kostüme und endlich auf die Bewegungen der mitspielenden
Personen hat er Bezug, und so wird im einzelnen von ihnen noch
viel die Rede sein. Hier mag lun* zunächst mit ein paar Hinweisen
der Anschauung entgegengetreten werden, daß Hans Sachsens
Zwischenbemerkungen überhaupt keinen bühnlichen Sinn, sondern
gewissermaßen rein epischen Sinn haben. Schon der Mangel an
Variation, die ständige Wiederkehr typischer Wendungen weist
auf die terminologische Bedeutung der allermeisten Angaben hin.
Vor allem aber genügen ein paar ganz prägnante Beispiele, die
weiterhin in andern Zusannnenhängen noch reich vermehrt wer-
den. In der Tragödie von Romulus und Renuis (1560) heißt es bei
einer Gewitterszene (KG. 20, S. 180): Da machet man ein gerüm-
Terminologie der szeniseheii B( iiiei kimticii. „Kingehen" und „konnnen." 29
pel, als ob es donner und ein un(/stünun weiter sei/, und iin Ahab
mit dem frommen Nabot (1557) steht an der Stelle, wo des
letzteren Steinigunji; vorgeführt wird, (KG. 10, S, 411): Da werffen
die zwen mit gemachten steinen zu, biJ3 er feilt und spricht. Wie
deutlich wird es hier, daß die theatralische und nicht die dichterische
Anschauung- beim Verfasser herrscht und zum Ausdruck kommt!
Es zeigt sich ferner mit zwingender Deutlichkeit — und weiterhin
werden die Einzelbeweise dafür erbracht werden — , daß so gut
wie niemals in diesen szenischen Vorschriften Dinge verlangt
werden, die mit den dem 16. Jh. zur Verfügung stehenden Mitteln
auf der Nürnberger Marthakirchenbühne nicht auszuführen sind:
ein Dichter, der nicht fortwährend an seine szenischen Bedürfnisse
gedacht hätte, würde da ganz anders der Phantasie Nahrung ge-
boten haben. So aber erwächst uns die Pflicht, in der Wiederkehr
der gleichen Ausdrücke eine Vorschrift zur Benutzung der gleichen
szenischen Mittel zu erblicken und unter Umständen nach dem
bühnlichen Sinn einer solchen Terminologie auch da zu suchen, wo
sie nicht ohne weiteres ihre Bedeutung enthüllt.
Eine solche bisher nicht bemerkte Eigentümlicdikeit aber tritt
uns bei genauem Zusehen in den szenischen Anweisungen ent-
gegen, die sich auf das Betreten der Bühne beziehen. Das Auf-
treten der Personen wird in den szenischen Bemerkungen fast aus-
schließlich durch get ein {gen ein) oder durch kumpt (kumen) an-
gekündigt. Dieser Unterschied zieht sich durch das ganze Stück
und kehrt in allen andern Dramen wieder. Bei der entgegen-
gesetzten Funktion steht so gut wie immer nur: get ab (gent ab),
und so liegt kein Grund vor, an eine bloße, etwa aus ästhetischen
Rücksichten erfolgte Variation des sprachlichen Ausdrucks zu denken;
wir w^erden vielmehr allen Grund zu der Annahme haben, daß get
ein und kumpt nicht die nämliche Bedeutung besitzen. Zunächst
möchte man vielleicht auch hier daran denken, daß Hans Sachs
bei solcher Nuancierung des Ausdrucks an den Leser gedacht
habe : ihm hätte vielleicht angedeutet werden können, daß er sich
in bestimmten Fällen einen neuen Schauplatz oder eine größere
zeitliche Pause vorzustellen habe, w^ährend in den übrigen der neu
auftretende Schauspieler zu den auf der Bühne befindlichen ohne
Ort- und Zeitwechsel hinzukomme. Man könnte also etwa ver-
muten, daß get ein das Betreten der leeren Bühne, kumpt das
Hinzukommen zur vollen Aktion bedeute. Bei ganz oberflächlichem
Zusehen möchte man vielleicht diesen Eindruck haben; aber schon
eine nähere Prüfung des HS. zeigt, daß eine solche Hypothese nicht
Stich hält. Wohl get König Sigmund vor v. 52 ein, nachdem
durch das Abtreten des Ernholt die Bühne leer ist, wohl heißt es
auch vor v. 124, w^o uns der Dichter vom niederländischen Hof in
die Schmiede führt, von deren Bewohnern: sie gent ein; aber
30 „Eingehen" und „kommen".
schon V. 140, bei dem SewMd zu ihnen kommt, durchkreuzt die
scheinbare Regel, denn er get ebenfalls ein, und wenn im zweiten
„Bild" des zweiten Aktes vor v. 227 von dem auf die leere Bühne
tretenden Gibich gesagt wird, er get ein und v. 231 der ihn be-
suchende Sewfrid kumpt, so steht doch dies Sewfrid kumpt auch
schon im Beginn des Aktes vor v. 193, wo er als erster auf dem
neuen Schauplatz erscheint. Ebenso wäre auch weiterhin get ein
gegen das oben angenommene Prinzip vor v. 640 und 1074, kumpt
ihm zuwider vor v. 396, 511, 937 und 1062 angewendet. Nun soll,
wie sich noch zeigen wird, keineswegs behauptet werden, daß Hans
Sachs mit der Sicherheit einer Maschine in der Anwendung seiner
Terminologien arbeite: es wird sich immer nur um ein einiger-
maßen festes Prinzip handeln, gegen das aus verschiedenen Ver-
anlassungen bald einmal verstoßen werden kann, und daß wir Aus-
nahmen von jeder Regel treffen, wird uns nicht Wunder nehmen.
Aber hier ist die Zahl der Ausnahmen verhältnismäßig so groß,
daß die Regel dadurch ihr Dasein verliert, und jedes andere Hans
Sachsische Stück, das wir daraufhin durchsehen, wird das gleiche
Verhältnis ergeben.
So werden wir das Recht haben, nach einer andern Unter-
scheidung zu suchen und die Kennzeichnung der Auftrittsstellen
durch besondere termini für des Dichters Absicht zu halten, sofern
hier eine besser eingehaltene Regel sich feststellen läßt. Ist in
den Fällen, wo wir annehmen müssen, daß in demselben „Bild"
nacheinander auftretende Personen aus der gleichen Richtung
kommen, stets oder so gut wie stets der eine Ausdruck verwendet,
während dort, wo eine Person aus entgegengesetzter Richtung
kommen muß, der andere Ausdruck sich findet? Und stehen die so
ermittelten Gänge der Schauspieler zu den etwa sonst über ihre
Bewegungen auf der Bühne gebotenen szenischen Bemerkungen
und zu den etwa noch auf dem Schauplatz zu ermittelnden fest-
gelegten Dekorationssurrogaten oder Requisiten in einleuchtender
Beziehung, so daß wir das Bild, das Hans Sachs sich während
der Abfassung des Dramas von den Bewegungen seines Personals
machte, ziemlich widerspruchslos rekonstruieren können? Ein paar
Beispiele hier zunächst nur an Stelle der später folgenden ganz
genauen Einzeldarstellung: sie zeigen, daß an den entscheidenden
Punkten Hans Sachs tatsächlich jene Gegeneinanderstellung vor-
nimmt. Wo es irgend darauf ankonnnen kann, durch die Hervor-
hebung einer Richtung, die doch wieder nur durch die Betonung
mindestens einer Gegenrichtung zu charakterisieren ist, der Phanta-
sie des Publikums einen Anhalt zu geben, finden wir das get ein
und das kumpt in sehr sorgfälliger Scheidung verwendet. Die in
lausend hanssachsischen Szenen vorkommende Hauptsiluation:
Königsschk)ß inid seine Bewohner auf der einen, die Fremde, die
„Eingehen" und „kommen". 31
Ferne auf der andern Seite wird auf solche Weise gekennzeichnet,
daß die Bewohner des Schlosses einzugehen, die Fremden zu kommen
pflegen, und besonders wird das dann streng festgehalten, wenn
jemand der ins Schloß geht, einem aus der Ferne Kommenden nicht
begegnen darf. Der letztere kumpt alsdann, während der andere
eingegangen ist und die Bühne nun auch nach hinten wieder ver-
lassen hat. Hinten: denn eingen bedeutet auftreten von hinten,
kämmen dagegen auftreten von vorn. Daß wir nicht die umgekehrte
Deutung anzunehmen haben, ist fast selbstverständhch: die Phan-
tasie des Zuschauers hätte es sich nicht gefallen lassen können, wenn
jemand, der aus dem innern sal tritt, von der offenen Vorderseite her,
aus der Richtung, in der die Zuschauer saßen, die Bühne betreten
hätte : er muß aus dem verschlossenen Teil des Altarraums heraus-
kommen; der Fremde dagegen, der, aus der weiten Welt kehrend,
dem Königspalaste naht, darf und muß von vorn auftreten, wie
jeder Nürnberger, der aus den Gassen der Stadt konnnend zum
Altarraum emporsteigen wollte. Es läßt sich aber an manchen
Stellen statt psychologisch auch urkundlich erweisen. Nach v. 198
kämpft Sewfrid mit dem (ersten) Drachen, lauffen paid ab.
Nachher get er wider ein, während es vorher bei seinem Auf-
treten hieß: er kumpt. Das Eingen kann hier aber nur von
hinten erfolgen, denn er hat inzwischen daus ain rawch gemacht,
sam verprenn er den trachen,^) und das kann doch nur hinten er-
folgt sein. Von hinten geht er ein, von vorn ist er vorher ge-
kommen. So kummen vor allem, so gut wie überall bei Hans
Sachs die zahlreichen Postboten (z. B. Fiorio 1551: KG. 8, S. 307;
Tristan 1553: KG. 12, S. 160; Wilhelm v. Ostreich 1556: KG. 12,
S. 501; Melusine 1556: KG. 12, S. 543, 548; Wilhelm v. Orieans
1559: KG. 16, S. 65, 77, 84; Antonius 1560: KG. 20, S. 203); man
mag das besonders hervorheben, weil in dem gleich durchzu-
sprechenden HS. ein Briefbote fehlt, und ein außerordentlich deut-
liches Beispiel aus der Comödie Beritola v. J. 1560 (KG. 16, S. 134)
soll hier folgen. Es ist der Anfang des 7. Actus, er spielt offenbar
vor dem Haus des Caspar Doria zu Genua, in dem die Amme mit
Beritolas beiden jüngeren Kindern sich aufhält:
Die amb gehet ein, redt mit ihr selb und spricht:
Ach gott, wo ist mein herrschafft nun ?
Mein herr und fraw und der eltst sun
In dem eilend, arm und verdorben,
Oder für grosser trübsal gstorben ?
1) Diese Stelle mit ihrem sam gehört auch zu denen, die das Bühnentechnische der
szenischen Bemerkungen beweisen. Vgl. o. S. 28 f.
32 „Eingehen" und „kommen".
Der postbott kombt, blest und schreit darnach.
Wer zeygt mir hie zu Genua
Das hauß herr Caspar Doria ?
Kan mir denn das kein mensch nit sagen?
Die amb schreijt:
Herr! herr! ein bott thut nach euch fragen.
Herr Caspar Doria gehet ein vnd spricht:
Was bringt der mann für bottschaft da ?
Die Amme also get ein: von iiinten, aus Dorias Hause und hält
ihren Monolog, der Postbote kombt: von vorn, aus der Fremde und
fragt nach dem Doria. Die Amme schreit den Herrn heraus, und
richtig, er get ein: er tritt, wie vorher die Amme, aus dem Hause,
d. h. dem hinteren Vorhang. — Und so ist es auch, wenn der aus
der Ferne Kommende kein Bote, sondern etwa gar der Hausherr
selbst ist. Ein Beispiel aus der Tragödie Jephthe v, J. 1555. Der
Anfang des dritten Aktes bringt die Heimkehr des Siegers, der
das, was ihm zuerst aus seinem Hause entgegentreten wird, dem
Herrn als Schlachtopfer weihen will. Da heißt es (KG. 10, S. 179 f.):
Die Tochter Jepthe gehet ein mit einer bauchen vnnd redt
mit ihr selb und zwo jungkfraiven volgen ir nach:
Gott sey lob! ich hab gewiß vernommen
usw.
Jepthe kombt, die Tochter geht ihm entgegen vnd spricht:
Hier verlangt der Zuschauer unbedingt, daß ihm das Entgegen-
kommen deutlich vorgeführt wird; auf die schönste Weise wird
das ermöglicht, indem die Tochter hinten aus dem Vorhang, d. i.
dem Hause tritt, der Vater dagegen an der Vorderseite der Bühne
erscheint: so kann ihm jene über die ganze Tiefe der Bühne weg
gerade entgegengehen.
Aber durchaus nicht etwa bleibt diese Terminologie auf den
Gegensatz: Haus — Fremde beschränkt, und wo ein Herr in oder
vor seinem Hause erscheint, der Gang der Handlung aber nicht
die Richtungskontrastierung erfordert, ist das Eingehen auch keines-
wegs die Regel, wenngleich es das Gewöhnliche ist. Sondern ganz
allgemein heißt: eingen auftreten von hinten, kummen auftreten
von vorn, für die verschiedensten Richtungskontrastierungen
wird es verwendet, und auch andere Berücksichtigungen der
Bühnenverhältnisse spiegeln sich in der Verwertung der in sol-
chem Sinne zu deutenden termini. Wieso der Ernholt in der
Regel während des „Hildes" nicht einget, sondern kumpt, wieso die
Feinde zur Schla(;ht stets von vorn auftreten, wird uns erst
Eingehen und Konnnen. 33
später deutlich werden. Hier wollen wir zunächst die szeni-
schen Bemerkungen des HS., soweit sie unter dem behandelten
Gesichtspunkte in Betracht kommen, durchgehen, die feine Nuan-
cierung, die sich etwa in ihnen ausprägt, für später vorbehaltend.
Vor V. 52 König Sigmund get ein — von hinten, aus dem
Königspalast — , obwohl ein Kommen aus der Ferne hier nicht er-
folgt. Die Stelle vor 100 fällt zunächst aus. Das Abgehen, nach
V. 123, erfolgt wohl nach vorn: man geleitet Sewfrid, der in die
Fremde zieht.
Vor V. 124, Der schmid und sein knecht gent ein: von hinten,
in die Schmiede; eine solche hat — wie der Zuschauer sich sagt —
nur einen Eingang; daher kiimpt auch Sewfrid vor v. 140 nicht,
sondern get ein; die Tür — der Vorhangsspalt (doch s. u. S. 69 ff.) —
spielt auch insofern eine Rolle, als Sew^frid vor seinem Eingehen
klopft (nach v. 137: szenische Bemerkung) und der Knecht zunächst
läuft, um aufzutun, und bevor Sewfrid sichtbar wird den Ankömm-
ling mit einem Worte beschreibt. Die Stelle vor v. 160 bleibe zu-
nächst weg; immerhin mag schon hier darauf hingewiesen werden,
daß hier nicht kamen steht, sondern kamen wider. Das Abgehen
nach V. 185 und 192 muß gewiß nach hinten erfolgen : durch die
eine einzige Schmiedetür.
Vor V. 193 kumpi Sewfrid: von vorn; wir sind im Wald, aber
das allein ist nicht der Grund, einen besseren werden wir noch
kennen lernen, an sich könnte ganz wohl auch get ein : von hinten,
stehen. Vor v. 199 vgl. o. jagt er den Drachen nach hinten
ab, macht draußen einen Rauch und get ein: kommt von hinten
wieder. Nach v. 226 geht er (wohin?) ab.
Dann get König Gibich ein mit seinem Herold — von hinten
aus dem Palast ; der Ehrenholt geht ab — gewiß nach hinten, da
er Crimhilt aus dem frawen zimer, also dem Schloßinnern holt,
und trifft somit nicht auf Sewfrid, der vor v. 231 kampt: von vorn,
aus der Fremde, v. 258 treten Herold und Crimhilt von hinten,
aus dem Schloßinnern auf (wegen des Ausdrucks vgl. u.); nach v.
276 geht Gibich mit Sewfrid zum Turnier: an die grüne Rhein-
wiese, aus dem Schloß heraus, w^ohl nach vorn. Crimhilt steht
nun — stillschweigend und ausnahmsweise hat der Dichter jetzt
einen kleinen Szenenwechsel eintreten lassen, ohne alle Personen
abgehen und die einzige, die er gleich wieder braucht, wieder ein-
gehen zu lassen') — an der Zinne; vor v. 285 heißt es: In dem
flewgt der trach daher: wie und wo das geschieht, wissen wir vor-
läufig noch nicht zu sagen, aber auf der Bühne steht er offenbar
noch nicht. Erst vor v. 292 kampt er: von vorn, aus der Ferne,
nempt sie pey der hant, laaft eillent mit ir ab: nach hinten, über
1) Vgl. u. S. 40.
Herr mann, Theater.
34 Eingehen und Kommen.
die ganze Bühne, und so hat sie noch Zeit, sechs Verse zu sprechen,
bis nach v. 298 endgültig steht: Der trache geht mit der junckfraw
ab. Unmittelbar vor v. 299 kumpt der König mit Sewfriden und
dem Herolt: von vorn, von der Turnierwiese; so sind sie nicht auf
den Drachen mit seiner Beute gestoßen.
Das kurze erste „Bild" des dritten Aktes muß vorläufig außer
Betracht bleiben. Im zweiten sind wir am Fuß des Drachensteins.
Vor V. 396 kiimbt Sewfrid von vorn: auf den Hintervorhang los,-
der also den Drachenstein bedeutet; er setzt v. 405 auseinander,
daß ein Weg hinauf nicht zu sehen ist. So kann der Zwerg Ew-
gelein, der vor v. 412 auftritt, auch nicht durch den Hintervorgang
eingehn, er kiimbt vielmehr ebenfalls von vorn. Die erste Szene
des vierten Akts sei zunächst wieder zurückgestellt; dann aber vor
V. 511 sehen wir den Zwerg und Sewfrid kiimen: wieder von vorn,
— hinten ist noch immer der unersteighche Berg. Woher der
Riese vor v. 548 springt, wohin er vor v. 545 läuft, lassen wir not-
gedrungen noch unerörtert; auch das kumpt vor v. 548 mag uns
einstweilen nicht befremden. Nach v. 627 können die drei wohl
nach hinten abgehn, da unter des Riesen kundiger Führung nun
tatsächlich der Aufstieg beginnt.
Im fünften Akt sind wir oben auf dem Berg. Er hat für Leute
die nicht fliegen können, nur einen Eingang, und der ist hier hinten
gedacht. So get vor v. 628 Crimhilt ein und ebenso vor 639
Sewfrid mit seinen Begleitern, der wegweisende Kuperon voran.
Vor V. 702 dagegen kumpt der Drache : er fliegt durch die Luft von
fern her und benutzt also nicht den hinteren Eingang. Daß die
Jungfrau ebendaher und vor v. 706 auch der Zwerg ebenfalls kumen,
werden wir später verstehen. Nach v. 749 gehen alle ab: nach
hinten natürlich.
Dann sind wir wieder in Gibichs Schloß ; ganz regelmäßig, daß
vor V. 750 der König von hinten einget, daß dagegen der Zwerg,
der aus der Ferne botschaftbringend den Geretteten voraneilt, wie
alle Boten von vorn kumbt. Sie selbst kommen gewiß aus der-
selben Richtung; die szenische Bemerkung vor v. 771 ordnet wenig-
stens nicht das Gegenteil an. Nach v. 798 gehen die Wiederver-
einigten, gewiß nach hinten, ab.
Im sechsten Akt, im Wormser Schloß, get Sewfrid mit Crim-
hilden ein: von hinten; die Gegenrichtung spielt in diesem Bild
keine Rolle : ohne daß weitere Personen auftreten, gehen die beiden
nach V. 862 — wohin? — wieder ab. Nach einer Pause get
König Gibich ein; wieder sind wir im Wormser Schloß; schon
nach 870 ist das Bild vorüber. Nun sind wir in Bern; dessen
Fürst Dietrich gei ein mit dem alten Hilteprant; nach 890 gehn
sie wieder ab. Dann kommen wir nach Worms zurück: Crimhilt
und Sewfrid gent ein, und nach einem kurzen Gespräch v. 902
Eindrehen und Koiinnon. Das Buch des Inspizienten. 35
geht Sewfrid ab, in den Innern sal, wie er sagt, d. h. er tritt hinter
den Vorhang, Nun jene wiciitige Stehe! Der Ferner kunibt und
sieht im nach: er tritt vorn auf und bhckt auf den hinten Ab-
gehenden. — Nach V. 918 geht die Königin hinten ab, der Ferner
zankt sich mit Hiltprant, der offenbar zugleich mit ihm gekumen
ist, schlägt ihn nieder, verläßt (nach hinten) die Bühne, nach v. 932,
und nach v. 936 folgt Hiltprant ihm nach.
Von V. 937 an sind wir nicht am oder im Schloß, sondern im
Rosengarten; sein Eingang ist nicht hinten sondern vorn: Crimhilt
kumbt (vor v. 937), Sewfrid kumbt (vor v. 939), Dietrich luimbt (vor
V. 942). Wo 951—53 der Herolt und Hiltprant sind, bleibt zunächst
dahingestellt. Aber vor v. 975 kumpt auch Hiltprant. Nach v. 1003
gehen sie alle — gewiß nach vorn — ab.
Im Beginn des siebenten Aktes wieder das Wormser Schloß;
die Königsöhne Guenther, Gernot und Hagen gent ein und, ohne
daß ein andrer dazu tritt, nach v. 1061 jedenfalls auch hinten
wieder ab.
Dann führt der Dichter uns in den Wald, Sewfrid kumpt wie
in jenem Drachenwald, in der Wildnis des Drachensteins und im
Rosengarten: von vorn; er legt sich nieder; vor 1067 kumen die
drei Brüder, die ihm nachgegangen sind, in der gleichen Richtung
und gehen nach dem Morde wohl nach hinten ab, bei Hof den
Leichenfund zu melden ; vom Hofe her, von hinten, get Crimhilt
ein mit dem Herold und einem Jäger und tragen den Toten ab.
Vom Schluß mag später die Rede sein.
Das wäre die Scheidung aus dem Gröbsten, die erste Probe
auf das Exempel, ob jene Theorie Eingehen — Kommen = Hinten-
auftreten — Vornauftreten ihre Richtigkeit hat. Jedes andere
Hans Sachsische Stück mag man zur Nachprüfung heranziehen.
Nun wird es freilich an Einwänden nicht fehlen, und ihnen mag
zugleich mit dem Versuch, jene These weiter zu stützen und aus-
zunützen, hier allmählich begegnet werden.
Erstlich w ird man sagen : wie sollte ein Dichter-Regisseur dar-
auf kommen, zwar die Stelle, an der ein Schauspieler aufzutreten
hat, fast jedesmal durch die Terminologie deutlich zu kennzeichnen,
dagegen ihm für die Stelle, an der er abgehen soll, keinerlei Hin-
weis zu geben ? Denn wie wir schon sahen : der Variation Eingen
und Kumen steht nur das eine Abgen gegenüber, ganz gleich, ob
es von vorn oder hinten erfolgen soll. Die Antwort darauf lautet:
Hans Sachsens Tendenz bei der Niederschrift ist nicht, Anwei-
sungen zu geben, die der Schauspieler zu befolgen hat, nicht ein
„Buch" gilt es herzustellen, aus dem die einzelnen „Rollen** wie im
modernen Bühnenleben ,,ausgeschrieben'' w^erden können ; es ist auch
nicht eigentlich, wie wir oben es wohl nannten, um uns zunächst
allgemein verständlich zu machen, der „Regisseur", der diese szeni-
3*
36 Auftreten aus der Sakristei.
sehen Bemerkungen für die Aufführung und ihre Einrichtung nie-
derschreibt ; wenn wir einen modernen Ausdruck anwenden wollen,
sind sie vielmehr vom Standpunkt des „Inspizienten" aus zu ver-
stehen. Der Dichter oder sein Vertreter steht hinter der Szene,
um alles zu dirigieren und auch den Schauspielern im letzen Mo-
ment die nötigen Anweisungen zu geben, in der Hand eine be-
sondere Abschrift des Stückes, die nicht zuviel Platz fortnimmt, in
der doch nicht zu oft umgeblättert werden muß und die daher in
dem sonst kaum vorkommenden Schmalfolioformat geschrieben ist ').
In ein solches Inspizientenexemplar Hinweise über die Stehe ein-
zutragen, an der der Schauspieler abzugehen hat, wäre zwecklos
gewesen: da muß der Darsteller allein Bescheid wissen; dagegen
war es sehr am Platze, die Auftrittsorte zu kennzeichnen, damit
der Inspizient die Schauspieler am richtigen Platze hinausschieben
konnte. So scheint jene verschiedenartige Behandlung genügend
erklärt.
Ein zweiter Einwand wird der sein. Diese vieheicht lockend
durchgeführte Scheidung arbeitet innner mit den Richtungen „hinten"
und „vorn", vergißt aber ganz programmwidrig den' Blick auf die
gegebenen Raumverhältnisse. Wo sollten in der Marthakirche
Darsteller vorn auftreten, wo gibt es da einen Platz, an dem sie
vor dem Auftreten den Zuschauern nicht sichtbar sind ? Tatsäch-
lich aber hilft uns ein Blick auf unsern Plan — es ist wirklich
Zeit, ihn wieder heranzuziehen — aus aller Verlegenheit. Eine
höchst geeignete Stelle zum Auftreten ist vorn vorhanden: kumen-
cle Personen treten aus der
Sakristei.
Die Bühne muß dann allerdings bis hart an die auf dem Plan
deutlich kenntliche Tih^ heran gereicht haben. Schon die bloße Be-
trachtung des Raumes — und dazu die eine wohl verwertbare
archivalische Notiz — hatten es uns wahrscheinlich gemacht, daß
nicht nur der vorderste Teil des Altarraumes zur Bühne gedient,
daß sie sich vielmehr ein Stück über ihn hinaus bis in die Nähe
der Zuschauerbänke ausgedehnt und rechts und links über die Breite
des Altarraumes etwas hinausgegriffen haben wird. Jetzt wird
nun durch das, was sich aus der Betrachtung des Dramas ergab,
die Wahrscheinlichkeit fast zur Gewißheit. Die Bühne muß rechts
bis in die Nähe der Sakristeitür gereicht haben und wird sich,
wohl schon aus Gründen der Symmetrie, nach links ebenso weit
ausgedehnt haben. „Bis in die Nähe", nicht unmittelbar bis heran.
Zwischen ihr und der Bühne muß sich noch etwas anderes be-
funden haben: eine Treppe. Denn nun kommen wir auch vom
1) Wenigstens eine solche Handschrift hat sich erhalten : Wiener Hofhibl.
Autogr. X, 4: Mucius Scaevohi. Vgl. den Anhang tlieses Buches.
Das Podium. 37
Drama her, wie vorher von den Raumverhältnissen aus, zu der
sicheren Annahme, daß nicht zur ebenen Erde gespielt worden ist,
sondern auf einem
P o d i u m.
Und zwar kann es nicht genügt haben, daß der im Schiff befind-
liche Teil der Bühne inn die 15 cm erhöht war, um die der
Altarraum über das Schiff hinausragt. Es muß vielmehr auch auf
dem Bühnenaltarraum und über die ganze Vorderbühne weg ein
besonderes, nicht zu niederes Podium gebaut worden sein. Schon
der HS. führt darauf hin. Im 5. Akt, nachdem Sewfrid den Rie-
sen erschlagen hat, heißt es (vor v. 664) in der szenischen Bemer-
kung: Sewfrid wurft in pey aim pain vberab \ ebenso nach dem
Drachenkampf in der großen Anweisung vor v. 702: den wirft
er auch hinab. Wohin wirft Sewfrid den Drachen und den Riesen?
Die Darsteller dieser Rollen mußten liegend den Blicken der Zu-
schauer entschwinden und zwar so, daß dabei der Eindruck des
Wälzens und Fallens hervorgerufen wurde. Das ist ohne Schwie-
rigkeiten herbeizuführen gewesen, wenn auf dem Bühnenraum ein
nicht hohes Podium errichtet war. An irgend einer Stelle des
hinteren Bühnenteils — wir werden später sehen, welche dazu ge-
eignet war — mußte ein Stück des Podiums fehlen; hier schlug
Sewfrid den Gegner nieder, dieser ließ sich dann herabwälzen '),
und gelangte so in den Hinterraum hinter der Bühne. Wer aber
dadurch noch nicht dazu gebracht wird, ein Podium als notwendig
anzunehmen, der lese die folgende Stelle aus Hans Sachsens Cleo-
patra vom Jahre 1560: die Szene, da Antonius sich als ein schlech-
ter Fischer erweist (K. G. 20, S. 200) :
Sie spricht:
Da thii deinen angel einsencken!
Wie fechst du fisch, kan ich gedencken.
Er senckt den angel durch ein loch. Im wird ein lebendig
fisch daran gesteckt, den zeucht er herauf und spricht: . . .
Dieses loch kann doch nur ein Loch im Podium sein; von hinten
kriecht jemand hinunter und steckt den Fisch an Antonius' Angel.
Und auch hier zeigt sich ferner, daß das Podium auch an einer
Seite der Bühne verkürzt war; denn als Antonius noch einen
Fischzug versucht, heißt es bei Hans Sachs weiter: Cleopatra redt
mit einer hoffrauwen heimlich, die hecht dem Antonio ein dürren
1) Auffallend ist vor v. 664 warft in pey aim pain vberab, weil in des Dichters
Quelle, dem Lied ven hürnen Sewfrid (str. 114, 5 f.) steht:
Er nam jn bei] dem arme,
Warff jn vom stayn hindan.
Hans Sachs hat also geändert, wolü aus Bühnenrücksichten: der Sewfriddarsteller
kann den liegenden Riesen besser abwälzen, wenn er ihn beim Bein faßt als wenn er
den Ann nimmt.
38 Podium und Stuten.
fisch an, den zeucht er herauff. Hier muß das Anhängen doch vor
den Augen des PubHkums geschehen, die Hoffrau muß also irgend-
wo so daß man es sieht, unter das Podium fassen; dies muß daher
irgendwo nicht bis an die Kirchenwand stoßen, und das Fischloch
des Antonius hat sich gewiß ganz nahe jener Stelle befunden, an
der Sewfrid seinen Gegner in die Tiefe warf.
Jedenfalls also gab es ein Podium, und der Ausdruck get ab,
den Hans Sachs für das Verlassen der Bühne braucht, ob es nun
vorn oder hinten geschieht, gewinnt auf solche Art seinen guten,
auf die Raumverhältnisse gegründeten Sinn ').
Sehr hoch kann das Podium nicht gewesen sein; war der
Chorstuhl fest und um einige Stufen erhöht, so muß die Höhe
dieses Stuhlpodiums das Maximum der Höhe des ganzen Bühnen-
podiums bezeichnet haben ; wir denken an 80 cm : soviel konnte man
sich herabfallen lassen, ohne sich Schaden zu tun, soviel genügte
um ein Herunterkriechen für die Fischbefestigung zu ermöglichen,
und die früher angestellte Raumberechnung hatte ergeben, daß
man bei einer Podiumhöhe von etwa 1 m auch auf den hinteren
Bänken des Schiffes leidlich sehen konnte. Jedenfalls aber mußten,
wie hinter dem Vorhang für die Eingenden, so auch bei der
Sakristei am rechten Profil der Vorderbühne für die Kumenden
Stufen angebracht worden sein, die zur Bühne emporführten; sie
nahmen von den 3,5 m, die die Vorderbühne rechts über den
Altarraum hätte herausreichen können, wenn sie sich hätte un-
mittelbar bis zur Sakristeitür ausdehnen dürfen, etwa 1 m fort.
Jedenfalls aber sind auf solche Art die beiden Auftritts- und
Abgangsorte in wesentlich entgegengesetzter Richtung mit den
1) Ziemlich ausnahmslos durchgeführt wird der Ausdruck get ab im Laufe des
Jahres 1555; vorher kommen die bei Hans Sachs ursprünglich allein üblichen Termini
get aus und get hin immer noch vor. Vielleicht darf man das früheste Erscheinen des
get ab benutzen, um für die Verwendung des Podiums einen Terminus post quem zu
gewinnen: er findet sich zuerst in den Sechs Kämpfern v. 1. Juli des Jahres 1549 (K.G. 8,
S. 17, ZI. 17 u. 23), und so werden wir genau auf die gleiche Zeit geführt, die uns auch
vorher schon (o. S. 14 ff.) für den Beginn der Aufführungen in der Marthakirche in Be-
tracht zu kommen schien. Ge/ aö wiederholt sich im Johannes vom Januar 1550 (K.G. 11,
S. 210, 5), wird aber häufiger erst in der Jocaste vom April des gleichen Jahres (KG. 8,
S. 36, 39, 43, 44, 46, 48). Die weitere Entwicklung ist leider nicht zu verfolgen, da die
nächsten Dramen bis zum November 1553 handschriftlich nicht erhalten sind: und nur
an die Handschriften kann man sich in dieser Frage wenden, da Hans Sachs sich bei der
Druckredaktion seiner gesammelten Werke vielfach bemülit hat, das ihm damals ganz ge-
läufig gewordene get ab auch für die älteren Dramen durchzufüln-en. Eine terminologische
Unterscheidung der Abgangsorte in den Stücken, die noch get aus, get hin, get ab neben
einander gel)rauchen, ist nicht aufzuspüren und ist auch schwerlich vorhanden gewesen.
Sonst hätte Hans Sachs gewiß später nicht das gleicliförmige get ab eingesetzt; und wt'mi
es öfter bei ihm von einer Person heißt: get ab ... . und dann nach einigen Versen von
einer andern I^erson : get auch aus, so spricht das ebenfalls für völlige Identität der beiden
Ausdrücke.
Aiiftrittsort kämplcndcr Heere. 39
Mitteln der gegebenen Lokalität schon fast sicher nachgewiesen;
ein Hauptbedenken mag freilich manchem noch auftauchen, aber
es wird weiterhin gelingen, auch dieses gänzlich zu beseitigen.
Zunächst wollen wir versuchen klar zu machen, wie vieles uns,
nachdem wir ungefähr die Lage der Bühne abgegrenzt haben,
von Hans Sachsens bisher noch nicht erklärten Andeutungen nun
ganz deutlich wird. Es mag hier auch darauf hingewiesen wer-
den, wie jetzt auch jene Schwierigkeit, die uns die bisher notwen-
dige Annahme machte : daß alle Personen, Requisiten usw. in dem
selbst bei ziemlich weit vom Altar wegverlegtem Vorhang noch
sehr beschränkten Hinterraum sich zusammendrängen lassen muß-
ten, nun beseitigt ist, wo auch die Sakristei für die gleichen Zwecke
zur Verfügung steht.
Vor allem wird es deutlich, warum Hans Sachs alle Heere, die auf
die Bühne treten, um ohne weitere Zwiesprach schon auf der Szene
befindliche Gegner anzugreifen, nicht eingen, sondern kamen läßt.
Im HS. findet sich ja kein Fall dieser Art, aber man kann beinahe
sagen: ausnahmsweise, denn die Zahl der Stellen, an denen Hans
Sachs solche Angriffe vorführt, ist unglaublich groß. Und immer
kamen die Angreifer, z. B. Hugschapler 1556 (KG. 13, S. 19, 27);
Aretaphila 1556 (KG. 13, S. 166); Josua 1556 (KG. 10, S. 112, 121);
Ahab 1557 (KG. 10, S. 424); Cyrus 1557 (KG. 13, S. 318 f. u. ö.);
Alexander 1558 (KG. 13, S. 497 f. u. ö.); Pontus 1558 (KG. 13, S. 393,
416); Wilhelm von Orleans 1559 (KG. 16, S. 61); Romulus 1560
(KG. 20, S. 172); Sedras 1560 (KG. 16, S. 149). Würden die Angrei-
fer von hinten eingegangen sein, so würde man sie nur unvoll-
ständig gesehen haben : die schon auf der Bühne Befindlichen hätten
ihren Anblick gewiß wenigstens teilweise verdeckt. Und vor allem :
durch den Vorhangsspalt kann man eigentlich nur im Gänsemarsch
auftreten und somit kaum der Phantasie einen Anhalt für die Vor-
stellung eines wirklichen Angriffs geben. Von vorn dagegen, wo
wir die Treppe uns fast über das ganze Profil der Vorderbühne, also
mehr als 2 m ausgedehnt denken dürfen, können wohl drei Mann
in einer Reihe auftreten, und der Zusammenstoß erfolgt vorn ganz
und gar vor den Augen der Zuschauer; von dort zog sich der
Kampf dann auch öfters nach hinten, und so treffen z. B. an der
angeführten Stelle des Wilhelm von Orleans die Reinlender, die
kämpfend von vorn gekamen sind, zuletzt auf einen versteckten
Haufen, und der kombt binden an sie. All das wird hier nur an-
gedeutet, nicht ausgeführt, weil es nicht direkt für den HS. in Be-
tracht kommt; unsrer Vorstellung der Gesamtbühne aber führt es
die Sicherheit zu, daß wir es an der Sakristeitür mit einer breiten
Seitentreppe zu tun haben.
Und diese Sicherheit soll uns gleich weiterhelfen bei der Frage
nach der
40 Stellung des Ernholts.
Stellung des Ernholts.
Im Anfang des HS. ist es wie in allen Hans Sachsischen Dramen: der
Ernholt betritt von hinten die Bühne und spricht den Prolog; der
terminus technicus lautet für ihn an dieser Stelle übrigens immer
drit ein im Gegensatz zu den handelnden Personen, für die es
get ein heißt; wo der Herold als eigentlicher Mitspieler während
des Stückes erscheint, ist das get ein auch für ihn verwendet (vgl.
Arsinoe 1559: KG. 13, S. 565). Er betritt die Bühne auch von hinten,
aber nur in den nicht so häufigen Fällen, wo er zu Anfang eines
„Bildes", also auf der leeren Bühne allein oder mit mehreren Per-
sonen erscheint. Sonst, wo er im Lauf des Aktes einzugreifen hat,
heißt es regelmäßig: der ernholt kumpt (z. B. Jocaste 1550: KG. 8,
S. 51; Fortunat 1553: KG. 12, S.210; Troja 1554: KG. 12, S.285; Ulixes
1555: KG. 12, S. 349, 352; Hugschapler 1556: KG. 13, S. 13, 18, 25,
36; Julian 1556: KG. 13, S. 114, 128; Poncus 1558: KG. 13, S. 397,
421; Beritola 1559: KG. 16, S. 121; Sedras 1560: KG. 16, S. 169;
Andreas 1561 : KG. 16, S. 26, 42 u. ö.) Und doch wird man nicht
annehmen dürfen, daß er dann stets durch die Sakristeitür tritt.
Es ist nämlich merkwürdig oft überhaupt nicht besonders er-
wähnt, daß er auftritt. Nun kommt es allerdings bei Hans Sachs
auch sonst vor, daß eine Person plötzlich spricht, ohne daß ihr Er-
scheinen vorher in der szenischen Bemerkung stand. Aber diese
Fälle, auf die wir noch zurückkommen, sind verhältnismäßig sel-
tene Ausnahmen, so daß wir sie gewiß durch Annahme einer gelegent-
lichen Nachlässigkeit des Dichters werden erklären dürfen. Dagegen
liegt kein Grund vor, nun grade für die Gestalt des Ernholts eine
so häufige Nachlässigkeit Hans Sachsens anzunehmen, wie sie
das Material tatsächlich gebieten würde. Nur nebenher mögen hier
Fälle aus andern Dramen herangezogen werden : Unschuldige
Kaiserin 1551: KG. 8, S. 136; Belagerung Jerusalems 1552: KG. 10,
S. 475; Hugschapler 1556: KG. 13. S. 30; Vier Liebhabende 1556:
KG. 13, S. 177, 182, 188; Marina 1557: KG. 20, S. 93; Cyrus 1557:
KG. 13, S. 312. Im übrigen ist hier der HS. besonders lehrreich.
Nach V. 51, dem Ende des Prologs, heißt es: Der ernholt get ab,
und ohne daß von seinem Wiederauftreten die Rede ist, sagt König
Gibich V. 99: Ernholt, Sewfriden pringen thw, und dahinter steht:
Der herolt naigt sich, get ab . . . Der Darsteller hatte also wohl
die Bühne doch nicht verlassen. — Vor v. 226 geht der Herold mit
Gibich ein; nach 230 steht Der ernholt get ab, vor 253 erscheint
er wieder mit Crimhilt, so daß nun Gibich, Sewfrid, Crimhilt
und der Ernholt auf der Szene sind; nach 276 steht Der k'unig gei
mit Sewfriden ab; Crimhilt bleibt (wenn auch — s. o. S. 33 —
der Schauplatz sich in die Burgzinne verändert), — aber wo ist der
Ernholt? Nach der Entführungsszene (v. 298) heißt es dann zwar
in der szenischen Bemerkung: Der kiinig kumpt mit Sewfriden
Sti'lliin^r des Ernholts. 41
vml dem herolt gelojfen; aber des Herolds Abgehen war nicht er-
wähnt, und er weiß auch v. 312 — 6 andere Dinge über die Entfüh-
rung als die andern, Dinge, die er eigentUch nur hier oben auf der
Burgzinne, nicht unten auf der Turnierwiese beobachtet haben kann.
War er etwa doch in der Nähe ? — Und nun gar im sechsten Akt.
Hier ist von dem Auftreten des Herokls überhaupt nicht die Rede,
auch in der Rosengartenszene (v. 937 ff.), und doch ist er da. Ja,
hier kommt noch etwas Weiteres, zunächst Befremdendes dazu.
Hiltprant, der nacli v. 936 abgegangen ist, ist nicht auf der Szene;
als aber Sewfrid den Ferner hart bedrängt, heißt es plötzlich in
der szenischen Bemerkung (vor 951): Hiltprant sieht Imimlieh zu
vnd spricht gemach, und der, den er leise anredet, ist der Herold:
Herolt, ge, pring das pottenprot,
Ferner hab mich geschlagen dot.
Und nun: Der herolt drit auf den plan vnd schreit. Beide sind
also vorher noch nicht auf dem eigentlichen Bühnenplatz, auf dem
eben Sewfrid den Ferner umtreibt, aber doch den Zuschauern
einigermaßen sichtbar gewesen; nun tritt der Herold ganz herauf,
und vor v. 975, als der von Hiltprant künstlich angestachelte furor
diesem den Sieg verschafft hat, heißt es: Der alte Hiltprant kumpt
vnd spricht. Jetzt also ist auch er den gewöhnlichen Vorderweg
emporgestiegen; vorher kann er daher nur unten an der Sakristei-
tür gestanden und von hier dem Kampf zugesehen haben. Für den
Ernholt bleibt also nur ein Standplatz übrig: in allen Szenen, wo
er irgend zur Hand sein muß, also vor allem an Königshöfen, geht
er aby aber doch nur einige Stufen und bleibt etwa auf der letzten
stehen; nahe der Wand, so daß andere kumende an ihm vorbei
können. Hierher ist er also auch nach dem Prolog abgegangen, so
daß der König Sigmund v. 99 das Wort an ihn richten kann;
hier steht er während der Drachenszene und schließt sich dann vor
V. 299 als letzter dem König und Sewfrid an, die auf die Bühne
geloffen kumen; hier steht er bei der Zwiesprache mit Hiltprant.
So erklärt es sich auch, daß es, wie wir sahen, meist von ihm heißt
er kumpt: denn immerhin, er kommt die vorderen Stufen hinauf, und
daß an andern Stellen jede Angabe fehlt: denn eigentlich ist er ja doch
schon auf der Bühne. Während des größten Teils der Vorstellung
bleibt er hier den Zuschauern sichtbar, wie er auch Prolog und Epi-
log spricht, halb der wirklichen Welt angehörig, halb der erdich-
teten des Dramas; jene Stufen, auf denen sein Stand ist, bilden
die Brücke zwischen diesen beiden Welten: Kunstraum und realer
Raum gehen hier ineinander über.
An dieser Stelle mag endlich auch von dem Abgehen am Schluß
des ganzen Dramas die Rede sein, weil der Ernholt dabei durch-
aus die Hauptperson ist. Sie gen alle in Ordnung ah. Der ernholt
kumpt vnd beschleußt. Das ist in den allermeisten Fällen die
42 Abgehen aller Personen am Schluss.
Normalform der szenischen Bemerkung vor dem Epilog. Bis
zum Jahre 1554 scheint freilich in solcher Hinsicht noch keine Festig-
keit geherrscht zu haben, denn bis zu dieser Zeit kommt es öfter
vor, daß der Ernholt eingeht oder eintritt (z. B. Alt Reich Bur-
ger 1552: KG. 12, S. 140; Aristoteles 1554: KG. 12, S. 263,
Troja 1554: KG. 12, S. 314), dann aber wird jene Form die Regel')
(z. B. Vertriebene Kaiserin 1555: KG. 8, S. 194, Julian 1556:
KG. 13, S. 140; Daniel 1557: KG. 11, S. 64; Abraham 1558:
KG. 10, S. 56; Arsinoe 1559: KG. 13, S. 578; Cleopatra 1560:
KG. 20, S. 232; Andreas 1561: KG. 16, S. 55; Thais 1562: KG. 20,
S. 44 usw.). Bei jener Vorschrift ist nun im allgemeinen nicht
daran zu denken, daß nur die Personen, die auf der Szene sind,
die Bühne verlassen wie an andern Bild- und Aktschlüssen auch.
Darauf deutet nicht nur der eben nur hier fast immer sich
findende Zusatz in Ordnung hin; an einigen Stellen ist die Vor-
schrift genauer gegeben, und dazu gehört auch der Schluß unseres
HS. Auf der Szene sind Crimhilt, der Ernholt und ein Jäger,
und nach Crimhilts Racherede an Sewfrids Leiche heißt es (nach
v. 1106): Sie tragen den dotten ab, die kiingin get trawrig
hinach, darnach alle in Ordnung. Also nachdem die drei handelnden
Personen die Bühne verlassen haben, passieren noch einmal alle im
Drama auftretenden Darsteller vor den Augen der Zuschauer Revue;
der Ernholt aber spricht den Epilog. Ebenso deutlich wird es
etwa in der Arsinoe v. J. 1559 (KG. 13, S. 577 f.): nach dem Tode
des Königs Ptholomeus heißt es: Sie gehen alle ab. So kummet
der fürst Dion und spricht kleglich einen Monolog. Und dann erst
folgt: Sie gehen alle inn Ordnung ab. Der ernholt kumbt und
beschleust. — Des Ernholts Epilog im HS. will zum Schluß noch
die art in gemelten personen moralisch erläutern, und Sigmund,
Sewfrid, dem Zwerglein usw. werden nun je zwei oder vier Verse
gewidmet. Man möchte danach leicht auf die Vermutung kommen,
der Ernholt habe die einzelnen Sprüchlein gesagt, während der
betreffende Darsteller sich noch einmal dem Publikum zeigte. Da-
gegen spricht wohl nicht der Umstand, daß die ganze Art des
Revueepilogs nicht gerade sehr häufig vorkommt; auch nicht die
Beobachtung, daß hier nur elf Personen besprochen werden, während
siebzehn aufgetreten sind: die fehlenden sechs sind bis auf Gibich
Träger unbedeutender Rollen, und diese wurden vielleicht von den
übrigen Darstellern mit übernommen, so daß tatsächlich nur elf
Schauspieler sich zeigen konnten; bedenklicher ist es schon, wenn
im Schlußmonolog des Hagwartus (1556: KG. 13, S. 241 ff.) von
fünfzehn mitspielenden Personen nur sieben behandelt werden, oder
gar, wenn im Perseus (1558: KG. 13, S. 456) der Ernholt umge-
1) Nur zweimal (zu 11, S. 357 und 18, S. 81j hahcn die Handschriften noch drit
ein; im Druck ist es auch da beseitigt.
AbgeluMi aller Personen am Schhiss. - 43
kehrt Personen bemoralisiert, die gar nicht auft^etreten sind, sondern
von denen nur gesprochen worden ist. Aber vor allem zeigt jene
szenische Bemerkung des HS., daß der Ernholt jene Aufgabe gar
nicht ausgeführt haben kann: er hat den Toten mitabgetragen und
ist somit bei jenem Aufzug der Schauspieler schwerlich schon wieder
zur Stelle. Wem diese Stelle noch nicht zwingend erscheint, der
halte sich an den Schluß des Hugschaplers (1556: KG. 13, S. 49) ;
hier steht: Sie gehen alle in Ordnung ab. Der ernholt kumbt
wider, beschleußt. Dieser außergewöhnliche Zusatz i) wider evheWi
sofort die Situation: sie sind erst alle abgegangen und zwar von
hinten auftretend nach vorn hinunter; der Ernholt deckt die Nach-
hut, und erst wenn alle verschwunden sind, kommt er zuiYi Epilog
zurück-). Soll er einer Anregung des Dialogs folgend einmal der erste
sein und nicht der letzte, so wird es besonders hervorgehoben: in
den Zwölf Argen Königinnen vom Jahre 1562 sagt am Ende Frau
Ehr (KG. 16, S. 21):
Geh, erhnholdt, für die köngin auß
Der königin fraw Ehren hauß!
Es ist also geradezu ein Hinausbefördern, und so heißt es nun :
Der Ehrnholt geht vor den zwölff königin, die folgen im mit ge-
neygten häuptern samb trawrig auß dem saal. Und nun auch hier:
Der ehrnhold kombt wider und macht den beschluß. — Zieht hier
wie überall die Schauspielerschar in die Sakristei oder aus der
Kirche heraus? Der in dem letztangeführten Stück ausnahmsweise
benutzte Ausdruck saal besagt nicht viel; oder hat Hans Sachs
hier an den Remter des Predigerklosters gedacht? Schon im Jahre
1549 hat der Rat den messerern, so die Josephisch historien zu
spilen furgenomen einschärfen müssen, mit denselben klaidern nit
über di gassen zu geeri'').
Auf der so schon ziemlich genau abgegrenzten Bühne sehen
wir uns nun weiter um, zunächst wesentlich, um die Auf- und
Abgangsfrage noch eingehender zu behandeln und die schon erteilte
Antwort noch mehr zu sichern. Die Bühne, wie wir sie jetzt an-
sehen, schließt offenbar ein
Kanzel und C h o r s t u h 1.
Von ihrer Verwendung für die Aufführung muß nun zunächst die
Rede sein, obschon wir damit von neuem in die Frage nach Deko-
1) Allerdings findet er sich erst in A; in S steht das gewöhnliche kumbt vnd. Grade
umgekehrt ist es im Sedras vom J. 1560 (KG. 16, 189), wo das wider in der Handschrift
steht, dagegen im Druck beseitigt ist.
2) Lelirreich für den Betrieb vor 1555 der handschriftliche, im Druck geänderte
Schluß des Trauerspiels Troja v. J. 1554 (KG. 12. S. 314 u. Anhang dieses Buches).
3) Hampe 2, N. 49.
44 Die Kanzel.
rationell und Requisiten übergreifen. Eine bisher nicht bühnen-
verständlich gewordene szenische Bemerkung des HS. war die in der
Zinnenszene (vor v. 285) : In dem flewgt der trach daher. Daß der
Drache sichtbar wird und zwar über der Bühne, so daß man ihn als
fliegend denken kann, ehe er dann kiimpt, das heißt, vorn rechts
auf der Bühne erscheint, wird kaum zu bezweifeln sein, da es sich
um eine szenische Bemerkung handelt. Aber wo geschieht das ? Man
könnte denken: hinter dem Vorhang sei eine Leiter aufgestellt worden,
und sie habe der Darsteller des Drachen einen Augenblick bestiegen.
An der Möglichkeit dieser Vorführung ist nicht: zu zweifeln; aber
es gibt eine andere, und sie hat von vorn herein mehr für sich,
weil sie die Regie nicht zur Vermehrung der Requisiten oder wenn
man will Maschinerien zwingt. Der Darsteller des Drachen war
seit dem Anfang der Vorstellung auf der Kanzel ') verborgen, zeigte
sich einen Augenblick oben, stieg, während Crimhilt ihm acht
Verse aufsagte (Er lest sich herab aus dem hief't), die Treppe der
Kanzel herunter, die damals gewiß recht steil war, kam ungefähr
neben der ersten Bühnenstufe (an der Sakristeitür) an, und nun kann
es heißen Der trach kiimpt, denn er betritt genau so die Bühne,
als ob er aus der Sakristeitür gekommen wäre. — Wer noch nicht
geneigt ist, diese Benutzung der Kanzel für wahrscheinlich zu halten,
sei auf zwei Dramen des Jahres 1553 hingewiesen, bei denen man
schwerlich die Kanzel als Dekorationsstück wird leugnen können:
es ist der Tristan vom 7. Februar und der Fortunat vom 4. März 1553.
Daß es sich um zwei so unmittelbar aufeinander folgende Werke
handelt, mag darauf deuten, daß Hans Sachs sich eben damals zu-
erst der dekorativen Verwendbarkeit der Kanzel bewußt geworden
ist. Zunächst der Tristan. Der Zwerg hat dem König Marx ver-
raten, daß Tristan und Isald sich nächtlicherweile im Baumgarten
an der Linde treffen, und der Dichter führt uns nun die Belauschungs-
szene vor (KG. 12, S. 165 ff): Der könig Marx kiimbt mit dem zwergen
vml spricht:
Da laß uns steigen auff die linden,
Den rechten grund der sach zu finden!
Sie steigen beid auff den bäum. Herr Tristant kombt
und sieht den schalen der zweier auff der linden und spricht . . .
Isald, die königin kumbt. Tristant zeigt ihr auff den schalen der
zweier auff dem bäum, sie merckel das vml spricht geht ab
.... Herr Tristant gehet auch ab. König Marx zuckt sein schwerdt,
den Zwerg zu erstechen. Der entlauft ihm. König Marx spricht . .
steckt sein schwerd ein vnnd gehet ab zornig. Abgegangen sind
Marx und der Zwerg also nicht, denn nach des Liebespaares Ver-
schwinden sind sie auf der Bühne; es hieß ja auch vorher nicht:
1) Die Kanzel ist lieut nicht mehr die alte, diese befand sich aber natürlich an der
gleichen Stelle.
Kanzel und Cliorstulil. 45
sie gen ab, sondern sie steigen auff den bäum. Ohne daß die Zu-
schauer die beiden irgend wo oben sehen otler ahnen, geht es auch
nicht an; hätte Hans Sachs ihrer Phantasie zumuten wollen, sie
sich oben vorzustellen, hätte er in das Gespräch der Liebenden
doch mehr Andeutungen gelegt; tatsächlich verläuft es so, daß der
Zuschauer ohne stark verdeutlichende Gesten der Darsteller gar
nicht verstehen kann, daß Tristant warnt und Isald begreift; daß
an ein wirkliches Dekorationsstück nicht zu denken ist, werden wir
später noch zeigen, und es liegt schon jetzt im ganzen Charakter
unserer Betrachtungsweise, daß wir durchaus vermeiden müssen
der Meistersingerbühne eine solche Technik zuzuweisen. Die Kan-
zel aber bot sich als einfache und bequeme Hülfe; ob man sie
noch wenigstens andeutend dekorativ charakterisiert hat, sei hier
nicht erörtert. Hier standen König und Zwerg; so waren sie noch
auf der Bühne, als die Liebenden diese verlassen haben; vielleicht
hat Marx das Schwert gegen den Zwerg noch oben auf der Kanzel
gezückt. — Und die zweite Baumszene einen Monat später im
Fortunat (KG. 12, S. 211): Andolosia steigt auff den bäum. Viel-
leicht hat man die Kanzel auch zu Erscheinungen Gottes verwen-
det, so etwa im Eli (KG. 10, S. 252), der auch wieder dem Jahr
1553 angehört. Und so mag die Verwendung für die erste Erschei-
nung des Drachen in der Luft auch nicht mehr als unwahrschein-
lich gelten.
Das zweite vom Raum gebotene Dekorations- oder Requisiten-
stück ist der Chorstuhl, und er erweist sich von vornherein als
äußerst wichtig, ja unentbehrlich. Denn in Hans Sachsens Dramen
spielt das
Sitzen
eine ungemein große Rolle. Davon muß hier schon die Rede
sein, hier vor allem, um noch einige szenische Bemerkungen,
die etwa mit dem Abgehen und Auftreten zusammenhängen oder
sonst die Richtungen auf der Bühne betreffen, auf ihre Überein-
stimmung mit der hier vorgetragenen Theorie zu prüfen.
Daß sich gelegentlich eine Person mit besonderem Bezug auf
die eigentliche Handlung niederzusetzen hat, kommt in Hans
Sachsens Stücken hie und da vor, und von den dazu etwa nötigen,
eigens hereinzuschaffenden Sitzen werden wir späterhin bei den
Requisiten zu sprechen haben. Das Sitzen aber ist bei Hans Sachs
auch sonst so unendlich häufig verlangt, daß transportable Stühle
in einem fort hätten hinaus- und hineingeschafft werden müssen.
Ein fester Sitzplatz war dringend notwendig. Prüfen wir zuerst,
wo im HS. das Sitzen geradezu Vorschrift ist:
a) nach v. 51 : Künig Sigmund . . get ein mit zwayen retten, sezt
sich trawrig nider und spricht
46 Das Sitzen des Herrschers.
b) nach V. 226: Kiinig Gibich get ein mit seinem herolt, sezt sich
nider und spricht
c) nach v. 345 : Der trach fuert die junckfraw auf, sie sizt und waint,
wint ir hent und spricht traurig
d) nach v. 627 : Die junckfraw Crimhilt get ein, sezt sich trawrig
und spricht
e) nach v. 701 : (nach dem Drachenkampf). Die junckfraw kumbt,
sizt ZV im, legt im sein kopff in ir schos, spricht
und dann nach 709: Sewfrid sizt auf vnd spricht
f) nach V. 749: Kiinig Gibich get ein mit seinem herolt, sezt sich
trawrig vnd spricht
g) nach V. 798: Der huernen Sewfrid get ein mit Crimhilden,
seiner gemahel, sizen zwsamen, vnd sie spricht
h) nach v. 862: Kiinig Gibich get ein, sezt sich nider vnd spricht
i) nach v. 936: Crimhilt, die künigin, kumbt vnd sezt sich nider,
spricht.
Von diesen Stellen ist eine (e) durch die Handlung herbeigeführt:
das Sitzen Crimhilts und Sewfrids nach dem Drachenkampf. Hier
handelt es sich offenbar um ein Sitzen auf der Erde. Die übrigen
Stellen, an denen das Sitzen zunächst nicht notwendig ist, lassen
sich in zwei Gruppen zerlegen; die erste umfaßt a b f bis i, die
andere c und d. Die erste zeigt uns : es ist bei Hans Sachs bühn-
liche Gewohnheit geworden, Könige stets sitzen zu lassen, zum
Zeichen ihrer königlichen Würde. Wo die Anordnung unterblieben
ist, liegt entweder eine kleine Vergeßlichkeit vor, ja auch die noch
nicht einmal : es ist fast so selbstverständlich, daß der König oder die
Königin sich setzen, wie daß der Ernhold kumbt, und daher kann
die gelegentliche Auslassung nicht befremden. Oder der König hat
einen bestimmten Grund, nicht Platz zu nehmen. So König Gibich,
als er mit Sewfrid zur Burgzinne gelaufen kommt : hier ist die Un-
ruhe zu groß, als daß er mit Anstand sitzen könnte; so König
Sewfrid, als er gewappnet in den Rosengarten kommt : er geht,
des Gegners harrend, auf und ab (vor v. 939) ; so wiederum Sewfrid,
als er kurz vor der Ermordung in den Wald kommt: hier legt er
sich (vor v. 1062); so Crimhilt (vor v. 1073): sie sucht Sewfrids
Leiche und sincket auf in nider. Dietrich von Bern gilt dem
Dichter offenbar nicht als König; er wird nie so genannt und
hat daher auch kein Anrecht auf den Sitzplatz. Sehr genau und
wie ein Zeremonienmeister unterscheidet Hans Sachs : in den ersten
fünf Akten, da Sewfrid noch nicht König ist, nuiß er stehen. Die
übrigen Dramen bestätigen diese Regel so überreichlich, daß es
sich erübrigt, hier Beispiele zu geben. Daß wir aber auch wo das
Sitzen des Herrschers nicht ausdrücklich hervorgehoben ist, ihn
uns doch sitzend vorzustellen haben, zeigt z. B. der Alte Marschall
Das Sitzen des Traurigen. 47
(1556). Hier stand (KG. 13, S. 78) nur : Der keyser geht ein mitPhilippo,
heroldt und den trahanfen, spricht; etwa 60 Verse weiter aber (S.
80) lesen wir: Der keyser steht auff vnnd vmbfecht sein son, er hat
also gesessen. Es muß übrigens nicht immer grade ein König
sein oder eine Königin ; auch einem Tyrannen, dem Marschall, dem
Richter wird der Sitzplatz gewährt; ja, der Arzt wartet sitzend
auf Patienten (Jüngling im Kasten 1557: KG. 13, S. 245). Aber
das ist doch nicht in dem Maße die Regel, wie es für König und
Königin gilt. Gewiß sind die Vorstellungen des Dichters und seines
Publikums, die sich die Träger der Krone so wenig wie möglich
stehend denken mochten, hier nicht sowohl von der Wirklichkeit
erzogen wie von der bildenden Kunst: die Bücherillustrationen und
einzelne dem gemeinen Mann zugänghche Blätter pflegten den
König oder Fürsten auf einem erhöhten Podium und hier wieder
auf einem thronartigen Sessel vorzuführen; selten nur finden wir
sie stehend dargestellt. Ein gutes Beispiel bieten z. B. Holbeins
Bilder zum alten Testament (Basel 1523). Das Theater, in einer ge-
wissen fabrikmäßigen Art, die von seinem Wesen untrennbar scheint,
beseitigt die Ausnahmen ganz und führt eine bequeme und etwas
geistlose Regelmäßigkeit ein. So hat denn Hans Sachs auch da,
wo die illustrierte Vorlage für den HS.- Drama, der Hergotinsche
Druck des alten Liedes, die Herrscher stehend zeigte, ihnen seiner
Regel getreu die sitzende Stellung gegeben.
Anders liegt es in den Fällen c und d. Crimhilt ist Königs-
tochter, nicht Königin, und so kommt ihr der Ehrenplatz vor dem
sechsten Akt noch nicht zu. Wenn wir sie trotzdem schon im
dritten oder fünften Akt sitzend treffen, so muß das eine andere
Veranlassung haben. Gemeinsam haben beide Situationen den
Umstand, daß die sitzende Crimhüt traurig ist. Und darin treffen
wir offenbar wieder eine Hans Sachsische Regel: wer traurig die
Bühne betritt und seinen Kummer in Worten zum Ausdruck bringt,
setzt sich nieder. Andere Fälle, wo Hans Sachs das ausdrücklich
vorschreibt, sind z.B.: Galmi 1552 (KG. 8. S. 262); Aretaphila 1556
(KG. 13, S. 149 und 156, letztere Stelle besonders interessant);
Olvier 1556 (KG. 8, S. 223); Marschall und sein Sohn 1556 (KG. 13,
S. 70); Vier Liebhabende 1556 (KG. 13, S. 173, wo sogar der dazu-
kommende König vor dem traurig sitzenden Ritter Gernier steht,
und 197); Marina 1557 (KG. 20, S. 69); Pontus 1558 (KG. 13, S. 396).
Auch hier werden wir darauf aufmerksam machen können, daß die
bildende Kunst der Zeit und zumal die dem gemeinen Mann zugäng-
liche den Bekümmerten mit Vorliebe sitzend vorführt. Auch wird
dem Schauspieler die Darstellung dadurch ungemein erleichtert;
wir kommen in anderm Zusammenhang darauf zurück.
In all diesen Fällen handelt es sich nicht um etwas Wesent-
liches, nicht um etwas Außergewöhnliches, was die immerhin um-
48 Der Chorstuhl.
ständliche und darum möglichst vermiedene Herbeischaffung eines
transportablen Requisits gerechtfertigt hätte. Auf der Bühne aber
ist der feste Chorstuhl gegeben, und so werden wir behaupten
dürfen: all dieses normale Sitzen findet auf dem Chorstuhl statt.
Man wird nämlich, da es sich um eine Spitalkirche handelt, wohl nur
an eine n, der Kanzel gegenüber liegenden Stuhl zu denken haben ;
allerdings spricht die S. 21 wiedergegebene archivalische Notiz von
den stuelen, doch handelt es sich gewiß um einen leicht begreif-
lichen Irrtum des betreffenden Magistratsbeamten.
Durch die Feststellung dieses gegebenen Platzes sind wir nun
wieder genauer über die Richtungen orientiert, in denen sich die
Schauspieler auf der Bühne bewegen. König Sigmund, der vor v.
51 so wie später im fünften Akt Gibich zwei Gründe hat Platz zu
nehmen: er ist König und er ist traurig, get durch die Mitte des
Vorhangs ein nach links') zum Chorstuhl; nach v. 99 schreitet der
Ernholt von der Vordertreppe zum Hintervorhang, und geht dann mit
Sewfrid ebenfalls nach links: zum sitzenden Herrscher. So geht
Sewfrid vor 231 quer über die Vorderbühne zum Chorstuhl, eben-
so vor 758 der Zwerg Ewgelein. Und so fort. Vor allem aber
haben wir nun Gelegenheit, dort wo die szenischen Bemerkungen
über die Bewegungen der Darsteller etwas genauer sind, die Rich-
tigkeit unserer ganzen Hypothese nachzuprüfen: es ist die Frage,
ob diese Bemerkungen sich den Konsequenzen des bisher rekon-
struierten Bühnenbildes zwanglos einordnen.
Es war früher davon die Rede gewesen, daß wir irgendwo
hinten einen Ausschnitt aus dem Podium anzunehmen haben: dort
muß im HS. der Held den Riesen und den Drachen abwerfen.
Der beste Platz dafür war die linke Ecke : das Podiumstück hinter
dem Chorstuhl, der die Lücke wenigstens einigermaßen deckte. So
erklärt sich nun die Situation von 664 ff. nach Kuperons Fall:
Sewfrid warft in pei/ aim pain vberab, spricht:
Nun fal über des pirges Joch usw. —
vier Verse an den in der linken Ecke abstürzenden Kuperon,
jedenfalls fast ganz nach hinten gesprochen. Und dann folgt: Er
kert sich zv der junckfrawen, spricht. Das stimmt durchaus: sie
sitzt auf dem Chorstuhl, er muß sich also umdrehen, wenn er mit
reden will.
Geradezu schlagend ist es im sechsten Akt. Zuerst nach v. 902.
Der hiiernen Sewfrid get ab: in den inneren Saal, durch den
Mittelspalt des Vorhangs. Die zurückbleibende Königin Crimhilt
sitzt natürlich, obgleich das hier einmal nicht ausdrücklich vorge-
schrieben ist, auf dem Chorstuhl. Der Ferner luunpt und sieht im
nach — er geht vorn die Stufen herauf und gerade über die Bühne
1) 'Links' und 'rechts' stets vom Standpunkt des Zuschauers aus.
Unregclinäßif^koiten der szenarisc-luMi Terminologie. 49
bis an den Mittelspalt; kert sich zv Crimhilt, denn diese sitzt auf
dem Stuhl, sodaß er sieh gerade umdrehen muß. Und dann die
Szene nach v. 964: Sewfrid weicht hinter sich, flewcht entlich der
kiingin in ii schos, die . . spricht Dietrich lun Gnade für ihn an.
Der indessen — er steht direkt vor dem Chorstuhl, das Gesicht
nach links zu Crimhilt gewandt — zwckt das schwert, in zv er-
stechen. Da aber kumpt Hiltprant, um sich als lebend zu melden:
er geht die Seitenstufen vorn herauf, Dietrich kehrt ihm also ge-
rade den Rücken zu. Und nun vor v. 981 : Der Ferner went sich
vmb, spricht. Die vorher erschlossene Situation findet in dieser
Hans Sachsischen Bühnen bemerkung die vollständigste Bestätigung.
Drei Bedenken bleiben noch übrig. Das erste nötigt noch
einmal zu einer Betrachtung der
Terminologie der szenischen Bemerkungen
zurück. Wir dürfen auch dem, der durchaus geneigt ist, an die
Richtigkeit der bisherigen Ermittelungen zu glauben, nicht ver-
schweigen, daß eine absolute Gleichmäßigkeit der szenischen
Bemerkungen doch nicht vorliegt. Wir meinen aber, eine solche
absolute Gleichmäßigkeit ist auch nicht zu erw^arten ; es genügt,
wenn wir überall die Regel sehen und die Ausnahmen zum größten
Teil erklären können. Und das ist durchaus der Fall. Hans
Sachs ist schließhch doch nicht nur Inspizient: er schreibt seine
Dramen, indem er dabei die hier wieder aufgedeckten Bühnenver-
hältnisse im Kopf hat, und er denkt bei der Aufzeichnung der
szenischen Bemerkungen so viel wie irgend möglich daran, daß ihr
Wortlaut ihm bei seinen Inspiziententätigkeit Dienste leisten kann ;
aber der einzige Gesichtspunkt kann das nicht immer sein. In
gewissen Fällen dominiert der Regisseur über den Inspizienten oder
anders gesagt: es ist dem Verfasser wichtiger, dem Schauspieler,
der nicht einfach aufzutreten hat, etwas über diese Besonderheit
seines Auftretens anzudeuten als nur einfach den Ort seines Er-
scheinens zu kennzeichnen. In zwei Fällen ist das deuthch zu er-
kennen: ersthch wenn der Schauspieler nicht allein die Bühne
betritt, sondern einen andern mit sich führt, und zweitens, wenn
das Tempo des Auftretens besonders charakterisiert werden soll.
Dann ist die besondere Angabe kumpt oder get ein häufig, wenn
auch nicht immer fortgelassen. So heißt es im HS. nach v. 99:
Der herolt naigt sich, get ab, pringt Sewfrid, — kein Zweifel
übrigens, daß beide eingen, ebenso vor v. 253 : Der herolt pringt
Crimhilden; ferner im Anfang von Akt 3: Der trach fiiert die
junckfraw auf; endlich vor v. 772: Sewfrid fürt Crimhilden ein:
natürlich von vorn, aus derselben Richtung, aus der kurz zu-
vor der ihre Rettung meldende Zwerg kumpt. Andere Beispiele
sind: Aretaphila 1556: KG. 13, S. 167; Hagwartus 13, S. 234;
H e r r 111 a n n , Theater. •!
50 Unregelmässigkeiten der szenarisclien Terminologie.
Jüngling im Kasten 1557 : KG. 13, S. 248, 258 ; Verlorene Sohn, den
man richten wolt 1557: KG. 13, S. 278; Cyrus 1557: KG. 13, S. 310;
Pontus 1558: KG. 13, S. 382, 413; Alexander 1558: KG. 13, S. 482.
Der andere, seltenere Fall spielt im HS. gar keine Rolle; Beispiele sind
Fortunat 1553: KG. 12, S. 197: schleicht hinnein; Rosimunde 1555:
KG. 12, S. 418. — Gelegentlich kommt es auch vor, daß eine Bühnen-
regel um der andern willen vernachlässigt ist, so wie wir oben
sahen, daß ein König stehen mußte, weil schon ein Ritter traurig
saß. So -wird im Cyrus (1557) den natürlichen Richtungen wieder-
holt Gewalt angetan, weil Heere, wie wir sahen, aus Bühnenraum-
rücksichten nur von vorn die Treppe heraufkommen konnten
(vgl. KG. 13, S*. 318,9; 325,6; 329,5).
Anderseits ist es kein Wunder, wenn ein Viel- und Geschwind-
schreiber wie Hans Sachs auch öfter einmal einen Verstoß gegen
seine Regeln sich zuschulden kommen läßt. Wenn gelegenthch
doch einmal ein epischer Rest in einer szenischen Bemerkung Platz
findet (aber höchst selten; z. B. Aretaphila 1556: KG. 13, S. 147');
wenn er einen Ausdruck des Dialogs in die unmittelbar folgende
szenische Bemerkung übernimmt und wenn sich auf solche Art
(z. B. Verlorener Sohn 1556: KG. 11, S. 237) im Anschluß an ein
kumb! des letzten Verses ein kumpt in der Bühnenanweisung findet,
wo es unbedingt get ein heißen müßte ; wenn das tritt ein des
Ernholts ausnahmsweise ein paarmal auch auf Personen des Stückes,
statt get ein, übertragen wird (Marina mit Dagmano 1556: KG. 13,
S. 102); wenn das typische Der ernholt kumpt des Schlusses auch
einmal (Marina 1557 : KG. 20, S. 64) vor den Prolog gestellt wird,
wo es tritt ein heißen müßte; der Fehler steht übrigens nur im
Druck, nicht in der Handschrift. Ganz selten gibt der Dichter statt
des Auftretens das Resultat: das Dastehen an, was man vielleicht
neben Jene bloße Charakteristik der Bewegung wie das oben ange-
führte schleicht hinnein stellen dürfte (alle drei Belege aus dem Jahr
1556: Melusine KG. 12, S. 530; Verlorene Sohn KG. 11, S. 237;
Vier Liebhabende KG. 13, S. 196).
Endlich Fälle reiner Liederlichkeit. So gut wie der Dichter
zuweilen die besondere Erwähnung des Auftretens ganz vergessen
hat (z. B. Jeremias 1551: KG. 11, S. 5, 8, 11, 12, 13, 20; Ungleiche
Kinder Evä 1553: KG. 1, S. 58, 81 ; Magelone 1555: KG. 12, S. 479, 483;
Wilhelm v. Ostreich 1556: KG. 12, S. 503, 507; Marina 1557: KG. 20,
S. 84 ; in unserm HS. vor v. 499) und einige Male auch das Abgehen
nicht bemerkt (z. B. Wilhelm von Österreich 1556 : KG. 12, S. 520, was
freilich nur ein Versehen des Druckes ist), so wird man sich nicht
wundern, wenn er auch hin und wieder einmal (z. B. Verlorene
Sohn 1556: KG. 11, S. 227 oder, besonders auffallend Andreas 1561:
1) In der Handschrift steht übrigens ganz biihnenmäl;5ig: Die zwen trabanten losen
an der thiier kumn hinein.
Der dritte Aufgang zur Bühne. 51
KG. 12, S. 47, 91) hinsichtlich des get ein und kumpt sich hat eine
Konfusion zu schulden kommen lassen. Wie man bemerkt hat, daß
Hans Sachs ganze Dramen dichterisch liederlich gearbeitet, übers
Knie gebrochen hat, so kann auch die gelegentliche unsorgfältigere
Behandlung der szenischen Bemerkungen, die z. B. im Jeremias v. J.
1551 besonders auffällt, nicht befremden. Im ganzen ist die Zahl
solcher Ausnahmen jedenfalls relativ so gering, daß sie nur die
Existenz der Regel zu bestätigen vermögen. Vielleicht wird eine
künftige streng chronologisch vorgehende Betrachtung des Gesamt-
materials auch da noch einiges neue Licht bringen.
Ein weiteres, zunächst gewichtiges Bedenken führt wieder im
besondern zu unserm HS. zurück. Den größten Wert haben wir
überall darauf gelegt, in den szenischen Bemerkungen, soweit sie sich
auf Bewegungen beziehen, nirgends etwas rein Fingiertes zu sehen,
sondern bei allen Dingen, von denen sie sprechen, etwas auf der
Bühne zu suchen, was der Phantasie der Zuschauer wenigstens einen
Anhalt gibt. Nur ein wichtiger Punkt ist noch zurück. Im Anfang
des zweiten Aktes, da Sewfrid vom Schmied in den Wald geschickt
ist, redet er nicht nur in seinem ersten Monolog von 195 — 8 von der
Höhle, in der, wie sich bald zeigt, der erste Drache wohnt, es heißt
vielmehr hinterher, auch in der szenischen Bemerkung: Sewfrid
get, schawt ins hol. Der trach schewst heraus auf in. Wo liegt
diese Höhle, die zugleich ein Auftrittsort sein muß, da der Drache
herauskommt? An die Vordertreppe ist hier natürlich nicht zu
denken: da ist Sewfrid eben heraufgekommen, das kann also nun
nicht gleich wieder des Drachen Versteck sein. Ebenso wenig aber
kann der hintere Vorhang das hol vorstellen: da Sewfrid nach dem
Kampfe den Drachen hinter den Vorhang treibt und hier ain rawch
macht, sam verbrenn er den trachen, muß sich der Zuschauer da
freies Feld vorstellen. Es muß also ein dritter Aufgang existieren,
der als Höhle dient. Ganz ebenso aber ist es, wenn wir zunächst
von V. 394 absehen, wo die hell nur im Dialog erwähnt wird, im
vierten Akt. Ist hier auch zunächst v. 512 die Höhle des Riesen
Kuperan wieder nur im Text genannt, so lesen wir doch nach
V. 544 in der Bühnenbemerkung: Sewfrid drift den riesen wider,
der lest die Stangen fallen, lauß in die holten; aus ihr kommt er
dann vor v. 549 neugerüstet heraus; und so muß er auch schon
vor V. 499 aus ihr herausgestiegen sein, nach v. 510 in sie sich
zurückbegeben haben und vor 513 aus ihr herausgesprungen sein.
Auch hier kann die vordere Seitentreppe nicht gemeint sein:
denn von dort kumen der Zwerg und Sewfrid; aber auch nicht
der Hintervorhang, der das Gebirge vorstellt, dessen Pforten der
Riese nachher erschheßt. Auch hier heißt es wieder: die Bühne
muß noch einen dritten Aufgang gehabt haben.
Der Bhck auf andere Hans Sachsische Stücke bestätigt die
4*
52 Der dritte Aufgang zur Büline.
Notwendigkeit dieser Annahme. In der Melusine 1556 (KG. 12, S. 556)
sagt Goffrey:
. . Vnd wil mich an der glenen mein
Lassen in holen berg hinein,
und dann heißt es : Goffroy geht ab in berg. Im Daniel 1557 sind
die drei Gesellen Daniels in den feurigen Ofen geworfen, der
dabei in der Bühnenbemerkung noch nicht erwähnt wird; ein Trabant
kommt und meldet, daß das Feuer viele von Hofgesinde verzehrt
habe, und nun ordnet Hans Sachs an (KG. 11, S. 41): Der könig
steht auf, geht gegen dem ofen, sieht samb hinein vnd spricht, und
dann nach einigen Reden: Der könig schaut wider hinein, hebt
darnach sein hendt auff vnnd spricht:
Ir gottes Unecht, Hanania,
Misael vnd Asaria,
Nun kombt her auß dem fewer wider!
Sie kommen alle drey herauß, heben ir hendt auff'. Da auch
hier an die Benutzung des Vorder- und Hintereingangs nicht zu
denken ist — noch weniger natürlich an einen wirklichen Ofen,
der drei Männer beherbergen konnte und der doch auch gar nicht
auf der Bühne sein durfte, da man sonst das Verbrennen des Hof-
gesindes hätte sehen müssen, das tatsächhch nur erzählt wird --
bleibt nur übrig, einen möglichst lochartigen dritten Aufgang anzu-
nehmen, ebenso wie für die Höhle ein niederer Zugang gewiß be-
sonders erwünscht war: der mußte das Loch des Ofens vorstellen.
Im letzten Akt desselben Dramas wird Daniel in die Löwengrube
geworfen; der König spricht (KG. 11, S. 61 ff.):
Da last vns für der gruben loch
Den stein wider für richten doch . . .,
und dann folgt die Anweisung: Der könig versigelt den stein . . .
Nach einigen Reden der drei Freunde Daniels kommt der König
zurück und ruft Daniel an. Daniel schreidt in der löwen gruben
vnnd spricht, der König ordnet an, ihn zu befreien. Die trabanten
ziehen in herauß . . . blatzen die zwen fürsten ahn, füren sie hin
zur löwen gruben. Auch hier also durchaus wieder die Notwendig-
keit, neben den beiden Bühnenaufgängen einen lochartigen dritten
anzunehmen. Ganz ähnlich ist es im Bei 1559, wo die Pfaffen einen
geheimen Zugang zum Tempel Bels haben müssen, um an seiner
Stelle die ihm bestimmten Speisen zu verzehren. Hier schreibt
Hans Sachs vor (KG. 11, S. 74 f.): Die drei/ pf äffen kommen durch
das loch, essen vnnd trincken und nach 28 Versen: Sie tragen das
übrig opffer als mit vnd gehen ab durchs loch. Wieder also der
niedere dritte Aufgang. Hier aber versagt die von uns ermittelte
Räumlichkeit in der Marthakirche und damit, wie es scheint, auch
die ganze bisher vertretene Hypothese.
SaUi'isloi und Bülinc. 53
Und endlich das letzte Bedenken ge^^en sie, das schwerstwiegende,
das gewiß schon mancher Leser im Stillen der ganzen Theorie
entgegengehalten hat. Der König Signuuid mit seinen Räten und
Sewfrid verlassen nach dem ersten Bild (v. 123) die Bühne, indem
sie die Seitentreppe hinab und durch die Sakrisleitür gehen: der
Königssohn zieht in die Fremde, und die andern geben ihm das
Geleit, Im nächsten Bild, in der Schmiede, muß Sewfrid eiiu/en,
d. h. hinten aus dem Altarraum kommen. Wie aber ist er von der
Sakristei dorthin gelangt? Die einzige Sakristeitür ist ja die, die
ins Schiff der Kirche führt. Nach v. 185 hat er die Bühne Jeden-
falls hinten verlassen, vor v. 193 tritt er von vorn wieder auf, —
die gleiche Frage. Nach v. 226 ist er wohl hinten abgegangen: vor
231 kiimpt er. Nach v. 345 verläßt Sewfrid die Bühne sicherlich
hinten: in der gleichen Richtung, in der der Drache mit Crimhilt
verschwunden ist; vor v. 396 muß er sie vorn wieder betreten.
Sewfrid samt Crimhilt und dem Zwerg gehen v. 748 hinten ab,
da der Drachenstein nur diesen einen Aufgang hat, vor v. 758 und
772 erscheinen sie über die Vordertreppe. Sewfrid verschwindet
vor V. 903 hinten und kommt vor v. 939 vorn wieder zum Vorschein.
Und so fort bis zum Ende. Auch mit der Annahme, daß die Akt-
pausen benutzt seien, um über die Bühne weg die nötigen Wege
zu bewerkstelligen, wird man sich nicht helfen können, ganz ab-
gesehen von der entsetzlichen Illusionsstörung, die auf solche Art
herbeigeführt würde : auch innerhalb der Akte tritt jene Notwendig-
keit, aus dem Altarraum in die Sakristei zu gelangen, im HS. wie
in Hans Sachsens sonstigen Dramen oft genug hervor.
So bleibt, um jene sonst so lockende Hypothesenkette zu retten,
nur ein Mittel übrig: noch eine neue Hypothese aufzustellen. Sie
lautet: Die jetzt vorhandene Tür i n s S c h i f f w a r ni ch t
immer der einzige Eingang der Sakristei, in Hans
Sachsens Zeit muß vielmehr auch noch eine Tür
aus der Sakristei direkt in den Altarraum geführt haben.
Für ihre Berechtigung kann man eine Tatsache anführen, die mit
den Meistersingeraufführungen nichts zu schaffen hat, sondern ledig-
lich in den architektonischen Verhältnissen, im Wesen des Kirchen-
baus begründet ist. Diese hypothetische Tür ist für den katholi-
schen Gottesdienst, für den doch die Marthakirche im Mittelalter
erbaut war, fast unentbehrlich und läßt sich in andern Kirchen
fast immer nachweisen. Der Geistliche legt in der Sakristei die
Meßgewänder an, ehe er an den Altar tritt; hier in der Sakristei
werden die Dinge verwahrt, die für den Altardienst nötig sind, von
hier aus werden sie durch die Chorknaben an die heilige Stätte
gebracht. Sollte man damit immer erst durch das Schiff an der
Kanzel vorbei in den Altarraum gegangen sein, auf einem weiten
Umwege also? Liegt es da nicht viel näher anzunehmen, daß an
54 Die zweite Sakcisteitür als Höhle, Ofen, Grab, Fluß.
der linken Sakristeiwand ursprünglich eine zweite Tür sich befun-
den hat, durch die man unmittelbar in den Altarraum gelangte, daß
diese zweite Tür später, als man ihrer nicht mehr benötigte, aus
irgend welchen Gründen vermauert wurde, daß sie aber zu Hans
Sachsens Zeiten noch vorhanden gewesen ist?
Mit der Annahme dieser Tür gelangen wir auf das Vortreff-
lichste aus allen Schwierigkeiten zur schönsten Klärung. Nicht
nur, daß die Verbindung zwischen Vorder- und und Hinteraufgang
auf solche Weise hergestellt ist, diese Altarraumtür liefert uns zu
gleicher Zeit auch den dritten Eingang zur Bühne, der sich uns
ganz zuletzt noch als unentbehrlich erwiesen hat. Wir brauchen
nur anzunehmen, daß der Hintervorhang, über dessen Situation wir
bisher noch zu keiner festen Anschauung gekommen waren, so
angebracht war, daß er die Öffnung der Altarraumtür in zwei
Teile teilte. Durch die Hälfte, die hinter dem Vorhang lag, ging
der Schauspieler, wenn er hinten die Bühne verlassen hatte und
nun vorn wieder auftreten sollte. In der andern Hälfte führte eine
für die Vorstellung angebrachte schmale Holztreppe zum Bühnenpo-
dium empor. Dadurch aber, daß von dieser halben Türöffnung
durch das Podium der untere Teil bedeckt war, sah der obere, von
der Bühne aus zugängliche Teil vom Zuschauerraum wie ein Loch
aus. Er war also äußerst geeignet, die Höhle zu repräsentieren,
aus der vor v. 199 der erste Drache auf Sewfrid herausschießt
und in der dann später Kuperon wohnt: vielleicht hat hier hinein
nach V. 395 auch die gefangene Crimhilt schlewffen müssen. Hier
war der Berg, in den Goffroy sich an seiner Glennen hinab-
ließ, hier der feurige Ofen, dem die drei Männner entsteigen, hier
das Grubenloch, in das Daniel mit den Löwen geworfen wird, hier
das Loch, durch das die Baalspriester zum heimlichen Schmause
steigen. Auch als Lazarus' Grab (Lazarus 1551 : KG. 11, S. 251 — 2),
als Feuer, in dem der Marschall brennen muß (Galmi 1552: KG. 8,
S. 293) und als Gefängnis (z. B. Beritola 1559: KG. 16, S. 123 ff.)
konnte diese Altarraumtür vortrefflich dienen. Im Josua 1556 (KG.
10, S. 104 f.) ist eine zunächst nicht darstellbar scheinende Szene.
Josua hat prophezeit, das Volk werde trockenen Fußes durch den
Jordan gehen, und das wird tatsächlich vorgeführt: Das volck
zeucht nach, gehn ein mal herum b, die priester stehn still
Josua, der fürst, spricht:
Nun get hinüber allesam
Mit trucknem fuß in Gottes nam!
Vnd eiver zwölff auß der gemain
Hebt auß dem Jordan auff zwölff stain! . .
Sie gehn alle in Ordnung durch, haben stain auff ihren achseln.
Josua spricht:
Die zweite Sakristeitür. - 55
//■ priester, min trettet heraiiff
Aiiß dem Jordan, der min sein lau ff'. . .
Die priester steigen heraiiff
Wie wird das gemacht? durch was ziehen sie hindurch? von
wo ziehen sie herauf? Unser jetziges Bühnenbild erklärt uns alles:
Sie gehn durch das heißt: durch die Sakristei, in Ordnung, das
heißt im Gänsemarsch, wie bei der Schlußrevue, die Priester voran.
So entschwinden sie dem Blick des Zuschauers, für seine Phanta-
sie sind sie nun im Bett des Jordans. Josua ist auf der Bühne
zurückgeblieben und ruft nun : steigt herauf ! Und die beiden vor-
dersten, die Priester kommen durch die Altarraumtür, allmählich
emportauchend, als ob sie wirklich aus dem Flußbett wieder her-
aufstiegen. Dieses Bühnenbild beseitigt tatsächlich sämtliche
Schwierigkeiten.
Aber noch ist diese letzte Annahme, die alles lösen kann, auch
nur Hypothese. Von der Realität dieser letzten Hypothese hängt
die Realität der ganzen Hypothesenreihe ab, die uns allmählich er-
wachsen ist. Eine Raumfrage ist es, die den letzten Ausschlag gibt :
hat diese Altarraumtür existiert?
Um diese Frage zu beantworten, wandte ich mich — tatsächlich
erst, als die Untersuchung so weit gediehen war, wie sie hier vor-
getragen ist — an die zuständige Behörde, das Städtische Bauamt
in Nürnberg, unter Einsendung eines Grundrisses, auf dem ich die
hypothetische Tür vermutungsweise zwischen den Pfeilern B und C
rot angedeutet hatte. Unterm 16. Juli 1902 erhielt ich folgende, von
Herrn Oberbaurat C.Weber unterzeichnete amtliche Auskunft');
„Ihre geschätzte Anfrage vom 13. ds. Mts. die Sakristei der hie-
sigen Marthakirche betr., bin ich nach Augenscheinnahme durch
Herrn Oberingenieur Wallraff in der Lage, wie folgt zu beantworten :
Die Sakristei hatte, wie Sie richtig vermuten, früher einen
zweiten Eingang zum Altarraum der Kirche, nur befand sich der-
selbe nicht an der von Ihnen mit Rotstift bezeichneten Stelle, sondern
im danebenliegenden Bogenfeld (wie im Grundriß blau angedeutet)-).
Die Stelle ist in der Sakristei noch genau ersichtlich; die Sakristei-
wand ist nebenstehend skizziert. Aber auch in dem Altarraum ist
noch ein untrügliches Merkmal der ehemaligen Tür in der fehlenden
unteren Spitze des Nischenbogens erkenntlich."
Und mit dieser Ermittlung sind wir wohl aus dem Bereich der
Hypothesen auf den festen Boden der Gewißheit getreten. Auch
über die Größe des Schauplatzes sind wir nun genau unterrichtet,
nun uns auch über die Situation des Vorhangs kein Zweifel mehr
1) Den beteiligten Herren sag ich auch an dieser Stelle für ihre große Güte meinen
herzlichsten Dank.
2) D. h. zwischen A und B.
56
Die ganze Bühne.
bestehen kann: da er die zwischen A und B befindliche Altarraum-
tür halbieren mußte, war er 2,2 m vom Schiff entfernt. Die Breite
der Hinterbühne 6 m, die der Vorderbühne 12 m, der Flächenin-
halt der ganzen Bühne ca. 28 qm. Und kaum ein Schritt, den Hans
Sachsens Schauspieler auf diesem Schauplatz taten, den wir nicht zu
kontrollieren vermöchten. Die Bühne der Nürnberger Meistersinger
ist rekonstruiert.
Abb. 5. Grundriß der Meistersingerbühne in der Marthakircbe.
Zweites Kapitel:
Dekorationen, Requisiten, Kostüme.
Dekorationen.
Wenn wir uns nun zu der Beantwortung der Frage wenden,
ob für die Darstellung des Hürnen Sewfrid Dekorationen benutzt
worden sind, muß von vornherein betont werden, daß es sich dabei
nur um Dekorationen im modernen Sinne handeln kann: nicht um
eine plastische Nachbildung des Schauplatzes und seiner einzelnen
Teile, sondern um eine Täuschung der Zuschauer, die mit maleri-
schen Mitteln das Bild jener plastischen Verhältnisse vorzuspiegeln
versucht. So unterscheiden sich die Dekorationen von den Requi-
siten, bei denen die drei Dimensionen beibehalten zu sein pflegen.
In solchem Sinne kannte das Mittelalter mit seiner Marktbühne ei-
gentlich nur Requisiten : hier waren die Häuser usw. wirkhch plastisch
aufgebaut. Davon kann auf der so außerordentlich kleinen Meister-
singerbühne natürlich nicht mehr die Rede sein : die Einführung
plastischer Gegenstände mußte hier auf Requisiten im modernen
Sinne beschränkt bleiben, auf bewegliche Dinge also, die von den
an der Handlung teilnehmenden Menschen im Zusammenhang mit
ihr irgendwie benutzt werden. Natürlich ist auch nach dieser Unter-
scheidung die Grenze zwischen Dekoration und Requisit nicht immer
haarscharf zu ziehen, insofern als auch ein Requisit geringeren Um-
fangs als Dekorationsstück, lediglich zur Charakteristik des Ortes
dienen kann. Zunächst aber hat der folgende Abschnitt die eigent-
lichen Dekorationen im Auge.
Wieder untersuchen wir zunächst die lokalen Verhältnisse,
d. h. wir fragen uns : inwiefern ist auf dem von uns nun genau
abgegrenzten Bühnenraum die Anbringung von Dekorationen möglich.
Hier wird aber zunächst eine Vorfrage zu beantworten sein; sie
bezieht sich auf ein theatralisches Hilfsmittel, das man weder zu
den Dekorationen noch zu den Requisiten zählen kann, das aber
für ihre Verwertung von der größten Bedeutung ist: auf den
Theater Vorhang.
Hat die Meistersingerbühne einen Vorhang besessen? Es leuchtet
ein, daß, wenn das nicht der Fall war, die Verw^ertung von Deko-
rationen in einem den modernen Ansprüchen irgendwie genügen-
58 Theatei'vorhang? Abtragen der Toten.
den Sinne von vornherein kaum möglicli gewesen ist: der fort-
währende Dekorationswechsel, den Hans Sachsens Drama verlangen
wih'de, ist ohne die Möglichkeit, ihn dem Blick der Zuschauer zu
entziehen, technisch kaum denkbar.
Schon die Lage der Bühne aber macht das Vorhandensein
eines Vorhangs recht unwahrscheinlich. Wie wir sahen, reichte der
Schauplatz weit ins Schiff hinein und auch rechts und links über
die Breite des Altarraums hinaus. Man hätte also unten im Schiff
hohe und starke Pfähle errichten und zwischen ihnen einen 12
Meter breiten Vorhang anbringen müssen; die Bewältigung der
technischen Schwierigkeiten dieses Baus hätte doch den Übelstand
nicht beseitigt, daß an der rechten und der linken Seite die Bühne
ungedeckt blieb. Dagegen wäre es technisch wohl angegangen, auf
die Verhüllung der Vorderbühne zu verzichten und nur die Hinter-
bühne beim Szenenwechsel zu verdecken: durch einen Vorhang,
der sich durch die Öffnung der Altarnische breitete. Von vorn-
herein würde dadurch die Anbringung von Dekorationen in einem
auch nur annähernd modernen Sinn auf die hintere Abteilung der
Bühne beschränkt geblieben sein.
Es hat überhaupt schwerlich ein solcher Vorhang existiert : das
sehen wir, wenn wir nun auch Hans Sachsens Dramen heranziehen.
Den Beweis liefern die nicht seltenen Vorschriften, die sich auf das
Abtragen der Toten beziehen. Hätte das Theater einen Vorhang zur
Verfügung gehabt, so hätten die Schauspieler, die sich in ihrer
Rolle am Schluß eines Aktes hatten umbringen lassen, in der Zwischen-
pause hinter dem deckenden Vorhang die Bühne verlassen können.
So aber geht es nicht zu. Im HS. heißt es nach v. 1106, nachdem
Crimhilt ihre Klagerede an Sewfrids Leiche gehalten hat : Sie tragen
den dotten ab, die kiingin get trawrig hinach; für diese Fort-
schaffung ist außer dem Herold auch noch ein sonst gänzlich un-
beschäftigter jeger eingeführt, der schon vor v. 1074 mit aufgetre-
ten ist. Immerhin gliedert sich hier dieses Forttragen der Leiche
mit einer gewissen Feierlichkeit der Handlung ein; ferner hätte ein
Fallenlassen des Vorhangs vor dem Epilog vielleicht einen zu starken
Einschnitt herbeigeführt. Aber in andern Dramen der gleichen
Zeit wird es ganz deutlich. So im Hugschapler 1556, wo es (KG. 13,
S. 17) am Schluß des zweiten Aktes heißt: Man tregt den todten
ab (allerdings ist vorher im Dialog darauf hingewiesen); ferner bei
einem Schauplatzwechsel im ersten Akt (S. 7): Hugschapler kämpft
mit dem Ritter und seinen Knechten, schlecht den ritter nider, die
knecht fliehen, er spricht noch einen Monolog und get allein ab
(nach Frißland). Die knecht klimmen, tragen den ritter ab. König
Hiigwan geht ein — wir befinden uns nicht mehr im Hennegau,
sondern in Friesland. Hätte der Dichter dazwischen den Vorhang
fallen lassen können, würde er gewiß die Rückkehr der Knechte
Abtragen der Toten. - 59
nicht eingeführt haben. Genau die gleiche Situation wiederholt
sich im dritten Akt (S. 21). Vgl. z. B. ferner Arethaphila 1556 (KG.
13, S. 160), wo am Schluß des dritten Aktes die Trabanten nur
kommen, um ohne weitere Rede den erschlagenen Tyrannen ab-
zutragen; Cyrus 1557 (KG. 13, S. 326) am Schluß des sechsten Ak-
tes; Pontus 1558 (KG. 13, S. 411) am Schluß des fünften usw. Im
Alexander Magnus 1558 (KG. 13, S. 488) besorgen das Abtragen des
toten Nectanabus zwei Trabanten, die sonst die Bühne überhaupt
nicht betreten : gewiß hätte der Dichter das so schon bedenklich
große Personal dieses Dramas nicht noch um zwei Statisten vermehrt,
wenn er den Vorhang zur Verfügung gehabt hätte. Gegenüber der
überwältigenden Majorität von Anordnungen solcher Art kommt es
gewiß nicht in Betracht, wenn einmal die Angabe fehlt: in den
Vier Liebhabenden 1556 (KG. 13, S. 205) bringt Gabriotto den bösen
Schalksnarren am Schluß des sechsten Aktes um, die szenische An-
weisung aber sagt nur: Er geht eilendt ab; offenbar handelt es
sich nur um Vergeßlichkeit: gleich im nächsten Akt (S. 207) stirbt
Gabriotto; sein Knecht Anthoni, der allein mit ihm auf der Szene
ist, ruft nach einigen Worten der Klage : Helfft mir mein ritter tragen
ab, Das man auff herlichst ihn begrab, und dann heißt es in der
szenischen Bemerkung: Man tregt den todten ritter ab, das heißt
doch: auf Anthonis Ruf ist von hinten jemand herbeigekommen,
der ihm nun hilft, den Leichnam wegzubringen. All das wäre nicht
nötig gewesen, wenn ein Vorhang vorhanden gewesen wäre.
Ein Vorhang war nicht vorhanden oder allenfalls nur ein Vor-
hang, der den hinteren Teil der Bühne zudecken konnte. Die Kon-
sequenz für die Dekorationsfrage ist die: es sind keine Dekorationen
gewechselt worden oder doch nur auf der Hinterbühne, wo der Aus-
tausch entweder unter dem Schutz des nicht ganz unmöglichen
Altarraumsvorhangs oder von hinten aus erfolgte, ohne daß die
dabei tätigen Arbeiter dem Publikum sichtbar wurden : durch einen
Wechsel des hinten die Bühne abschließenden Vorhangs, der Deko-
rationscharakter gehabt haben könnte, oder durch ein Hineinschieben
von stehenden Dekorationsstücken auf den hintersten Teil der Bühne,
soweit das durch den Mittelspalt des Abschlußvorhangs oder allen-
falls auch durch die Altarraumtiu' sich vornehmen ließ. Denn daß
der spielleitende Dichter seinem Publikum nicht zumutete, sich fort-
w^ährend den Anblick nicht an der Handlung beteiligter Personen
gefallen zu lassen, die etwa Bäume und Felsen herausstellten und
nach wenigen Versen wieder forträumten, zeigt die bei der eben-
falls lokal bedingten Fortschaffung der Toten geübte Kunst, die Illu-
sion zu wahren oder doch nicht gar zu gröblich zu stören; ein
entschiedener Fortschritt übrigens gegenüber der primitiveren Art
der vierziger Jahre: in der Handschrift der Sechs Kämpfer heißt
es noch an der Stelle, wo im späteren Druck das Abtragen der
60 Die Raumverhältnisse. Möglichkeit einer Hinterdekoration.
Leichen vorgeschrieben ist (KG. 8, S. 21 ZI. 8) : Auch schleichn alle
dottn darfon.
Aber auch die Betrachtung der Bühne selber und der dort für
die Anbringung von Delvorationen zur Verfügung stehenden Raum-
verhältnisse führt zu einem ähnhchen Ergebnis. Die Hinter-
bühne ist jedenfalls zu klein, als daß sie durch die Aufstellung
irgend einer Seitendekoration im Sinne der heutigen Kuhssen noch
verengert werden dürfte, höchstens für ein kleines Kuhssenstück
wäre dort Platz. Zudem steht links der Stuhl, und rechts ist der
Höhleneingang: die Wände können also nicht bedeckt werden.
Auf der Vorderbühne sind die Wandstücke rechts und links vom
Altarraum durch die Nebenaltäre in Anspruch genommen gewesen
und kommen daher für die Anbringung von Dekorationen nicht in
Betracht; von den freistehenden Seitenflächen des Podiums diente
die rechte als Aufgang von der Sakristeitiu' her, und so wird man
wohl auch die linke schwerlich für die Aufstellung einer Dekoration
verwertet haben. Der einzige Platz, an dem der Raum die unge-
zwungene Möglichkeit eine Dekoration anzubringen und zu wechseln
geboten hätte, wäre der hintere Abschluß.
Die letzte Frage dem Raum gegenüber wäre endlich die : welches
Bild bietet er dem Auge, welche Anknüpfungspunkte der Illusions-
fähigkeit?
Die von uns rekonstruierte Bühne zerfällt in dieser Hinsicht
offenbar in zwei grundverschiedene Teile : die hintere Abteilung,
die in den Altarraum fällt, bietet dem Auge den Anblick eines ge-
schlossenen Innenraums, der auf drei Seiten von Wänden umgeben,
der mit Fenstern versehen ist und wenigstens einen Stuhl als Haus-
rat aufweist. Ganz anders der vordere Teil des Podiums, der un-
abgeschlossen in die Kirche hineinragt: er kann entweder als eine
bloße Ergänzung jenes Innenraums erfaßt werden, oder aber er hat
einen völlig neutralen Charakter, er regt zunächst durch nichts die
Phantasie zur Ergänzung in irgend einer Hinsicht an und kann in-
sofern besonders dazu verwendet werden, die Einbildungskraft des
Zuschauers in verschiedener Weise zu beschäftigen. Vor allem ist
er geeignet, im Gegensatz zu jenem Innenraum ein Stück der freien
Natur vorzustellen, dem sich dann umgekehrt die hintere Fort-
setzung als indifferenter Abschluß beizuordnen hätte.
So wird es von vornherein wahrscheinlich, daß für diejenigen
Szenen, die im Saal oder Zimmer spielen sollen, unverwöhnten Zu-
schauern gegenüber eine besondere Hinterdekoration kaum erforder-
lich gewesen ist ; dagegen bleibt die Frage zunächst offen, in welcher
Weise Hans Sachs umgekehrt dafür gesorgt hat, seine Zuschauer
in die freie Natur: in den Garten, den Wald, das Gebirge oder auf
die Straße zu führen. Hier würde ein Wechsel in der Ausstattung
des hinteren Vorhangs jedenfalls besonders geeignet gewesen sein,
Dekorationsinaterial : Teppiche. 61
die Phantasie der Zuschauer aus dem Innenraum, den sie zunächst
vor sich sahen, heraus und in die von der betreffenden Situation
erforderte Landschaft zu führen.
Die Anbringung von drei oder vier Vorliängen hintereinander
hätte gewiß den Nürnberger Tapezierern keine sonderhche Schwierig-
keit bereitet, und der Szenenwechsel wäre auf solche Weise auch
innerhalb eines Aktes beliebig oft im Nu zu vollziehen gewesen.
Es fragt sich nur: in wie weit war das Theater des 16. Jahrhunderts
und im besondern diese Bühne der Nürnberger Handwerker im-
stande, eine dekorativ wirkende Darstellung auf einem als Vorhang
benutzbaren Stoff zu geben?
p]rhalten hat sich nichts derart, aber das würde an sich noch
nichts gegen die einstige Existenz solcher Dekorationen beweisen:
denn abgesehen von einigen Teufelsmasken, die hier und da auf-
getaucht sind'), scheinen überhaupt keine Theateraltertümer aus
so früher Zeit auf uns gekommen zu sein, oder es ist bisher noch
kein Stück in solchem Sinne rekognosziert worden.
Zunächst läge es vielleicht am nächsten daran zu denken, daf5
man, um als den Ort der Handlung eine Landschaft anzudeuten,
Teppiche verwendet habe. Die deutsche Teppichindustrie hat bis
zum 16. Jahrhundert auf einer sonderlichen Höhe nicht gestanden und
ist jedenfalls von dem Glanz der französischen und namentlich der
flandrischen Konkurrenz so sehr verdunkelt worden, daß man bis
vor kurzem an die Möglichkeit einer Geschichte der Teppichkunst
in Deutschland vor der Mitte des 16. Jahrhunderts überhaupt nicht
dachte-). Immerhin sehen wir jetzt wenigstens, daß es, von den
gestickten Teppichen ganz abgesehen, auch an Teppichwirkern in
Deutschland nicht völlig fehlte: in Nürnberg selbst haben z. B. die
Klosterfrauen von St. Katharina sich auf diesem Gebiet schon im
15. Jahrhundert ausgezeichnet^). Doch bleibt es bei vereinzelten
Leistungen: noch 1495 lassen sich die Holzschuher einen Grab-
teppich in Brüssel herstellen^). Im 16. Jahrhundert sind Teppich-
weber aus Flandern, auch ein Mailänder Meister in Nürnberg an-
sässig gewesen. Zu der Höhe der ausländischen Leistungen aber
stieg die deutsche Industrie zum ersten Male gerade zu der Zeit
empor, von der wir hier reden : um die Mitte des 16. Jahrhunderts,
1) Vgl. den Fach-Katalog der Internationalen Ansstellung für Musik und Theater-
wesen. Wien 1892. Abteilung für deutsches Drama und Theater. S. 13.
2) Den ersten Versuch, eine solche Geschichte zu skizzieren, bildet das Werk von
E. Müntz, Histoire de la tapisserie en Italie, Allemagne etc. Paris 1878 ff. Notizen über
Teppiche des 14. und 15. Jahrh. bei Alwin Schultz. S. 91 f. Vortreffliches Material mit
fachwissenschaftlicher Erklärung bietet jetzt der ausgezeichnete Katalog der Gewebesamra-
lung des Germanischen Museums m Nürnberg. 1. Nürnberg 1896.
r?.! 3) Vgl. über Teppichwirkerinnen in Basel: Moritz Heyne, Das deutsche Wohnungs-
wesen, Leipzig 1899. S. 248.
4) Nr. 679 des Germanischen Museums. Vgl. den o. a. Katalog, bes. auch S. 115 f.
62 Teppichwirkerei. Dekorationsmalerei.
und die erste Blütestätte liegt Nürnberg gar nicht so fern: es ist
die Wandteppichfabrik des Wittelsbachischen Fürstenhauses, die
vielleicht in Lauingen gestanden hat'). Eine ihrer herrlichsten Lei-
stungen wird zu Nürnberg im Germanischen Museum bewahrt: der
große Teppich, der die Geschichte der Susanna darstellt-). Ein um-
fangreiches Stück dieses Teppichs zeigt uns Susannens Garten ohne
Figuren und würde mit seiner unvergleichlichen Leuchtkraft w^ohl
geeignet gewesen sein, als Hintervorhang auf Hans Sachsens Bühne
ausgespannt, in den Zuschauern die Illusion zu erwecken, daß sie
sich nun in einem prächtigen Garten befänden. Indessen erscheint
es fast ausgeschlossen, daß Hans Sachs in solchem Sinne dekora-
tiv geeignete Teppiche zu seiner Verfügung gehabt hat; denn so
weit wir urteilen können, hat diese Teppichindustrie, zumal im
16. Jahrhundert, wo die Wandteppiche immer mehr und mehr an die
Stelle der Wandmalereien traten, auf der einen Seite nur Teppiche
mit menschlichen Gestalten, mit Szenen aus der heiligen Geschichte,
aus der Sage, der Dichtung und dem Alltagsleben hergestellt, auf
denen nur als Hintergrund Landschaftsdarstellungen sich fanden,
auf der andern Seite rein ornamentale Stücke geliefert : mit Mustern,
in denen wohl Pflanzen aller Art verwendet wurden, die aber irgend
welche theatralische Illusionskraft nicht besessen hätten ; eine rein
naturalistische Garten- oder Walddarstellung auf einem Teppich
dieser Zeit scheint nicht bekannt zu sein. Es kommt dazu, daß
die Kostbarkeit dieses Materials seine Verwendung auf der Meister-
singerbühne wohl so ziemlich ausschloß, zumal man mit Rücksicht
auf die Größenverhältnisse des Altarraums rücksichtslos hätte ab-
schneiden müssen. Und daß unter den Handwerkern der Meister-
singer sich Teppichwirker befunden hätten, die imstande gewesen
wären, direkt für die Aufführung das erforderliche Material herzu-
stellen, ist, wenn wir den oben erörterten damaligen Zustand der
ganzen Kunst in Deutschland bedenken, höchst unwahrscheinlich*).
Es bliebe die zweite Möglichkeit: daß man imstande gewesen
wäre, auf Leinwand perspektivische Dekorationsmalerei im
heutigen Sinne auszuführen. Von der Geschichte solcher Deko-
rationsmalkunst ist noch viel weniger bekannt als von der Ge-
schichte der Teppichwebekunst, nämlich eigentlich gar nichts, und
wenn wir auf eigene Faust etwas darüber ermitteln wollen, so
müssen wir uns schon an die Personalunion halten, die zwischen
1) Vgl. Manfred Mayer, Geschichte der Wandteppichfabriken des Wittelsbachischen
Fürstenhauses. München 1892.
2) Ein Stück davon ist abgebildet bei J. Lessing, Wandteppiche und Decken des
Mittelalters in Deutschland. 1. Lieferung. 1902.
3) Bei Th. Hampe, Nürnberger Ratserlässe über Kunst und Künstler (Wien und
Leii)zig 1904) sind denn auch vor dem Ausgang des 17. Jahrh. einheimische Teppichwirker
nicht zu finden.
Dekorationen für Festlichkeiten. ' 63
solchen hypothetischen Dekorationsmalern und den Künstlern be-
standen haben mag, die für öffentliche Feierlichkeiten, z.umal für
Fürsteneinzüge in den großen Städten die . dekorativen Schaustücke
zuzurüsten hatten'). Das Stammland der Dekorationskunst für
festliche Einzüge ist Italien. Hier hatte man im 15. Jahrhundert
in den großen Städten, wenn man den Papst oder einen weltlichen
Fürsten bewillkommnen wollte, Triumphbogen errichtet, an denen
die Hauptarbeit wohl noch der Zimmermann getan hatte, während
sich die Arbeit des Malers auf den Ausputz des Bogens in bunten
Farben, zumal mit gemalten grimen und mit Blumen verzierten
Girlanden und mit gemalten lebensgroßen Figuren beschränkte.
Im 16. Jahrhundert änderte sich der Geschmack; dem Maler fiel
nun die Aufgabe zu, durch perspektivische Dekorationsmalerei
dem rohen Bau erst das Ansehen eines komplizierten architektoni-
schen Kunstwerks zu geben ; im Jahre 1565 schildert Borghini das
Ideal eines solchen Triumphbogens folgendermaßen: „Das einzig
Wahre ist Holz und gemalte Leinwand in Gestalt von Bogen, Fa-
^aden und andern Baulichkeiten; das Grün und die Teppiche
mögen allenfalls passen bei scherzhaften Anlässen oder auch an
Kirchenfesten"'). In Deutschland und im besondern auch in Nürn-
berg war man zu Hans Sachsens Zeit bis zu diesem reinen Ideal
architektonischer Malerei noch nicht vorgedrungen, sondern hielt
noch an dem Grün und den Girlanden fest; anderseits aber, da
man z. B. beim Empfange Karls V. direkt mit den italienischen
Städten konkurrieren mußte ■^j, durfte man jene neumodische Art
auch nicht außer acht lassen, und so entstand ein Kompromiß
zwischen beiden Kunstrichtungen. Der beste Zeuge für diese Ma-
nier der Dekorationsmalerei in Nürnberg ist Hans Sachs selbst, der
uns in einem Gedicht vom 10. März 1541 den feierlichen Einzug,
den Karl V. am 16. Februar des gleichen Jahres in Nürnberg ge-
halten hatte, beschreibt und unter anderem Folgendes berichtet
(KG. 2, S. 381 f.):
Zehen gar köstlich trhimph-bogen
Wurden über die gassen zogen . . .
Sehr lustig zu sehen von weijten.
Da ward auß grünem gwechs her glantzen
1) In Deutschland vermag ich eine solche Personalunion allerdings nicht nachzu-
weisen, wohl aber in Frankreich, wo in Romans in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
der Maler Thevenot sowohl für die Ausstattung der Mysterien wie für die Errichtung von
Triumphbogen und dergleichen tätig war: vgl. Le mystere des trois doms, ed. Giraud
et Chevalier. Lyon 1887 p. XLVIff.
2) Lettere pittoriche I, 56; vgl. Burckhardt, Geschichte der Renaissance in Italien.
3. Aufl. 1891. S. 353.
8) Der Nürnberger Christoph Scheurl hat z. B. eine Schrift über einen derartigen
Empfang des Kaisers in Bologna verfaßt.
64 Dekorationen für Festlichkeiten.
Granat-öpffel und pomerantzen,
Melaiin, ciicumeri vnd feygen,
Kiirbiß vnd ander frücht, so eygen
Vnnd so löblich abconterfect ...
und dann weiterhin von einer andern Ehrenpforte:
Zierlich bekleijdet hin und her,
Als ob sie merbelstaijnen wer,
Mit welsch columnen vnd capteln
Mit schön gesimsen und hol-keln^).
Daß es sich dabei um Dekorationsmalerei auf Leinwand handelte,
zeigt auch die Schilderung, die Hans Sachs von einem bei Gelegen-
heit eines Nürnberger Siegesfestes vom Jahre 1535 errichteten künst-
lichen Schlosses entwirft (KG. 2, S. 396):
Da sah ich auffgerichtet ston
Artlich gemacht von tuch und blechern
Ein hohes schloß mit viel schießlöchern . . .
Nach dem das fewerwerck verschoß,
Zünd man an das gemachte schloß,
Das brau, als wer es lawter stro.
Aus alledem ergibt sich, daß zur Zeit der Meistersingeraufführungen
auch in Nürnberg eine Dekorationsmalkunst bestanden hat, die
wohl der Aufgabe gewachsen gewesen wäre, jene Hintervorhänge
der Marthakirchenbühne mit Bäumen, Felsen und dergleichen zu
bemalen. Es fragt sich nur weiter, ob wir irgend welchen Anhalt
dafür haben, daß diese im Dienst der öffentlichen Feste ausgebil-
dete Kunst nun tatsächlich auch für Theaterzwecke im modernen
Sinne in Anspruch genommen wurde.
Unsere Untersuchung der Dramenillustrationen im zweiten Teil
dieses Buches hat in bezug auf den hier zu behandelnden Punkt ein
völlig negatives Ergebnis: einerseits werden wir vielmehr auf die Ver-
wendung des unbemalten Hintervorhangs geführt, anderseits zeigt
die Darstellung der Hölle auf den Schweizer Bildern durchaus die mittel-
alterliche Art, in der es sich noch um Plastik, nicht um perspek-
tivische Malerei, nicht um Dekorationen, sondern eigentlich um Requi-
siten handelt. Die zahlreichen Notizen, die uns über die Inszenierung
der Luzerner Aufführungen des sechzehnten Jahrhunderts erhalten
sind, geben gerade über die technische Herstellung der Bühnenausstat-
tung nichts an ; kein Zweifel aber, daß es sich auch hier noch um
plastische Häuser der mittelalterlichen Art gehandelt hat, bei denen
der Zimmermann die Hauptarbeit zu leisten hatte; gehört doch auch
1) DatJ diese Manier andi sonst nnd auch noch in der Zeit der Aufführung des HS.
hei-rscliend war, zeigt z. B. das Flugblatt, das über den Einzug Ferdinands I. in Prag 1558
berit^htet. Vgl. auch Hans Sachsens Scliilderung des Einzugs Ferdinands in Nürnberg vom
7. Febr. 1540 (KG. 16, S. 427).
Theaterdekorationen in Italien und Deutscliland. 65
noch im Jahre 1597 dem Ausschuß der Ratsbaumeister, aber kein
Maler ani). So ist also von solcher Bühneneinrichtung her für die
Nürnberger Dekorationsfrage nichts zu lernen. Im Ausland, in Ita-
lien war man um diese Zeit allerdings längst bei der perspektivi-
schen Dekorationsmalerei angelangt, und berühmte Meister wie
Peruzzi und Serlio hatten sich diesem Kunstzweige gewidmet, ja
Raphael selbst hatte es gelegentlich nicht verschmäht, sich auch
auf diesem Gebiete zu betätigen-). Alle diese Dekorationen aber
sind von der Art, daß sie als Vorbild für die Meistersingerbühne
unmöglich hätten dienen können; denn für Szenenwechsel sind
sie nicht berechnet, eine Dekoration muß vielmehr für das ganze
Stück ausreichen, ist mehr Schmuck als Phantasieunterstützung und
ist im Sinne der antiken Scheidung von Tragödie, Komödie und
Satyrspiel gehalten. Die Kunst, Verwandlungen vorzunehmen, kom.mt
dann erst spät in der zweiten Hälfte des, 16. Jahrhunderts in Italien
auf. Aber angenommen, selbst schon zu Hans Sachsens Zeit hätte
man dort über sie verfügt, so konnte doch von diesen neuesten
Errungenschaften der italienischen Bühne schwerlich damals bereits
etwas bis nach Nürnberg gedrungen sein, da höchstens ein paar
ganz untergeordnete italienische Komödianten sich so weit nord-
wärts verirrten und da auch die italienische Theaterkunst am
Mlmchener Hofe ihre Blüte noch nicht erlebt hatte.
Von allen diesen Seiten her kommen wir also an die Möglich-
keit einer Verwendung jener Festdekorationsmalerei für theatralische
Zwecke noch nicht heran. Aber nachweisen läßt sie sich doch, und
dazu verhilft uns ein bisher von derLiteraturgeschichte noch wenig •^)
beachtetes deutsches Drama eines sächsischen Schulmeisters. Im
Jahre 1546 erschien die Historia Jobs auffs kürtzt Spiels weise
in Reim verfasset, den betrübten und angefochtenen Hertzen gar
trostlich, Sunsten jeden Christen fast nützlich zu Lesen. Durch Jo-
han Narhamer, Curiensem. Curiensem, das heißt: aus Hof. Von
Geburt ist es also ein Landsmann Hans Sachsens, der dieses
Drama verfaßt hat; sein Wirkungskreis aber ist die Stadt Pulsnitz,
nordöstlich von Dresden, und zur Aufführung durch die Pulsnitzer
Bürgerschaft ist, wie der Verfasser in der Vorrede berichtet, das
Schauspiel bestimmt. Es ist reich an szenischen Bemerkungen,
die unmittelbar auf die theatralische Vorführung abzielen, und unter
manchen andern, die uns noch weiterhin nützen sollen, findet sich
eine Angabe, die sich auf die Wiederaufrichtung von Hiobs Haus
bezieht, das wieder hergestellt wird, nachdem der Held von Gott
wieder zu Gnaden angenommen ist. Da heißt es (bl. E 6a) : Nach
1) Der Maler wird offenbar nur für Kostüme und Masken herangezogen: vgl.
R. Brandstetter, Die Regenz bei den Luzerner Osterspielen. Luzern 1886. S. 11 u. 36.
2) Vgl. Flechsig, Die Dekoration der modernen Bühne. Diss. Leipzig 1897.
3) Doch s. jetzt Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. III (Halle 1903) S. 378.
Herrmann, Theater. 5
66 Die Phantasie des Publikums. Holzschnitte.
diesem schickt Gott die Engel zu Job, das sie ihn heilen, sein haus
welches von Leinwadt kann zugericht werden das maus mit einer
Schnur in die hohe ziehen kan wider auffrichten. Steht das Nar-
hamersche Schauspiel nun auch, wie das sächsische Kunstdrama
Greffscher Schule überhaupt'), in technischer Hinsicht noch in der
Mitte zwischen der mittelalterlichen und der modernen Art, so
kann es sich bei diesem Leinwandhaus, das man an einer Schnur
in die Höhe ziehen kann, doch offenbar nur um eine gemalte De-
koration im modernen Sinne gehandelt haben.
Das Ergebnis dieser eingehenden Betrachtung ist also dieses:
möglich war die Anbringung einer Hinterdekoration, welche Straße,
Garten oder Wald darstellte, in technischer Hinsicht allerdings. Es
fragt sich nur: war ihr Vorhandensein so notwendig, daß die
Regisseure der Meistersingerbühne die immerhin vorhandenen
Schwierigkeiten unter allen Umständen überwinden mußten? Ver-
langte die Phantasie des Publikums, das im Schiff der Martha-
kirche saß, einen solchen dekorativen Hintergrund oder war es
geneigt, ihn sich lediglich mit Hilfe der Einbildungskraft selbst her-
zustellen? Um diese Frage zu beantworten, werfen wir zunächst
einen Blick auf die bildende Kunst der Zeit. Sind zumal die Holz-
schnitt-Illustrationen, die der gemeine Mann damals in die Hände
bekam, durchaus mit landschaftlichem Hintergrund ausgestattet oder
gibt es Bilder, die sich lediglich mit der Vorführung der Personen
begnügen? Die Analogie für das Theaterbild leuchtet ein. Da zeigt
sich denn, daß zwar in den meisten Leistungen der Kunst die alte
Art, die auf die Darstellung des Milieus geringen Wert legte, über-
wunden ist : nicht der kleinste Fortschritt der deutschen Renais-
sancekunst besteht gerade in der Fähigkeit, den Menschen mit
seiner Umgebung vorzuführen. Aber ganz ist doch, trotz Dürer,
die alte Art noch nicht ausgestorben, und zumal auch bei den Nürn-
berger Kleinmeistern, bei Peutz und H. S. Beham, finden wir Holz-
schnitte, die nur die Menschen zeigen. Vor allem aber sind hier
die Illustrationen der volkstümlichen Erzählungen zu nennen, die
gerade um die Zeit, von der wir reden, wieder und wieder aufge-
legt wurden. Freilich findet sich wohl kein einziges Buch darunter,
dessen sämtliche Holzschnitte auf die Darstellung des Milieus Ver-
zicht leisten. Aber mitten zwischen den Bildern, die im Hintergrund
die Wände des Zimmers oder die Bäume und Berge der Landschaft
zeigen, treffen wir doch nicht selten Holzschnitte, die sich mit der
bloßen Vorführung der handelnden Personen begnügen, ganz ab-
gesehen davon, daß alte Holzstöcke des 15. Jahrhunderts von den
modernen Verlegern hier und da immer noch wieder mit verwendet
wurden. Am häufigsten bleibt der Hintergrund in den Drucken
1) Vgl. H. Michel, Hfiniicli Knaiist, Berlin 1903. S. 30. 55. «2.
Volkslieder. Hans Sachsens Erzählungen. C7
der Romane unausgestaltet, die bei Weygand Hau in Frankfurt a. M.
damals hervortraten: im Wigaleus und im Florio, im Tristan von
1556 und im Pontus von 1557. Der Hintergrund wird besonders
gern dann nicht charakterisiert, wenn das Milieu durch ein Requisit:
durch Tisch oder Stuhl schon genügend gekennzeichnet erscheint,
und mit bemerkenswerter Vorliebe werden kämpfende Ritter oder
kämpfende Heere in die leere Luft gestellt, weil hier ganz natürlich
jede Phantasie das Schlachtfeld ergänzte.
Zeigt sich also hier bereits die Anspruchslosigkeit des Publi-
kums, die Bereitwilligkeit, mit der eigenen Einbildung die nicht vo'*-
handenen Berge und Bäume herbeizuzaubern, so führt uns die Be-
trachtung des Volksliedes zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. In
den Liedern, die der gemeine Mann damals singt, spielen Ortsanga-
ben überhaupt keine Rolle; wird wirklich einmal eine auf das Lokal
bezügliche Andeutung gemacht, so ist doch jedenfalls von irgend
welcher Ausmalung des Ortes der Handlung keine Rede; etwas
anderes ist es natürlich mit den Naturschilderungen, in denen die
Landschaft um ihrer selbst willen charakterisiert wird. Besonders
deutlich wird jener Verzicht auf genaue Lokalschilderungen in den
historischen Volksliedern, wo zwar selbst die Kleidung der han-
delnden Personen und die zur Aktion gehörigen Gegenstände ge-
legentlich genau beschrieben werden, wo aber die malerische Vor-
führung des Ortes, an dem die Handlung des Liedes vor sich geht,
der Einbildungskraft des Singenden oder des Zuhörenden über-
lassen bleibt.
Wenn sich somit die Phantasie des Hans Sachsischen Publikums
wohl geneigt erweist, die dekorativen Leistungen selbst zu über-
nehmen, so zeigt sich, daß Hans Sachsens eigene Einbildungskraft
im ganzen durchaus denselben Stand repräsentiert, was die Neigung
zu eingehender landschaftlicher Schilderung anlangt. Dort wo Hans
Sachs als Erzähler, nicht als Dramatiker vor uns tritt, fällt es ihm
nicht ein, seinen Quellen gegenüber in bezug auf die Vorführung
des Lokals irgendwie belangreiche Änderungen oder Ausmalungen
vorzunehmen. Eine reiche Gelegenheit zu landschaftlicher Schil-
derung bieten ihm allerdings die bei ihm so besonders beliebten
Spaziergangsgedichte; aber einmal ist es hier die ererbte Tradition,
die immer wieder zu peinhch genauer Vorführung der landschaft-
lichen Situation zwingt, anderseits steckt doch auch in diesen Spa-
ziergangsschilderungen unendlich viel Ererbtes, das sich wie eine
immer wieder für alle möglichen Zwecke benutzte Theaterdekoration
wiederholt; endhch aber haben diese Hans Sachsischen Naturein-
gänge eigentlich nicht jenen illustrierenden Hintergrundcharakter,
um den es sich hier handelt, sondern doch einen mehr lyrischen
Selbstzweck. Mit dem Blick für die tausendfältige Eigenart des
Menschenlebens ist Hans Sachsens Naturbeobachtung jedenfalls nicht
63 Dekorationsforderungen der szenischen Bemerkungen.
von fern zu vergleichen, oder richtiger gesagt: es interessiert ihn
jedenfalls nicht, das geschaute Bild mit so peinlicher Treue fest-
zuhalten wie jedes Detail aus dem Leben seiner Mitmenschen, und
er begnügt sich hier mit dem unsicheren und verschwimmenden
Hintergrund, den die Phantasie ohne weiteres bereitwillig lieferte.
Gewöhnlich stehen seine Menschen so wie die Personen auf jenen
zeitgenössischen Holzstöcken in der freien Luft.
Und nun können wir uns der Betrachtung der Dramen
selbst zuwenden. Wie arbeitet der Dichter in ihnen? Wieder
müssen wir von vorneherein eine strenge Scheidung zwischen
dem Text und den szenischen Bemerkungen machen, indem wir
von der schon im ersten Hauptteil unserer Untersuchung begrün-
deten Voraussetzung ausgehen, daß alles was in Hans Sachsens
Bühnenanweisungen steht, aber zunächst auch nur das, einen eigent-
lich theatralischen Sinn hat.
Bei der Beobachtung dieser szenischen Bemerkungen zeigt
sich nun, daß sie niemals eine Anweisung für die Gesamtdekora-
tion, für die Gestaltung also des Hintervorhangs geben, sondern
daß alle Angaben lokaler Art (die überhaupt verhältnismäßig sehr
selten vorkommen) sich lediglich auf einzelne Stücke der Bühne
beziehen. Wiederholt tritt uns im HS. die Höhle entgegen, in der
zuerst der Drache und dann der Riese wohnt; das Vorhandensein
einer solchen Höhle hatten wir auch in den szenischen Bemerkun-
gen anderer Stücke festgestellt und in den Uniersuchungen unseres
ersten Hauptteiles die Altarraumtür als den Ort dieser Höhle er-
mittelt, die außerdem auch die Rolle der in szenischen Bemerkun-
gen anderer Stücke erwähnten Örthchkeiten, wie Ofen, Löwengrube,
Tempelloch, zu übernehmen hatte ; vielleicht auch die des Zeltes, in
dasjudith^geht (1551 KG. 6, S. 76) ?0
1) Dagegen ist das im Hugschapler 1556 (KG. 13, S. 21) geschilderte Zelt des Königs
von Friesland sicherlich nicht durch die Sakristeitür und dekorativ überhaupt nicht ge-
kennzeichnet worden : in der szenischen Bemerkung ist es nicht erwähnt, sondern wird
nur im Text durch den Helden ausführlich beschrieben:
Dort steht ein zeit, an dem steht iveyer
Ein weiser low in rotem scliild . . .
Gerade hier läßt sich vielmehr beobachten, wie Hans Sachs die beiden Teile seines
Bühnenraums: den hinteren in der Altarnische und den vorderen, der frei ins Schiff liin-
einragt, in verschiedenem Sinne benutzt (vgl. u, S. 77). Der König ist eingegangen, steht
also hinten und fragt nun :
Wer ist jener, der vor dem zeit
Vnib geht und sich gegn uns nit meldt?
Hugschapler geht hin und wieder; also vorn, dicht am Ende des Podiums und spricht
jene Worte : Dort steht ein Zelt ... Er will den König ermorden imd dritt hinzu d. h.
in den hinteren Bülmenraum, der also das Zelt darstellt, und dort erfolgt der Todschlag.
Ebenso i.st es in der Rosimunda 1555 (KG. 12, S. 418 f.), wo der hintere Teil der Bühne
mit dem Chorstuhl als sal von dem vorderen und zumal seinem rechten, zur Sakristeitür
führenden Vorsprung geschieden wird: hier, vor dem sal, unterhalten sich die Trabanten
über den Lärm, den sie im Saal hören, und laufen dann ein.
Die Tür. 69
In allen diesen Fällen bleibt nur die Frage offen, ob etwa vor
die Altarraumtür ein besonderes Dekorationsstück gesetzt worden
wäre, welches Höhleneingang, Ofen, Grubenloch usw. dem Blick
des Zuschauers direkt verdeutlichte.
Einen besonderen Anhalt zur Beantwortung dieser Frage haben
wir zunächst nicht ; etwas anders dagegen steht es mit einem De-
korationsstück, das häufiger als die bisher genannten Bühnenorte
in den szenischen Bemerkungen erscheint, nämlich mit der thür.
Fraghch bleibt es, ob man zu den Stellen, an denen der Dichter
eine Tür verlangt, auch diejenigen rechnen soll, an denen in der
szenischen Bemerkung, so wie im HS. nach V. 137, nur vom „Klopfen"
oder „Anklopfen" die Rede ist ; der auftretende Schauspieler brauchte
hier ja hinter der Szene nur gegen das Podium zu pochen ; ebenso
wird ein gelegentlich in der Bühnenanweisung auftauchendes
hinter der thür im allgemeinen nichts weiter bedeuten, als daß der
betreffende Vorgang nicht auf der Bühne, sondern hinter dem
hinteren Vorhang sich vollzieht. Tatsächlich ist aber offenbar
unter thür auch sonst in den älteren Dramen nichts anderes als
der Spalt des Vorhanges verstanden, durch den die Personen von
hinten eingehen. So ist es also z. B. in Des Lewiten Kebsweib 1555
KG. 10, S. 219 : Der Levitt klopfft an . . . Der vatter thut auff, der
Levitt geht ein . . . und dann S. 224: Man klopffet ungestüm an . . .
Die Gibeanitter schreyen außerhalb der thür . . . und endlich S. 225:
Der Levitt stößt sein kebsweib für die thür. Hier kommt man offen-
bar mit dem hinteren Vorhangsspalt völlig aus, an das Vorhanden-
sein einer wirklichen Tür braucht nicht gedacht zu werden'). Eine
wichtige Neuerung aber bringt dann das Jahr 1556, in dem Hans
Sachs am 11. Januar ein Drama vollendet, wo eine wirkliche Tür
und zwar als Requisit nicht entbehrt werden kann. Das ist das
Drama Simson. Hier wird die Szene auf die Bühne gebracht,
in der der Held, als ihm die Philister in der Stadt Gaza das Stadt-
tor verschlossen haben, um ihn zu fangen, mit seiner gewaltigen
Kraft dieses Tor aus den Angeln hebt und so entkommt. In der
szenischen Bemerkung schreibt der Dichter KG. 10, S. 204 ausdrück-
lich vor: Simson nimbt das thor vnnd geht ab Wo hat
sich dieses Tor-) nun befunden? An die Mitte des Hintervorhanges
ist hier nicht zu denken, denn dort hätte, da die betreffende Szene
erst im IV. Akt liegt, eine praktikable, von den andern Personen
immer schon zum „Eingehen" benutzte Tür gestanden haben müssen,
durch deren Fortnahme dann für die noch folgenden anderthalb
1) Ein paar Nachzügler dieses Betriebes: Vier Liebhabende 1556 KG. 13, S. 193;
Johannes imd Cliristus 1557 KG. 11, S. 194; Wilhelm von Orlentz 1559 KG. 16, S. 86
(peim thor mir in der Handschrift); Sedras 1560 KG. 16, S. 174 (im Druck fehlt das vnter
der thür hier).
2) In der Handschrift steht sogar stator.
7 0 Die Tür als Requisit.
Akte hinten eine große Lücke entstanden wäre, durch die man un-
statthafterweise vom Pubhkum aus vollen Einblick in den Bühnen-
hinterraum gewonnen hätte. Offenbar ist diese Thür als Requisit
an einer ganz andern Stelle angebracht. Es heißt vorher: Simson
kombt, d. h. er betritt die Bühne vorn von der Sakristeitür und
spricht seinen Monolog wohl auf jenem rechten Vorsprung der
Bühne, der sich zwischen der Treppe und der Kanzel befand. Dieser
Teil der Bühne wird von dem übrigen Raum durch eine Tür ge-
trennt worden sein, welche man unter der Tür der Kanzel an der auf
dem oben S. 56 gegebenen Plan mit T bezeichneten Stelle angebracht,
während der vorangegangenen Szenen an die Wand gedreht und
nun vor Simsons Auftreten in die bezeichnete Richtung gebracht
hatte, so daß sie den Weg versperrte. Simson hebt sie auf die
Schulter und geht mit ihr hinten ab. Was wir schon öfters be-
obachtet hatten und noch weiterhin beobachten werden, tritt nun
auch hier ein : das was zunächst nur ein ad hoc benutztes Requisit
gewesen war, wird jetzt, wenigstens für die nächste Zeit, ein dauernd
benutztes Mittel, die Bühnensituation mannigfaltiger zu gestalten.
Sehr bezeichnend ist besonders das Drama Der verlorene Sohn
aus dem gleichen Jahre 1556. Hier heißt es in der szenischen An-
weisung (KG. 11, S. 225): Hilla stellt sich zu der thür
vnnd spricht.
Ich steh auf der lauß, warrts jiinckherrn.
Mich dunkty er geh dort her von fern.
An dem hinteren Türspalt kann Hilla nicht stehen, denn da es in
der nächsten szenischen Bemerkung heißt : Der verlorn söhn
kombt .... und er somit aus der Sakristeitür tritt, würde sie ihn
von dort hinten nicht sehen können. Offenbar steht sie vielmehr
an dieser neuen Tür, in der Nähe der Kanzel, von der aus sie jeden,
der aus der Sakristeitür tritt, natürlich sofort wahrnehmen muß.
Anders ist es dagegen im letzten Akt (S.237), wo der ältere Sohn vom
Felde zurückkehrt. Auch hier kunibt der Sohn: er tritt von vorn
auf die Bühne und hat dann zunächst eine kleine Szene mit dem
Knecht, der ihm über die im Hause begangene Feierlichkeit Bescheid
sagt: der Vater begeht die Heimkehr seines verlorenen Jüngsten.
Wenn nun der Vater dem älteren Sohne entgegen unter die Haustür
tritt, so kann natürhch hier wieder nur an den Spalt des hinteren
Vorhangs gedacht werden, und höchst bezeichnend scheint es mir,
daß die szenische Bemerkung diesen Spalt hier durch den terminus
haußthür von jener praktikablen Tür scheidet, die an der vorher
angeführten Stelle eben nur als thür bezeichnet ist. Ebenso
wird auch in der Aretaphila und in Des Marschalls Sohn,
die beide wiederum aus dem Jahre 1556 stammen, die Termi-
nologie der Bühnenanweisungen erst dadurch verständlich, daß
wir unter thür nicht den Vorhangsspalt, sondern die praktikable
Die Tür als Requisit. 71
Tür an der Kanzel verstehen'). Am meisten aber (gewinnen
wir durch die neue Hypothese für das Verständnis der Bühnen-
situation in dem wiederum aus dem Jahre 1556 stammenden Drama
Juhanus im Bad, das ohne solche Erklärung mit seinen Bühnen-
anweisungen uns unlösbare Schwierigkeiten machen würde. Zunächst
wird auf solche Weise die Situation im zweiten Akt erklärt, wo
Julianus anklopft (KG. 13, S. 118 ff.) und mit dem Tür hütenden
Knecht ein Gespräch hat, während doch gleichzeitig auf der Bühne der
Herzog Gottfried mit seinen Knechten steht und sich von demTürhüter
über den draußen klopfenden Bittsteller unterrichten läßt, der da so
lange harren muß, bis ihm vom Herzog der Eintritt erlaubt wird.
Wäre die Tür hier der hintere Vorhangsspalt, so könnte die Szene des
Kaisers mit dem Knecht nicht vor den Augen des Publikums vor
sich gehen, sondern man müßte sich mit dem Hören der Reden
begnügen, die dann hinter dem Vorhang gewechselt würden. Nun
aber sehen wir ganz deutlich, wie Hans Sachs den Hergang inszeniert
haben wird: die Unterhaltung mit dem Knecht und das Warten
des Kaisers gehen auf jenem rechten Vordervorsprung der Bühne
vor sich, welcher wieder durch die bewegliche Tür von ihrem
Hauptteil getrennt ist-). Genau die gleiche Situation wiederholt
sich dann am Hofe des Engelkaisers: ganz unmöglich ist es, daß
die fast vierzig Verse umfassende Unterhaltung des Torwarts mit
dem nackenden Kaiser hinter dem Vorhang, also ungesehen und
nur gehört, vor sich gehen sollte; tatsächlich findet sie, wie wir
nun begreifen, wiederum auf jenem rechten Vorderteil des Podiums
statt. Daß es in der szenischen Anweisung vorher heißt: Der
nacket kai/ser kumbt, klopfft an . . . zeigt wiederum ganz deutlich,
daß er von der Sakristeitür aus die Treppe heraufgeschritten und
an die praktikable Tür heran getreten ist"). Noch wichtiger aber
ist es, daß wir die sonst unbegreifUche Bühnensituation des vierten
1) KG. 12, S. 147: Die zwen trabanten losen an der thiier, kamen hinein
und 13, S. 75: Floria geht, thut au ff. Die trabanten kamen .... (in der Handschrift
stand allerdings gent ein). Ebenso wird an die neue Tür wohl auch im Gideon 1556 KG.
10, S. 153 und in der Verfolgung Davids 1557 KG. 10. S. 275 gedacht sein.
2) Hans Sachs hat offenbar, schon ehe er durch den Simson auf die Verwendung
der Tür kam, diese Stelle der Bühne benutzt, um eine kleine Szene im Nachbarraum sich
abspielen zu lassen : in der wenige Monate vor dem Simson abgeschlossenen Rosimunda
1555 KG. 12, S. 418; vgl. o. S. 68 Anm.
3) Daß es in der Szene des zweiten Aktes in der Bühnenanweisung heißt: Jalianas
geht ein. braucht hier natürlich nicht zu heißen, daß er von hinten auftritt: es ist hier
überhaupt kein Terminus des Auftretens, da er sich schon auf der Bühne befindet, sondern
heißt nur: er geht durch die Thür ein in das Schloß. Steht doch kurz vorher, als der
Knecht von dem anklopfenden Kaiser, also genau von derselben Stelle zum Herzog geht:
Der knecht kumbt (in der Handschrift get) zum hertzogen. Im dritten Akt steht an der
genau entsprechenden Stelle (S. 126): Der nacket kayser kumbt, im vierten (S. 132) dagegen:
Der kayser geht ain.
72 Die Tür als Requisit.
Aktes nun verstehen: Julians Besuch beim Einsiedler. Der ganze
erste Teil der Hauptszene dieses Aktes besteht aus einem Zwie-
gespräch zwischen dem Einsiedler, der in seiner Zelle ist, und dem
Kaiser, den er zunächst nicht hineinlassen will. Hier haben wir
ganz abgesehen von der inneren Wahrscheinlichkeit auch einen
äußeren Beweis dafür, daß die Bitten des Kaisers um Einlaß nicht
hinter dem Vorhang gesprochen sein können, so daß man den
Flehenden vom Publikum aus nicht gesehen hätte. In den szeni-
schen Bemerkungen dieses Teiles schreibt Hans Sachs nämlich aus-
drücklich vor (S. 130): Der kaijser feilt auf sein knie, spricht mit auff-
gehaben henden , eine Anweisung also, die völlig sinnlos
wäre, wenn der Dichterregisseur seinen Helden hier nicht dem
Publikum hätte vor Augen stellen wollen. Die neue Erklärung be-
seitigt diese Schwierigkeit und zeigt uns, wo der Kaiser auf sein
Knie fällt und die Hände aufhebt; sie bringt uns aber zugleich aus
einer weiteren Verlegenheit, in die wir sonst durch zwei szenische
Bemerkungen der gleichen Szene geraten. Als der König nämlich
zum erstenmal geklopft hat, heißt es in der Anweisung: Der
einsidel thiit das fenster auff, schlecht das wider zu, und weiterhin
kurz bevor er öffnet: Der einsidel thut das fenster auff. Wo auf
der Bühne sollte sonst dieses Fenster sich befinden, durch das der
Einsiedler den Kaiser sehen kann und das sonst niemals wieder in
Hans Sachsens sämtlichen dramatischen Werken erscheint? Jetzt
wissen wir es: es kann sich nur um eine Klappe in jener prakti-
kablen Tür gehandelt haben, durch die der Kaiser nachher herein-
tritt. — Auch im Abraham des Jahres 1558 bedient sich Hans
Sachs wiederum dieser Vordertür (vgl. KG. 10, S. 23 und 29 f.), und
schließlich wird durch ihr Vorhandensein noch eine letzte Schwierig-
keit aus dem Wege geräumt, die die Dekorationsverhältnisse in
Gott Bei 1559 (KG. 11, S. 74 f.) bereiten. Es ist die Szene, in der
Daniel dem König die Priester als Betrüger bezeichnet, weil sie an
Stelle des Gottes das ihm dargebrachte Dank- und Speiseopfer ver-
zehren. Die Probe soll gemacht werden. Wein und Brot wird vor
den Gott gestellt, und die szenische Bemerkung, die den Akt be-
schließt, lautet : Der König versigelt die tempelsthür und gehen alle
ab. Dann kommen im Beginn des dritten Akts die Pfaffen, durch
das loch, also wie wir früher ausführten, durch die von uns auf-
gedeckte Altarraumthür auf die Bühne, essen und trinken und ver-
schwinden auf demselben Wege. Dann heißt es : Der könig kumbt
mit Danieli und den trabanten d. h. sie schreiten die vordere Treppe
aus der Sakristei herauf, der König spricht vier Verse:
Daniel, siehst du? das sigil
Ist brachen weder wenig noch vil.
Macht auff die thiir und last uns ein,
Wie sich hell Bei, der groß gott mein !
Die Tür als Requisit. 73
Und nun endlich schreibt Hans Sachs vor: Sie thun die thür aiiff.
Der könig schawdt hinfür .... Die hier vorgetragene Hypothese
erklärt, wie mir scheint, den Bühnenhergang auf das deutlichste,
dem wir sonst ratlos gegenüber ständen: die Tempeltür, die der
König versiegelt hat, ist die neue Tür an der Kanzel. Indem er
nun mit Daniel und den Trabanten von der Sakristeitür kommt,
weist er zunächst von außen her auf das an dieser Tür angebrachte
Siegel hin, spricht seine vier Verse auf jenem rechten Vorderteil
der Bühne, tut die Tür auf und betritt nun mit seinen Begleitern
den Hauptbühnenraum.
So sehen wir also, daß tatsächlich für die eine der wenigen in
den szenischen Bemerkungen verwendeten lokalen Angaben minde-
stens seit 1556 eine Art Dekorationsstück verlangt wurde. Es schiene
mir aber trotzdem verkehrt, von hier aus nun einen Schluß darauf
zu tun, daß auch für die Höhle, den Feuerofen usw. ähnliche Deko-
rationsstücke erforderlich wären. Jene Tür, ist wie unsere ent-
wicklungsgeschichtliche Betrachtung gezeigt hat, im Grunde kein
Dekorationsstück, sondern eigentlich doch ein Requisit, eine plasti-
sche Nachahmung einer wirklichen Tür, wie sie samt dem für das
Juhandrama geforderten Fenster Zimmerleute und Maler damals
gewiß ohne Schwierigkeiten herstellen konnten. Für die genauere
Charakterisierung von Höhle, Feuerofen, Grubenloch und dergl. aber
hätte es sich nicht um eine plastische Nachbildung, sondern um
reine Dekorationsmalerei handeln müssen, und an diese zu denken
dafür fehlt uns jeder Anhalt. Der lochartige Charakter der Altar-
raumtür hat in diesen Fällen gewiß ausgereicht. Ebenso wenig
werden wir annehmen dürfen, daß Hans Sachs für den in den
Bühnenanweisungen zweier Stücke vorkommenden Baum eine be-
sondere Dekoration hat malen lassen; schon in ganz anderm Zu-
sammenhang!) haben wir erkannt, daß man in diesen Fällen offen-
bar die Kanzel als Baum benutzt hat, — möglich, daß man sie durch
ein paar aufgesteckte Zweige symbolisch charakterisiert hat, wie
sie anderwärts (KG. 12, S. 509, vgl. 13, S. 473) als' Requisit ver-
langt werden. Daß eine Baumdekoration nicht vorhanden war, zeigt
ganz deutlich auch unser HS. In der Vorlage liegt der Drache, in
dessen Blut Siegfrid nachher badet, bey ei/ner linden ; Hans Sachs
führt statt dessen die Höhle ein, deren Darstellung ihm keine szeni-
sche Schwierigkeiten macht.
Versuchen wir nun anderseits die Frage zu beantworten: welche
Angaben und Andeutungen legt Hans Sachs im Dialog seinen
Personen inbezug auf die Gestaltung des Schauplatzes in den
Mund?, so geschieht das natürlich nicht, weil wir annehmen möchten,
daß solchen Angaben der Redenden nun auch Ausführungen der
1) Vgl. o. S. 44 f.
74 Dialog und Phantasie.
Dekorationsmaler entsprechen müßten, sondern vielmehr um zu
ermitteln, ob Hans Sachs vielleicht in diesen Andeutungen des
Dialogs dem Publikum einen Ersatz für nicht vorhandene Deko-
rationen, der Phantasie seiner Zuschauer einen Anhalt für ihre
Ergänzung bieten will. Und da fällt uns, wenn wir uns zunächst
auf den HS. beschränken, der mit seinem häufigen Wechsel des
Schauplatzes hier ein reiches Material bietet, sofort etwas höchst
Charakteristisches ins Auge. Wenn die Handlung einer Szene in
einem Innenraum spielt — mag es sich um Schloß oder Hütte
handeln — , verschmäht es der Dichter so gut wie ganz und gar,
irgend eine Person ein Wort sagen zu lassen, das sich auf das
äußere Bild des betreffenden Saales oder Zimmers bezieht '). Ganz
anders immerhin, wenn die Handlung im Freien vor sich geht. Ehe
Sewfrid im zweiten Akt mit dem Drachen streitet, schildert er
genau die lokale Situation (v. 193):
Ich suech im ivald hin vnde her,
Doch sich und find ich kain koler.
Ich sich in dem gestrews dort wol
Ein finster, dieff, staineres hol . .
Ähnlich charakterisiert Crimhild v. 291 ff. die Zinnen des Schlosses,
auf dem sie steht, als der Drache kommt; die äußere Gestaltung
des Gebirges, in das Sewfrid eindringen muß, wird in verschiedenen
kleineren und größeren Andeutungen anschaulich gemacht (v. 401 ;
V. 404: Das pirg ist gar unmenschlich hoch; v. 407, 422, 431, 440);
ebenso geht es mit Kuperons Höhle und dem sie umgebenden
Schauplatz (v. 502, 511, 514, 565, 575), mit dem Drachenfels (v. 630,
637, 664, 716, 728 f.), w^eiter, wenn auch etw^as spärlich, mit dem
Rosengarten (v. 937, 939) und endlich mit der Stelle im Walde, wo
Sewfrid ermordet wird (v. 1062 ff.:
Ich wil mich legen zv dem prunen
Hie an den schatten von der sunen,
Vnter die linden, an den rangen,
Den schmack der gueten wuerz entpfangen,
V. 1072, 1076). Ahnen wir hier schon Hans Sachsens Absicht, der
Einbildungskraft seiner Zuschauer inbezug auf die Landschaft
eine gewisse Stütze zu geben, so wird uns dieser Zweck noch
deutlicher klar, wenn wir bemerken, wie er in den meisten Fällen
dem Publikum diese Situationen nicht nur durch auftretende Per-
sonen schildern läßt, sondern es bereits in der vorhergehenden
Szene auf die Landschaft vorzubereiten liebt, um die es sich in
der nächstfolgenden handelt. Das geschieht im ersten Akt für den
Drachenwald des zweiten (v. 164, 168, 170, 179—81, 188), für die
1) Höchstens die Andeutung v. 771 kommt in Betracht.
Innenraum und Landschaft. 75
Schloßzinne (v. 263 f.), für den Drachenstein, hier besonders auf-
fallend und an sich eigentlich widersinnig, indem der Herold, Gibich
und Sewfrid unmittelbar nach Crimhildens Raub (v. 316, 330, 338)
schon von der Wüstenei reden, in die sie geschleppt worden ist;
für den Drachenfels (v. 602, 609, 615, 618, 622), den Rosengarten
(v. 843, 853, 878, 894, 915) und endlich den Mordwald, indem Gernot
(v. 1043) den Brüdern sagt:
Das Sewfrid almal vmb mitag
Hinaus spaciret in den wald,
Legt sich zu ainem prunen kalt
Ins gras, in die wolschmeckendn plumen
(vgl. auch V. 1053). Für die Innenräume dagegen findet sich eine
derartige Vorbereitung der Phantasie durchaus nicht. Wir erinnern
uns an jenen Unterschied, den uns die reine Betrachtung des Bühnen-
raumes in der Marthakirche machen heß; schon dort sahen wir:
der Anblick eines Innenraums wird tatsächlich geboten, während
umgekehrt für die Vorführung der freien Natur nur eine Neutrali-
sierungsmöghchkeit vorhanden ist. Hier setzt offenbar die theatra-
lische Arbeit des Dramatikers bewußt ein, indem sie die Zuschauer
mit dem vorhandenen Bild von Saal und Zimmer vorlieb nehmen
läßt, dagegen zur Erweckung eines Landschaftsbildes ihrer Phanta-
sie auf dem Umwege über das Ohr fort und fort Anhaltspunkte
bietet.
Um aber diese Behauptung, daß es sich hier um Absicht,
um bewußte Arbeit, um Rücksichtnahme auf das Nichtvorhandensein
von Dekorationen gehandelt hat, zu stützen, wird es sich emp-
fehlen, noch eine doppelte Kontrolle vorzunehmen. Ersthch werden
wir, um dem Theatraliker auf die Finger zu sehen, nachprüfen, ob
er als Epiker in entsprechenden Situationen etwa ebenfalls in der
Schilderung des Innenraums sparsam, in der Ausmalung der Land-
schaft freigebig ist; in diesem Falle würden wir jene theatralische
Ausdeutung dieses Unterschiedes nicht aufrecht erhalten können.
TatsächKch aber zeigen wenigstens angestellte Stichproben, daß wir
jenen Unterschied für Hans Sachsens epische Dichtungen nicht
machen können. Den Stoff vom Hürnen Sewfrid hat Hans Sachs
allerdings nicht als Erzählung bearbeitet, so daß hier also ein
Vergleich sich nicht anstellen läßt; sonst aber ist ja bei ihm kein
Mangel an Stoffen, die sowohl als Erzählung wie als Drama gestaltet
sind, und da zeigt z. B. der Cyrus, den er episch im Mai, dramatisch
im Juni des Jahres 1557 behandelt hat, in dieser zweiten Form das
gleiche Verhältnis wie der HS. : vom Königssaal und von der Hirten-
hütte wird im Dialog nichts gesagt, dagegen werden wir auf die
Natur des Scythenlandes vorbereitet (KG. 13, S. 323, 327), und ebenso
wird es während der betreffenden Szene (a. a. 0. S. 328) im Dialog
charakterisiert; in der epischen Darstellung ist von solcher Diffe-
76 Innenrauin und Landschaft.
renzierung nicht die Rede. Nicht anders steht es mit dem Alexander
Magnus, wo im Gegensatz zu den Innenräumen der Engpaß und
dann weiterhin Indien sowohl vorbereitet wie charakterisiert werden:
im Drama (KG, 13, S. 477 ff.) ; in der Erzählung ist auch hier von
solcher Scheidung keine Spur.
Die zweite Möglichkeit, unsere Hypothese, Hans Sachs habe
als Theatraliker mit Rücksicht auf die Besonderheit seiner Bühne ab-
sichtlich jenen Unterschied gemacht, zu kontrollieren, liegt in dem
Vergleich seiner Dramen mit ihrer Quelle. Übernimmt er etwa jene
verschiedene Behandlung des Innenraums und der Landschaft schon
aus seiner Vorlage oder führt er sie gegen deren Wortlaut erst ein
oder verstärkt doch die bloßen Andeutungen seiner Quelle hinsicht-
lich der freien Natur so entschieden, daß die theatralische Absicht
klar wird? Daß das letztere der Fall ist, daß die Vorlage den
Unterschied nicht macht, können wir schon beim HS. beobachten.
Das Siegfriedslied, das der Dichter auch für den letzten Akt als
einzige Vorlage gehabt hat^), sagt in bezug auf den Ort der Ermor-
dung nur (177, v. 6 ff.):
Ob eynem prunnen kalt
Erstach jn der grymmig Hagen
Dort auff dem Ottenwaldt.
Von der genauen Ortsschilderung, die Sewfrid selbst, bevor er
einschläft, gibt, ist also nicht die Rede, und noch viel weniger von
jener Vorausschilderung des Ortes, die Hans Sachs in dem voran-
liegenden Gespräch der drei Brüder bietet. Ebensowenig ist in der
Quelle das Schloßdach vorbereitet, auf dem Crimhilt steht-^), oder
das wüste Gebirge, in das der Drache mit der Königstochter sich
begibt; die vorhergegebenen Hinweise auf Drachenwald, Drachen-
fels und Rosengarten sind im Liede wenigstens minder deutlich. —
Die gleiche Beobachtung können wir nun auch machen, wenn wir
etwa jenes Cyrus- Drama und den Alexander Magnus mit ihren
Quellen vergleichen : die oben beobachtete Vorbereitung des PubH-
kums auf die landschaftliche Situation des Scythenreiches fehlt bei
Herodot und Justinus, und ebenso ist im Plutarch von dem Gebirgs-
engpaß und der indischen Landschaft des Alexander - Dramas
vorher nicht die Rede. Dagegen entspricht die Behandlung dieser
Verhältnisse in Hans Sachsens epischen Gestaltungen desCyrus-
und des Alexander-Stoffes genau dem Zustand der Vorlagen : ganz
deutlich wird es also, daß es nicht allgemein dichterische, sondern
speziell theatralische Erwägungen gewesen sind, die den Dramatiker
1) Ich stimme hierin dunliaus mit Drescher, Studien zu Hans Sachs I. Berlin 1890,
überein.
2) Im Lied ist es ein Fenster, von dem aus sie dem Turnier zusielit, die Ausmahmg
dieser Situation konnte Hans Sachs der Phantasie seiner -Zuscliauer nicht zunniten und
führte deswegen die Zinne ein.
Innenraum und Landschaft. - 77
ZU solchem Verhalten bestimmt haben. — Nichts scheint der Dichter
innerhalb des Dialogs der Phantasie seiner Zuschauer zu bieten,
wo der Ort der Handlung ein Schlachtfeld ist: beim Anblick der
kämpfenden Kriegergruppen sagte sich das Publikum ohne weiteres,
daß der Schauplatz jetzt kaum ein Zimmer sein konnte, und wir
können auch hier wieder auf die Analogie mit der bildenden Kunst
hinweisen, die, wie schon oben betont wurde, noch damals Kämpfer
gern in die leere Luft stellte.
Den tatsächlichen Zustand des auf seiner Bühne vorhandenen
Innenraums, für den er, wie wir sahen, im allgemeinen keine
besondere Arbeit aufwendete, hatte Hans Sachs doch insofern im
Auge, als er die Vorführung von Innenräumen, die dem vorhande-
nen Bühnenbild gar zu grob widersprochen hätten, sichtlich
ganz vermied'). Wieder müßte eine lückenlose Vergleichung der
Dramen mit ihren Vorlagen diese Behauptung bestätigen ; besonders
deutlich wird es in dem Drama Beritola aus dem Jahre 1559.
In Hans Sachsens Vorlage, der bekannten Erzählung aus Boccacios
Decamerone, sitzt die entflohene unglückliche Fürstin auf der ein-
samen Insel in einem alten finstern Gemäuer; der Herzog und die
Herzogin kommen zu ihr in dieses Gemäuer hinein und bereden
sie hier, die Insel mit ihnen zu verlassen. Hans Sachs macht nicht
nur aus dem Gemäuer eine Höhle, deren Eingang die Altarraumtür
besser vorstellen konnte als ein altes Gemäuer, sondern er verlegt
auch jenes Gespräch aus der Höhle heraus in die freie Landschaft,
in die Beritola zu den Besuchern heraustritt: das Innere einer
dunklen Höhle vorzustellen, war die Bühne nicht geeignet. Weiter
spielt eine Situation der Erzählung im Kerker, in den der eine Sohn
der Beritola geworfen ist: einer der Kerkermeister unterhält sich
mit ihm und erzählt ihm die große Neuigkeit, die die Stadt erfüllt.
Hans Sachs bietet (KG. 16, S. 123 ff.) die gleiche Unterhaltung, er
läßt sie aber nicht im Kerker vor sich gehen, sondern zunächst
führen, im übrigen ganz unmotivierter Weise, die Trabanten den
Gefangenen aus dem Kerker heraus, als dessen Eingang das Publikum
die Altarraumtür vor sich sah. Wieder ist es deutlich : Hans Sachs
war sich klar, daß seine Bühne einen dunklen Kerkerraum nicht
darzustellen vermochte.
Als Gesamtergebnis dieser Betrachtungen haben wir demnach fest-
zuhalten : eigentliche Dekorationen sind auf der Meistersingerbühne
nicht vorhanden gewesen. Es ist also noch derselbe Zustand, der
in einem 1534 zu Nürnberg anonym erschienenen Susanna-Drama
angedeutet wird, wo im Prolog ausdrücklich von dem Garten, in
dem die Handlung einsetzt, gesagt wird:
Diser gart ist gar hhbsch und schon
Von kreutern vnd vil beumen griin,
1) Vgl. auch die oben erwähnte Umwandhing des Fensters in das Schloßdach im HS.
78 Keine Dekorationen. Requisiten.
Welchen so euch zu sehen glust,
Gar scharpff brillen jr haben musÜ).
Fast fünfzig Jahre später schreibt der Nürnberger Kaufmann Bal-
thasar Paumgartner aus Lucca in ItaUen einen Brief an seine Braut
Magdalene Behaim in Nürnberg (15. Dez. 1582)2) und berichtet von den
Mittehi, mit denen er außerhalb seiner Geschäftszeit die Langeweile
sich zu vertreiben suchte : Die zeitt ein weil mitt den comedyen zu-
sehen zu gebrachtt, mitt solchen aber auch schon ein end hau.
Nach den weijhenachtt feyrtagen aber sollen anndere herkommen,
sind aber gegen euern spyeln im s. Martha vnnd prediger closter
nicht zu vergleichenn. Offenbar bezieht sich dieser unvergleichliche
Vorzug des italienischen Theaters nicht nur auf die Mitwirkung von
Frauen, die Paumgartner hervorhebt, weil das natürlich seine Braut
besonders interessieren muß, sondern auch auf die dekorative Aus-
stattung, die wie oben angedeutet, in Italien damals schon weit
vorgeschritten war, während sich die Meistersingerbühne noch immer
ohne Dekorationen behalf. Durchaus zu verwerfen ist aber ander-
seits die populäre Vorstellung, die ja bei gelegentlichen Aufführungen
Hans Sachsischer Stücke heute oft in die Praxis übertragen wird,
als ob beim Wechsel des Schauplatzes durch einen angehefteten
Zettel das Publikum über den neuen Ort der Handlung unterrichtet
worden wäre. Wir haben gesehen, durch welche Mittel Hans Sachs
sein Publikum zu lenken wußte; er spricht zu ihnen gewissermaßen
dasselbe, was in Shakespeares Heinrich V. der Chor zu den engli-
schen Zuschauern sagt:
Still be kind,
And ehe out our Performance with your mind.
Requisiten.
Unter Requisiten verstehen wir, wie schon im Eingang des die
Dekoration behandelnden Abschnittes auseinandergesetzt wurde,
diejenigen auf der Bühne verwendeten Gegenstände, die im Gegen-
satz zu den nur in zwei Dimensionen ausgeführten Dekorationen
in drei Dimensionen vorgeführt werden. Solchen Requisiten gegen-
über ergibt sich auch für die Bühne der Meistersinger eine doppelte
Frage : erstens, welche Requisiten werden verlangt und wie werden
sie hergestellt? und zweitens, wie kommen die Requisiten auf die
Bühne, wohin werden sie hier gestellt, sobald sie nicht nur in den
Händen der Schauspieler bleiben, und endlich, wie werden sie wieder
1) fol. Aijb. Zitiert aucli liei G e n ö e , Lehr- und Wanderjahre des deutschen Schau-
spiels, Berlin 1882, S. i;5().
2) Briefwechsel Balthasar Pauniyarlner.s des Jüngeren mit seiner Gattin, herausgegeben
von Sleinhausen (Stullg. Lil. Verein 1895) S. 9 f.
Die Materialfrage. 79
von der Bühne fortgeschafft? Das erste ist also wesentlich eine
Material-, das zweite eine Lokalfrage.
Wir beginnen nun für die Beantwortung der Frage nach dem
Material mit dem HS. und halten uns wie immer in erster Reihe
an die szenischen Bemerkungen, die uns auch hier wieder im all-
gemeinen das theatralische Element darzustellen scheinen. Ganz
Theater ist z. B., wenn im „Florio" 1551 KG. 8, S. 327, der Held sagt :
Gieb ein sack mit ducaten her! und die Bühnenanweisung dann vor-
schreibt: Hertzog Ascheion geit im ein sack. Einen Sack schlecht-
weg, nicht einen Sack mit Dukaten, wie der Epiker hier gesagt haben
würde: der Regisseur wird natürhch nicht den Sack mit Dukaten
füllen. In den Bühnenanweisungen des HS. werden nur verlangt:
zwei Hämmer, Amboß und Korb für die Schmiede ; Schlüssel, stäh-
lerne Stange, Streitaxt und andere Waffen für den Riesen und für
Sewfrid ; eine Nebelkappe, eine Wurzel und eine goldne Schale voll
confect für den Zwerg; ein dünnes Tüchlein für Crimhilt, wie auch
vorher Sewfrid schon ein facilet verwendet; endlich der Dolch
zu Sewfrids Ermordung und Reisig, um seine Leiche zuzudecken.
Es fragt sich zunächst, ob tatsächhch nur diese in den szenischen
Bemerkungen genannten Gegenstände verwendet oder ob etwa auch
Dinge, von denen im Dialog die Rede ist, vorgeführt worden sind:
ob wir also etwa aus den Worten des Schmiedes (v. 136) : Nun so
plas auf, und halt palt ein! auf das Vorhandensein eines Blasebalgs
schheßen dürfen. Da ein solcher Blasebalg für den Fortschritt der
Handlung völlig entbehrlich ist, so werden wir uns die bei der
Besprechung der Dekorationen gemachten Erfahrungen zunutze
machen dürfen und annehmen, daß der Dichter mit einem solchen
Hinweis lediglich der Phantasie seines Publikums einen Hinweis für
die lebendige Vorstellung des Miheus geben wollte. Natürlich ist
es nicht ausgeschlossen, daß er einmal die szenische Bemerkung,
die von einem unentbehrlichen Requisit berichtet, niederzuschreiben
vergißt, und ein solcher Fall liegt auch im HS. vor, wo Crimhilt
nach dem Kampf im Rosengarten zu dem siegreichen Dietrich nur
spricht (v. 992f.):
Nembt hin das rosenkrenzelein,
Darzw mein vmefang und kues,
wo aber dann eine szenische Bemerkung über die Bekränzung nicht
folgt. Die langverheißene Vorführung dieser Krönung ist natür-
lich auch für das Auge unentbehrlich, und daß wir hier keinen
Fehlschluß tun, beweist uns der Dichter selbst, indem er in dem
ersten Drucke des Werkes den betreffenden Zusatz einfügt:
Sie setzt im den krantz auff, vmbfecht in, gibt im ein kuß^).
1) Diese Stelle steht zwar auch in Goetzes Neudruck der Se'W'frid-Handschrift, ist
aber nur ein dem Druck entnommener Zusatz des Herausgebers (vgl. Vorwort p. Vni).
80 Die szenischen Bemerkungen.
Ähnliches läßt sich auch anderwärts beobachten; so kann man
z. B. in der Opferung Isaak 1553 (KG. 10, S. 69) nur aus dem Dialog
entnehmen, daß die Knechte das Holz für die Herrichtung des Opfers
auf die Bühne gebracht haben: in der erweiterten Fassung des
Stückes aus dem Jahre 1558 dagegen (Abraham, Lott, sampt der
Opfferiing Isaac KG. 10, S. 52) heißt es von den Knechten in der
Bühnenanweisung ausdrücklich: die tragen gespalten holtz imnd
ein kolfewr. Häufig wird namentlich das Requisit dort noch nicht
erwähnt, wo es auf die Bühne gebracht wird, obwohl es doch schon
hier zu erwarten wäre, sondern erst viel später (z. B. KG. 13,
S. 299, S. 301 ; 13, S.313, S. 315; 13, S. 25, S.27). Hans Sachsen mag in
solchen Fällen erst während der Abfassung der Szene das Vor-
handensein des Requisits als wünschenswert oder notwendig erschie-
nen sein. Doch das sind verhältnismäßig seltene Ausnahmen. Im
allgemeinen werden wir unsere Betrachtung auf die Requisiten zu
beschränken haben, die in den Bühnenanweisungen erwähnt sind.
Umgekehrt fragt es sich nun aber: sind diese Requisiten auch
wirklich alle vorhanden, alle erreichbar oder herstellbar gewesen?
In den meisten Fällen wird man ja einfach mit den wirklichen
Gegenständen selbst auf der Bühne haben agieren können; aber
ihrer Verwendung waren doch auch gewisse Schranken gesetzt:
die Kostbarkeit solcher Gegenstände oder die Schwierigkeit ihrer
habhaft zu werden, die Gefahr, die bei ihrer Verwendung für die
Personen der Schauspieler oder für das gesamte Spiellokal vorhan-
den war, die Größe oder die Form des betreffenden Dinges, die
sich nicht mit den Verhältnissen des Bühnenraums vertragen hätten,
die Schwere, die den Transport verhinderte, endlich dort wo es sich
nicht um Sachen, sondern um lebende Wesen, besonders um Tiere
handelte, die Unmöglichkeit, solche Mitspielende vollständig in den
Dienst des Werkes zu zwängen. In allen solchen Fällen mußte
man dazu greifen, statt des wirklichen Gegenstandes eine irgendwie
geartete, mehr naturalistische oder mehr symbolische Nachbildung
vorzuführen. Wir werden auch hier wieder nicht den Bühnenan-
weisungen allein entnehmen können, wie man sich in solcher Hinsicht
auf der Meistersingerbühne verhalten hat, sondern werden uns zu
diesem Zwecke mit den Nachrichten über andere Aufführungen,
eventuell mit den Dramen-Illustrationen und endlich mit der Frage
nach dem Stand des Kunstgewerbes auf denjenigen Gebieten zu
beschäftigen haben, die für die Nachbildung in Betracht kamen.
Gerade die für den HS. verlangten Requisiten machen in solcher
Beziehung nur geringe Schwierigkeiten: beinahe alle notwendigen
Gegenstände waren leicht aus dem Alltagsleben zu beschaffen.
Die güldene Schale mit Confect wird natürlich nicht aus Gold
bestanden haben. Schwierigkeiten bietet höchstens der Amboß,
dessen Gewicht das Hineinschaffen und Forttragen gewiß sehr
Requisiten und ilire Herstellung. 81
umständlich gemacht hätte. Es wird sich empfehlen, den Blick über
den HS. hinaus auf die übrigen Werke Hans Sachsens aus den
50er und 60er Jahren zu richten.
Zwecklos wäre es, all die vielen kleinen Dinge hier aufzuzählen,
die sich ohne sonderliche Schwierigkeit beschaffen ließen. Manches
liegt der Sphäre des Bürgertums nicht eben nahe, aber es wird
doch möglich gewesen sein, einen solchen Gegenstand zu besorgen,
z. B. wenn im Tristan 1553 (KG. 12, S. 165) fih* den gestirnkundigen
Zwerg eine spera gefordert wird. Ein Schild mit drei goldenen
Lilien (KG. 13, S. 27) und eine Adlerfahne (KG. 11, S. 331) mußten
gewiß ad hoc hergestellt oder doch wenigstens erst besonders zu-
gerichtet werden; Musikinstrumente: Pauke (KG. 10, S. 179), Posau-
nen (KG. 10, S. 107) und Harfe (KG. 15, S. 42 u. ö.) waren gewiß
auch nicht ganz einfach zu erreichen; andere Schwierigkeiten wieder
machte es, wenn jemand einen Kram mit Borten und gestickter
Arbeit auslegen sollte (KG. 20, S. 73, vgl. 12, S. 210, 214) oder
wenn im Alexander 1558 (KG. 13, S. 517) eine dürre Haut gefor-
dert wird, die an der einen Seite emporschnappt, wenn man an der
andern auf sie tritt, oder wenn endlich wiederholt (z. B. KG. 8, S. 209)
ein Kohlenfeuer gebracht wird, in dem vor unsern Augen etwas ver-
brannt werden muß : das war bei dem geringen Umfang der Bühne
und der Nähe des hinteren Vorhangs natürlich ziemlich feuergefähr-
hch. Eine Blume muß mitspielen (KG. 12, S. 72), ein Rosenbüsch-
lein (KG. 12, S. 509), grüne Maien (KG. 13, S. 240), eine verdorrte
Rose (KG. 13, S. 197) und endlich ein Lorbeerbaum (KG. 13, S. 473);
aber wohl nur im letzten Falle können wir an die Verwendung einer
wirklichen Pflanze denken, denn da Hans Sachsens Stücke zur Auf- "
führung in den Wintermonaten bestimmt waren, würde die Be-
schaffung frischer Blumen und Zweige große Schwierigkeiten gemacht
haben. Gemeine Feldsteine waren gewiß leicht zu bekommen, aber
sie ließen sich nicht verwenden, wenn eine der Gestalten des Dramas
mit Steinen zu Tode geworfen werden sollte. Daß der Dichter-
Regisseur hier ein Surrogat gewählt hat, brauchen wir nicht nur
zu vermuten: gerade hier haben wir eine Bühnenanweisung, die
uns den rein theatralischen Stil der szenischen Bemerkungen be-
sonders schlagend dartut. In der Tragödie Ahab 1557 (KG. 10,
S. 411) ist Naboth dazu verurteilt worden, durch die falschen Zeugen
gesteinigt zu werden, und da heißt es nun in der Bühnenanweisung:
Da werffen die zwen mit gemachten steinen zu, biß er feilt.
Einen Graben auf der Bühne plastisch vorzuführen, läßt das
bretterne Podium nicht zu; in der Tragödie Romulus und Remus
1560 (KG. 20, S. 164) aber ist erforderlich, daß Remus einen Graben
überspringt, und da verlangt die szenische Bemerkung das Folgende:
Remus springt vbern graben, der da mit kreiden verzeichnet ist. ')
1) Die Worte mit kreiden stehen nur in der Handschrift.
H err mann, Theater. 6
82 Holzschnitzerei und Ceroplastik. Künstliche Köpfe.
In diesem letzten Fall ist das Material für die Herstellung des
Nichtwirklichen das allereinfachste; wenn wir nun aber an ganze
Gruppen von Dingen kommen, die unbedingt künstlich angefertigt
werden mußten, wird es notwendig sein, mit einigen Worten auf
jene Frage einzugehen, aus welchen Materialien denn solche Nach-
bildungen sich schaffen ließen. Am nächsten liegt es, durchaus an
Holzschnitzereien zu denken, für die ja gerade in Nürnberg eine
besonders ausgezeichnete Tradition vorhanden und deren Technik
auch damals gewiß noch nicht ausgestorben war, wenn auch die
glänzenden Zeiten des Veit Stoß (f 1533) schon lange vorüber
waren. Möglich wäre es aber auch, daß man manches in Papier-
mache hergestellt hat; freilich geben die „Kunstbüchlein" des 16. Jahr-
hunderts, wie es scheint, über solches Verfahren noch keine Aus-
kunft, da sie sich mit Angaben über die Kunst, Tinten und Farben
zu bereiten, zu begnügen pflegen, und erst in der „Curiösen Kunst-
und Werckschule" aus dem Ende des 17. Jahrhunderts (Nürnberg 1696)
sich Anweisungen finden wie diese: „Fische nach dem Leben ab-
zuformen und von Papier nachzugießen oder nachzuformen". Endlich
könnte man in dem Jahrhundert, das das berühmte „Mädchen von
Lille" geschaffen hat, wohl auch an die handwerksmäßige Verbreitung
der Kunst, plastisch in Wachs zu arbeiten, denken ; und wenigstens
aus dem letzten Teil des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts
sind uns die Namen von Nürnberger Künstlern überliefert, die als
Ceroplastiker bekannt waren '), Ein Mittel zur Anfertigung der Steine,
mit denen Menschen auf der Bühne zu Tode geworfen werden sollen,
gibt der Luzerner „Bühnenrodel" vom Jahre 1545, dort wo er die
Requisiten für David zusammenstellt, der den Goliath mit einem
Steine tödlich trifft : dieser Stein soll ein hohles, mit Blut gefülltes
und Steinfarben angestriches Ei sein-).
Künstlich hergestellt mußten vor allen Dingen die Köpf e werden,
die in Hans Sachsens Dramen fast jedes Jahr verlangt sind : Johannis
haiipt: 1550 (KG. 11, S. 209), des grafen todt haiipt 1551 (KG. 8, S. 123,
vgl. weiter KG. 8, S. 184; 13, S. 329); im Gideon 1556 (KG. 10, S. 165)
werden gar zwaijer fiirsten haiibt gefordert. Im Tristan 1553, KG. 12,
S. 152 ist ein Drachenkopf vonnöten, und im Perseus 1558, KG. 13,
S. 433 bringt der Held gar das haubt Meduse mit den schlangen
getragen. Auch die Vorführung aus dem Leibe geschnittener Herzen
(KG. 8, S. 33, KG. 13, S. 208) mag man dazu rechnen. Gerade hier,
für die Vorführung abgehauener Köpfe besteht eine alte Tradition;
der Kopf Johannes des Täufers wurde schon im Frankfurter und
1) Es sind Lorenz Strauch, Wenzeslas Müller und Christian Mahler; vgl. Demmin,
Studien über die stofflichbildenden Künste und die Kunsthandwerke I, Leipzig 1887, S. 52.
Vgl. auch Th. Hampe, Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler 2 (Wien u. Leipzig
1904) Nr. 853. 2442. 2863.
2) Brandstetter: Germania 30, S. 208.
Köpfe und Götterbilder. ' 83
im Alsfelder Passionsspiel gezeigt'), und in dem Luzerner Bühnen-
rodel vom Jahre 1560, wo wir uns ja durchaus im Zuge der mittel-
alterlichen Tradition befinden, wird in bezug auf den Kopf des
Johannes mit einem ausdrücklichen Wink für den herstellenden
Künstler verlangt: das g macht Hoiibt jm ghjch. Hier werden wir
gewiß auch für die Bühne der Meistersinger im Zusammenhange
mit der alten Tradition durchaus an Holzschnitzerei zu denken
haben.
Es kommt aber auch vor, daß der Dichter jemandem den Kopf
vor den Augen der Zuschauer abschlagen läßt. Das ist der Fall
im König Saul 1557, KG. 15, S. 48, wo die Bühnenanweisung besagt:
Goliath feilt, David zeucht ihm seiii^ schwerdt aiiß, hawet im den
kopff ab, bringt in könig Saul. Offenbar mußte hier der Darsteller
den künstlichen Kopf über dem wirklichen tragen, was nebenher
den Vorteil bot, daß er tatsächlich auf solche Weise auch den andern
Darstellern gegenüber als Riese erschien. Dieses Verfahren hat
offenbar in Luzern nichts Analoges, denn hier schreibt der Bühnen-
rodel vom Jahre 1583 ausdrücklich wieder vor-): Er (Goliath) sol
auch ein contrafeteten Kopff gemacht haben, jme glych so vil möglich ;
diese Ähnlichkeit wäre doch nicht notw^endig, wenn der wirkliche
Kopf des Darstellers dem Zuschauer nicht zu Gesicht käme.
Auf dieselbe Weise, also vermutlich mittelst Holzschnitzerei
wurden w^ohl auch die Götterbilder hergestellt, die in den Bühnen-
anweisungen einiger Dramen verlangt werden: das groß bildt im
Daniel 1557 KG. 11, S. 38 und der abgott, der Bei, vor welchen
im Gott Bei 1559 KG. 11, S. 73 (vgl. 75) das Opfer gestellt wird.
Auch Altäre sind einige Male unentbehrlich. Der Altar des einigen
Gottes, der in der Empfängnis und Geburt Johannis und Christi 1559
KG. 11, S. 163 vorgeschrieben ist, an dem der Oberpriester Zacha-
rias mit dem Rauchfaß das Opfer verrichtet, konnte auf die be-
quemste Art gezeigt werden, indem man ausnahmsweise einmal
den Hintervorhang wenigstens zum Teil aufzog und auf solche
Weise den wirklichen Altar der Marthakirche sichtbar werden ließ ;
angesichts des christlich-religiösen Charakters dieses Dramas war
das keine Entweihung. Wenn dagegen in den Machabäern 1556
KG. 11, S. 104 ein Altar verlangt wird, so ist zwar wieder der Tempel
zu Jerusalem gemeint: wenn aber hier die Benutzung des wirk-
lichen Altars der Kirche schon deshalb ihr Bedenkliches hat, weil
vor diesem Altar den heidnischen Göttern Opfer gebracht werden
müssen, so ist an eine derartige Verwendung vor allem darum nicht
zu denken, weil Mathatia nach Angabe der Bühnenanweisung den
1) Vgl. Heinzel, Beschreibung des geistlichen Schauspiels im deutschen Mittelalter,
Hamburg 1898, S. 33. In der Frankfurter DirigierroUe ist für die Erhängungsszene sogar
eine vollständige Nachbildung des Judas, facta ymago ad instar Juda vorgeschrieben.
2) a. a. 0. S. 330 f.
6*
84 Tiere auf der Bühne.
Altar umzuwerfen hat. Hier muß also ein Requisit ausgeholfen
haben: schwerlich ein Altar, der aus gespaltenem Holz gebaut ist,
wie er in der Bühnenanweisung des Abraham 1558, KG. 10, S. 53
(oder Opferung Isaac 1553, KG. 10, S. 71) sachgemäß verlangt ist.
Vielmehr wird man wohl eine mit Steinfarbe angestrichene Kiste
benutzt haben, so wie in der Auferweckung Lazari 1551, KG. 11,
S. 251 auch der Stein vom Grabe des Lazarus als Requisit genannt
wird. Diese Fähigkeit, mit Steinfarbe ausgestattete Requisiten aus
Holz oder dergl. herzustellen, muß endlich auch dem Drama Perseus
mit Andromeda 1558, KG. 13, S. 437 zugute gekommen sein. Hier
wird die Versteinerung des Atlas durch das Haupt der Medusa vor
den Augen der Zuschauer wenngleich auf eine recht naive Art vor-
gestellt: Perseus helt ihm das haubt Medusa für ; Atlas fleucht, kumbt
wider, ist ein großer berg. Der Darsteller des Atlas muß also abgehen,
um sich hinter dem Vorhang ein einigermaßen bergartig erscheinen-
des Requisit über den Kopf zu stülpen. Dieser letzte Fall zeigt
übrigens wieder mit schlagender Deuthchkeit, wie sehr diese Bühnen-
anweisungen Hans Sachsens aufs Theatralische gestellt sind.
Eine weitere Gruppe von Requisiten, denen gegenüber doch
zuerst die Frage erörtert werden muß, inwiefern hier Nachahmung
an Stelle der Verwendung der Wirklichkeit notwendig war, sind
die Tiere. In der Göttin Circe 1550, KG. 12, S. 69 kann Hans Sachs
von seiner Bühne eine völlige Verwandlung von Menschen, wie wir
sie eben 1558 beim Atlas beobachtet haben, noch nicht verlangen:
indem Circe die Gefährten des Odysseus zu Schweinen verzaubert,
fordert die Bühnenanweisung: sie deckt sie murmlent mit eim tuch,
so gewinnen sie sewrüssel. Diese sewrüssel, die sich die Darsteller
unter dem Tuch anzustecken hatten und die hier noch als Symbol
der ganzen Tiergestalt genügen müssen, sind sicherlich nicht wirk-
liche Fleischteile von toten Schweinen gewesen, sondern irgendwie
aus bemaltem Holz oder dergl. hergestellt. Ebensowenig wird man
in der Kleopatra 1560, KG. 20, S. 229 eine lebendige Schlange ver-
wendet haben; eher schon ist es möghch, daß Pamphilus im Mar-
schalk mit seinem Sohn 1556, KG. 13, S. 68 ein wirkliches blutiges
Kalb im Sack getragen hat. Wenn Simson in dem Drama, dessen
Held er ist, 1556, KG. 10, S. 199 mit einem böcklin eingeht, so war
vielleicht auch hier ein lebendiges Tier zu verwenden; wie stand
es mit der Darstellung des Widders in der Opferung Isaac 1553,
KG. 10, S. 74 (= Abraham 1558 ibid. S. 56), der nur am Schluß des
Stückes einen Augenblick sichtbar wird? Pferde auf die Bühne zu
bringen, hat der Dichter ganz vermieden, nicht weil sie nicht nach-
zubilden, sondern weil sie für die unbedeutende Bühnengröße zu
gewaltig gewesen wären ; und noch weniger natürlich führt er einen
Elephanten vor, wo es der Stoff wünschenswert machte: im König
Sedras 1560, KG. 16, S. 169 ff. werden dem Helden alle möghchen
Tiere auf der Büline. 85
Geschenke überbracht, darunter zwei weiße Rosse und ein Elephant;
aber nicht nur werden diese in den Bühnenanweisungen im Gegen-
satz zu den andern Gaben nicht genannt, sondern es heißt in der Rede
des den Elephanten überbringenden Boten ausdrücklich : Dein knecht
das unten empfangen han. Anders dagegen steht es mit den Hunden.
Zweimal werden in Hans Sachsens dramatischen Arbeiten Hunde
von der szenischen Bemerkung verlangt, einmal in der Beritola 1559
KG. 16, S. 108: Der jeger blest. Die hund lauffen, und Beritola
lauft aus der holen, wehret mit eim reifi vor den hunden, der
jeger nimbt die hund zu ihm, und im Esopus 1560 KG. 20, S. 133:
Esopus rufft dem hund Das hündlein nagt das diech ab.
Hier zeigt sich deutlich, daß an künstliche Hunde nicht zu denken
ist, da sie ja agieren müssen; anderseits ist es mit Hunden auf der
Bühne, die leicht zu wenig und leicht auch zu viel tun können,
eine gefährliche Sache. Bezeichnend aber scheint es zu sein, daß
diese beiden Dramen aus zwei aufeinanderfolgenden Jahren: 1559
und 1560 stammen: offenbar hatte man um diese Zeit ein paar be-
sondere gut dressierte Tiere zur Verfügung. So sehen wir also im
ganzen keine Einheitlichkeit in bezug auf die Darstellung der Tiere,
sondern künstliche und wirkliche durcheinander. Durchaus entspricht
das wieder der mittelalterlichen Tradition: auch in den geistlichen
Dramen der vorangehenden Jahrhunderte hatte man wirkliche Tiere
und daneben bloße Nachbildungen vorgeführt, die ersteren um so
leichter, als dort ja bei der Darstellung auf dem öffentlichen Markt-
platz jene Rücksichtnahme auf die Größenverhältnisse der Bühne
fortfiel. Dort kommen also die heiligen drei Könige und andere
auch ruhig auf Pferden geritten, dort ist im Benediktbeurer Weih-
nachtsspiel Balaams Esel offenbar ein wirkhcher Grauschimmel,
denn er redet nicht. Bei der Vorführung der Sintflut und ander-
wärts werden wirkliche Tauben und andere Vögel verwendet. Da-
gegen spricht im Alsfelder Passionsspiel der Hahn, in dem Wolfen-
büttler Sündenfalle die Schlange: hier kann es sich also nur um
künstliche Tiernachbildungen gehandelt haben, in denen mensch-
liche Darsteller steckten'). Die gleiche Doppelheit der Darstellung
finden wir dann auch im 16. Jahrhundert in den Luzerner Bühnen-
rodeln: für Abels Opfer wird ein hölzernes Lamm, das mit Hobel-
spänen angefüllt ist und darum leicht brennt, oder gar ein baum-
wollenes Tier 1545 und 1583 verlangt^). Zur Darstellung der Seele
des Judas wird im Anschluß an eine ganz übereinstimmende
mittelalterliche Tradition •') ein Hahn gefordert, und die Bühnenrodel
betonen ausdrücklich: ein gerupfften lebenden hanen. Am
deuthchsten ist es 1560 bei der „Rüstung" des Abraham, wo ein
1) Vgl. Heinzel a. a. O.. S. 34 ff., S. 194.
2) Germania 30, S. 207, 327.
3) Vgl. Heinzel, S. 104.
86 Tiere und Kinder auf der Bühne.
Esell und ein gmachter Wider unterschieden werden. Daß man
aber nicht nur auf die Marktbühne des alten Spiels, sondern auch
auf den Schauplatz des neuen bürgerlichen Dramas zu Hans Sachsens
Zeit wirkliche lebendige Tiere führte, beweist eine szenische Be-
merkung in jenem Hiob-Drama des Johannes Narhamer aus dem
Jahre 1546, das wir uns schon bei der Behandlung der Dekorationen
einmal zunutze gemacht haben i). Hier heißt es ausdrückhch
(fol. B IVa): einer blest Fewer aus au ff die Schaf, der man denn
iij oder iiij auffm Palast mus haben . . . und weiter vnd treiben
das Vihe weg, wie man dann ein Kalp oder zwei/ also das die
Hirten beg ihn fuhren haben m^s.
Mit der auf solche Art erledigten Frage nach der Vorführung
von Tieren ist das Problem der Darstellung ganz kleiner Kinder
nahe verwandt. Sie spielen in Hans Sachsens Drama eine große
Rolle; meist wird ausdrücklich vorgeschrieben, daß sie gewickelt
sind, z. B. in der Unschuldigen Kaiserin 1551, KG. 8, S. 142, in der
Kindheit Mose 1553, KG. 10, S. 84; im Abraham 1558, KG. 10, S. 43;
im Cyrus 1557, KG. 13, S. 297 wird das Kind gewickelt gebracht,
S. 300 decken der Hirt und seine Frau es auf. In allen diesen Fällen
wird man zweifeln können, ob irgend eines Meistersingers Frau
ihren Säugling hier für die Theaterzwecke hergegeben hat; un-
möglich wäre es nicht. Wenn dagegen in der Zerstörung Jerusa-
lems 1555, KG. 11, S. 330 es von Sabina heißt: sie küst das kindt,
schneidt ihm darnach die kälen ab mit vmbgewenten angesichts so
wird man sicherlich der Ansicht sein, daß hier eine Puppe zur
Verwendung gekommen ist. Zwar werden auch Personen, die ganz
bestimmt durch wirkliche Darsteller verkörpert worden sind, auf
der Bühne vor den Augen des Zuschauers scheinbar getötet, die
Zunge wird ihnen ausgeschnitten und dergl. mehr; aber wenn sich
solche Scheinverletzungen mit Erwachsenen leicht ausführen ließen,
so war es doch sicherlich zu gefährlich, an hilflosen Kindern mit
immerhin gefährlichen Waffen und noch dazu mit vmbgewenten
angesicht herumzuhantieren. Völlig 'entscheidend aber sind die
Bühnenanweisungen in der Empfängnis und Geburt Johannis und
Christi 1557, KG. 11, S. 194, wo es u. a. heißt: Der knecht reist
das kind bey dem kopff von ir, stößt sie hinweg . . . Er schlecht
das kindt an ein wandt, durchsticht es, lest es liegen. — Dagegen
ist für die Darstellung des dreijährigen Knaben in der Kindheit
Mosis 1553, KG. 10, S. 92 unbedingt ein Kind verwendet worden:
der kleine Moses hat zwar nicht zu sprechen, aber zu agieren.
Fragen wir nun auch hier wieder nach dem Verhältnis zur mittel-
alterlichen Theatertradition, so lassen uns die szenischen Bemerkun-
gen der geistlichen Dramen insofern im Stich, als nirgendswo mit
1) Vgl. o. S. (iSf. Der Sclinuplatz muß liit-r allerdings die Nürnberger Bühne an (iröße
wesentlich übertroffen haben.
Kinder auf der Bühne. Das Schiff. 87
Sicherheit auf die Verwendiintr von wirklichen Kindern oder Puppen
ein Schluß getan werden kann'). Lehrreich sind dagegen wieder
die Luzerner Aufführungen des 16. Jahrhunderts. In einem Bühnen-
rodel vom Jahre 1583 ist für die vier Weiber, deren Kinder Herodes
ermorden läßt, die folgende Rüstung vorgeschrieben : Sie sond
ouch haben jre Wiegen und die gemachte Kindlin; dagegen wird
für Maria angegeben : zur Wiehnacht sol sij ein suhers Knäblin
haben, vngefadich Ijärig in einem schönen Hemmetlin ').
Auf der Lyoner Darstellung jener Szene der Terenzischen Andria,
in der das Kind auf die Straße gelegt wird, und die wir vielleicht
heranziehen dürfen, w^eil wir, wie im zweiten Teil dieses Buches
gezeigt wird, für den Lyoner Terenz Zusammenhang mit dem wirk-
lichen Theater annehmen können, läßt sich zwar dem Wickelkind
selber nicht ansehen, ob ein wirklicher Säugling oder eine Puppe
gemeint ist; der Umstand aber, daß ihm fürsorglich ein Zweig unter-
gelegt ist, läßt wohl darauf schließen, daß der Künstler ein leben-
diges Kind im Sinne hatte. — Im ganzen werden wir sagen dürfen :
wenn wir bei Hans Sachs nicht in allen Fällen mit Sicherheit ent-
scheiden konnten, um was es sich handelte und anderseits neben
der zweifellosen Verwendung von Puppen doch ebenso zweifellos
wenigstens ein dreijähriges Kind die Bühne beschreiten sahen, so
entspricht dieser schwankende Zustand offenbar den auch sonst
herrschenden Theaterverhältnissen jener Zeit.
In all den bisher erörterten Fällen handelte es sich um die Art
und Weise, auf die sich die Nürnberger Bühne mit der Darstellung
der für die Handlung unbedingt notwendigen Requisiten abfand.
Sie brachte es aber wenigstens in einem Falle soweit, auch der
Schaulust des Publikums auf dem Gebiete der Requisiten kurz vor
dem Abschluß der Hans Sachsischen Tätigkeit eine entschiedene
Konzession zu machen. Diese Konzession bezieht sich auf die Vor-
führung eines wirklichen Schiffes. Wie der Dichterregisseur auch
dort, wo der Stoff die Verwendung eines Schiffes nahe legte, sich
ohne entsprechendes Requisit zu helfen vermochte, zeigt deutlich
das Drama Die Unschuldige Kaiserin vom Jahre 1551 : KG. 8, S. 146.
Hier ist nach dem früher bei der Behandlung der Dekorationen
erörterten Verfahren im Dialog sehr viel vom Schifflein die Rede,
und wir erblicken den schiffmann mit seinem rüder; die Szene auf
dem Schiff selber aber ist vermieden, und wir sehen den Schiffs-
mann nur auftreten und nachher wieder abgehen. Ganz anders
aber wird es seit dem Jahre 1559. Im August vollendet Hans Sachs
seine Beritola; hier wäre (KG. 16, S. 105 ff.) jenes eben charak-
terisierte Verfahren wieder sehr gut am Platze gewesen. Tatsäch-
1) Wieso Heinzel, Beschreib, d. geistl. Schausp.. S. 33 mit solcher Sicherheit Puppen
einsetzt, ist mir nicht begreiflich.
2) Vgl. Germania 30, S. 382 f.
88 Das Schiff.
lieh aber heißt es in der szenischen Bemerkung: Beritola kombt
mit dem schiff und nachher: Beritola küsset die knaben und steigt
aiiß dem schiff. Sie fahrn mit dem schiff ab. Und aus dem da-
zwischenUegenden Dialog sehen wir, daß sich auf diesem Schiff
außer Beritola auch die Amme mit Beritolas beiden Kindern be-
funden haben muß. Gleich im Oktober desselben Jahres nutzt nun
Hans Sachs in der Komödie Wilhalm von Orlientz das neuge-
schaffene Requisit wieder aus; der verwundete Held kommt zum
Fährmann, der ihn übersetzen soll, und während es für die Handlung
vollkommen gleichgültig ist, ob diese Überfahrt sich vor unsern
Augen vollzieht, während Hans Sachs in früheren Jahren den
Helden mit dem Fährmann einfach hätte abgehen lassen, heißt es
hier (KG. 16, S. 82) von Wilhalm: er . . tritt ins schiff, fehrt mit im
ab. Zum dritten Mal bekommt das Publikum dann das beliebt ge-
wordene Schaustück in der Kleopatra des Jahres 1560 zu sehen.
Die Seeschlacht bei Actium wird hier zwar (KG. 20, S. 217 f.) in der
gewöhnlichen Weise als Landkampf dargestellt; zum Schluß aber
steht in der szenischen Bemerkung: Da schlagen sie lang an ein-
ander, in dem fehret die königin darvon. Offenbar hat sie während
des Kampfes in jenem Schiffsrequisit gesessen, das man sich in
all den drei gekennzeichneten Fällen so vorzustellen hat, daß ein
schiffähnliches Ding auf Rädern durch den hinteren Vorhangsspalt
ein Stückchen auf die Bühne hinausgeschoben und dann wiederum
von hinten zurückgezogen wird. — Dieser ganzen Theorie, daß es
sich hier wieder einmal um eine Vervollkommnung eines szenischen
Apparates handelt, die erst in die letzten Jahre von Hans Sachsens
Regisseur-Tätigkeit fällt, scheint nun freilich e i n Drama im Wege
zu sein: der Prophet Jonas aus eben jenem Jahre 1551, in welchem
wir Hans Sachs vorhin noch durchaus ohne Schiffsrequisit aus-
kommen sahen. Hier heißt es gleich im ersten Akt (KG. 11, S. 82 ff.):
Beliis, der erst schiffmann im schiff, spricht Jona gibt im
gelt und steigt in das schiff Sie faren heriimb Sie
werffen Jona auß dem schiff Sie faren dahin im schiff.
Mir scheint aber diese ganze Darstellung nicht ursprünglich zu sein.
Die komplizierte Technik, mit deren Hilfe das Schiff hier auf der
ganzen Bühne herumfahren könnte, wäre dem bescheideneren Ver-
fahren der späteren Jahre sogar weit überlegen. Wie man Jonas aus
diesem Schiff in den Walfischbauch werfen soll, aus dem er dann
im Anfang des nächsten Aktes herauskommt, ist auch nicht recht
begreiflich. Daß es mitten in der geschilderten Szene von dem
einen Schiffer, der doch auf dem Fahrzeug sitzen muß, plötzlich
heißt: Balim, der ander schiff mann, kummet . . .widerspricht auch
durchaus der Situation. Dagegen ist im Dialog dieser Szene so
viel vom Schiff die Rede, daß wir durchaus an des Dichters Kunst-
griff erinnert werden, das nicht Vorgestellte durch häufige Nennung
Das Schiff. ' 89
des Wortes in der Phantasie der Zuschauer aufsteigen zu lassen.
Endlich wäre es doch ganz unbegreiflich, wenn Hans Sachs ein
vorhandenes und so ausgezeichnetes Requisit in der Zwischenzeit
zwischen 1551 und 1559 auch da nicht verwendet haben sollte, wo
der Stoff es im äußersten Maße wünschenswert erscheinen ließ,
also z. B. im Tristan-Drama vom Jahre 1553. Haben wir nun aber
irgendwie die Möglichkeit, eine nachträgliche Redaktion des Pro-
pheten Jonas zu behaupten? Dieses Stück liegt uns nur in der
Fassung der Folio-Ausgabe vor, Hans Sachsens Handschrift ist ver-
loren, und wir haben als Rest der etwaigen ursprünglichen Gestalt
nur die Eintragung in des Dichters General-Register. Hier zeigt
sich nun zwar, daß am Dialog kaum etwas Wesentliches verändert
sein wird, da die Anzahl der Verse die gleiche geblieben ist; wohl
aber sind die ursprünglichen fünf Akte jetzt in vier verwandelt, in
den szenischen Bemerkungen sind also Veränderungen vorge-
nommen, und wir haben somit durchaus das Recht, jene auf das
Schiff bezüglichen Angaben für interpoliert zu erklären. Die Bühne
wird ursprünglich, wie es dann z. B. auch im Tristan der Fall ist,
während längerer Zeit einfach das Verdeck des Schiffes dargestellt
haben, das sich der Zuschauer nach den Andeutungen des Dialogs
zurechtzulegen hatte. Unter dieser Voraussetzung sind die szeni-
schen Vorgänge jenes Aufzuges, die auf dem doch unbedingt nur
kleinen Schiffsrequisit unmöglich hätten dargestellt werden können,
zwanglos zu erklären, nun ist vor allem jenes kummet begreiflich,
und wenn Jonas aus dem Schiff geworfen wird, heißt das nichts
anderes als: er wird nach der früher öfter erörterten Art in die
von uns entdeckte Altarraumtür gestoßen, aus der er dann im
nächsten Akte wieder auftaucht, als käme er aus dem Walfisch-
bauch. Die redaktionelle Arbeit Hans Sachsens aber, bei der er
das Jonasdrama für die Aufnahme in die Gesamtausgabe seiner
Werke zurecht machte, fällt in das Jahr 1561, in die Zeit also, in
der er eben die Wirkung jenes neuen Requisits in drei Fällen er-
probt hatte; es mußte ihm also nahe liegen, hier nachträglich ein
paar szenische Anweisungen einzuschieben, die das Schiff nun auch
dem älteren Drama dienstbar zu machen suchten.
Ein einigermaßen ähnliches Requisit hat auch die mittelalter-
liehe Bühne schon gekannt, insofern die Arche Noae als ein großes
Boot vorgestellt wurde 0 ; den Kahn, der bei der Züricher Aufführung
des , Wilhelm Teil verwendet worden ist, werden wir in diesem
Zusammenhange nicht nennen dürfen, weil es sich hier um ein
wirkhches Boot gehandelt haben wird, das auf dem Wasser schwamm.
Daß aber die Technik um die Mitte des 16. Jahrhunderts imstande
war, eine solche auf Rädern gehende Schiffsnachbildung herzustellen.
1) Vgl. He inzel, S. 32.
90 Feuerwerk.
brauchen wir nicht nur als selbstverständhch anzunehmen: ein
Einzelblatt z. B., das uns den Brüsseler Festzug bei der Totenfeier
für Karl V. im Jahre 1558 vorführti), gibt uns eine deutliche Vor-
stellung davon, wie ein solches auf Rädern laufendes Schiffsmodell
ausgesehen haben mag.
Und da wir nun hier von einem Schaustücke gesprochen haben,
so mag anhangsweise gleich auch vom Feuerwerk die Rede
sein, das ja streng genommen zu den Requisiten nicht gehört.
Wenn wir den Begriff Feuerwerk sehr weit fassen, so enthält
auch der HS. eine dahingehörige Stelle. In der großen Bühnen-
bemerkung nach Vers 198, in der Sewfrids Kampf mit dem Höhlen-
drachen geschildert wird, heißt es : der trach geit die fluecht, lauffen
paid ab. Daus macht Sewfrid ain rawch, sam verprenn er den
trachen. Der Rauch mußte also für den Zuschauer sichtbar hinter
dem die Bühne abschließenden Vorhang aufsteigen; es war immer-
hin einigermaßen feuergefährlich, in dem engen Raum zwischen
Vorhang und Altar eine derartige Manipulation vorzunehmen. Wie
man sich geholfen hat, zeigt eine szenische Bemerkung im Alexan-
der 1558 (KG. 13, S. 518), wo der weise Calanus hinter der Szene
sich selbst den Flammentod gibt : Da mag man aussen mit nassem
stro ein rauch machen, samb verbren er sich Aber auch
größere Anforderungen werden gestellt, zu deren Ausführung
eine wirkliche Feuerwerkskunst gehört. Im Gideon 1556 (KG. 10,
S. 151) lesen wir: Gideon setzt korb vnd hafen nider, geust die brü
auß; der enget rürts mit dem stab an, geht fewr raus, und im
Abraham 1558 (KG. 10, S. 35) heißt es beim Untergang Sodoms:
Nach dem fecht es an, regnet fewer.
Von den Feuerwerkskünsten des mittelalterlichen Theaters
wissen wir wieder nichts zu sagen; Donner und BHtz wird hier
allerdings vielfach verlangt^, aber über das Wie der Ausführung
ist nichts gesagt. Hans Sachs scheint für die Darstellung des Ge-
witters die Pyrotechnik nicht bemüht zu haben; wenigstens heißt
es in Romus und Remulus 1560 (KG. 20, S. 180) : Da machet man
ein gerümpel als ob es donner und ein vngestiimm weiter sey,
dasselbe „Gerümpel", das auch andere akustische Hergänge hinter der
Bühne andeuten muß; im Simson 1556 (KG. 10, S. 213) z. B. steht:
Der knab führt Simson hin; denn wirt ein groß gerümpel, samb
falle das rathauß ein, und ebenso werden im Josua 1556 (KG. 10,
S. 108) Jerichos Mauern umgeblasen: Die statt feit mit gerümpel.
Die Schweizer Bühnenrodel aus dem Ende des 16. Jahrhunderts
empfehlen für pyrotechnische Zwecke besonders ein Pulver, das
man in Mailand ausgezeichnet herzustellen verstände^). Narhamers
1) Abgebildet bei Hymans, Bruxelles ä travers les ät^es 1881. 1, S. 81.
2) Vgl. Heinzel, S. 32.
3) Brandstetter, Die Regenz bei den Luzerner Osterspielen 1886, S. 11.
F"euenverk. Herbeischaffung der Requisiten. 91
Hiobdrama vom Jahre 1546 liefert auch wieder einen kleinen Beitrag;
hier heißt es (fol Aviija) bei der Schilderung von Hiobs Opfer: Jetzt
bet er zu Gott und thiit sein opffer, wie man das von Wollen, oder
Flachs, mag zurichten, das vom Fewer so es angezündet, inn die
höhe geführt.
Im. übrigen scheint die Geschichte der Feuerwerkskunst noch
ganz ungeschrieben zu sein. Daß diese Kunst aber in Nürnberg
zu Hans Sachsens Zeit schon auf einer ansehnlichen Höhe sich be-
fand, die es dem Regisseur ermöglichte, Feuer regnen und aus einer
Flüssigkeit eine Flamme hervorgehen zu lassen, entnehmen wir nicht
nur jener oben zitierten Stelle aus Hans Sachsens Gedicht über
Karls V. Einzug in Nürnberg i); ein bildender Künstler jener Periode,
der während des letzten Teils der theatralischen Tätigkeit Hans
Sachsens nach Nürnberg kam, Jost Amman, hat uns ein Blatt hinter-
lassen, auf dem ein Feuerwerk dargestellt ist, welches im Jahre 1570
auf der Burg zu Nürnberg stattfand"); hier sehen wir verschieden-
artige Raketen steigen, die durchaus mit den heutigen Leistungen
auf diesem Gebiete übereinzustimmen scheinen.
Nachdem wir so hinsichtlich der Requisiten die Materialfrage
behandelt haben, treten wir nun an die
Lokal- und Personalfrage
heran. Wer bringt die Requisiten auf die Bühne und woher werden
sie gebracht? Am einfachsten steht es jedenfalls um diejenige
Gattung von Requisiten, die nicht vom Beginn der Szene an, in der sie
gebraucht werden, in dem Räume sich befinden dürfen, den die Bühne
gerade darstellt. In diesem Falle müssen sie also aus einem andern
Raum geholt werden. Der Dichter pflegt einen Auftrag dazu an
eine bestimmte Person erteilen zu lassen, und der terminus technicus,
der in diesem Falle zur Anwendung kommt, scheint bringen zu
sein. Hier steht es mit den Requisiten und mit der Art, in der sie
auf die Szene kommen, nicht anders als mit den Personen, die erst
während der Szene hinzugeholt werden, und auch in bezug auf
sie kommt der Ausdruck bringen zur Verwendung. Das sehen
wir auch im HS., wo es nach v. 99 heißt: Der herolt naigt sich, get
ab, pringt Sewfrid und nach v. 252 : Der herolt pringt Crimhilden.
In diesen beiden Fällen, die wir nicht durch analoge aus andern
Dramen vermehren wollen, treten Sewfrid oder Crimhild mit dem
Herold durch den Hintervorhang oder durch die Sakristeitür auf
die Bühne. — Bringen steht auch dort, w^o nicht eine auf der
Bühne stehende Person den Befehl zum Herbeiholen einer Sache
erteilt, sondern wo der Auftrag von einer draußen befindlichen
1) Vgl. oben S. 63 f.
2) Expl. im Berliner Kupferstich-Kabinett; vgl. Andresen, Le peintre-graveur.
92 Requisiten: Lokalfrage.
Persönlichkeit ausgeht oder wo die Herbeischaffung aus eigenem
Antriebe des Auftretenden erfolgt, der kurz vorher zu solchem
Zwecke die Bühne verlassen hat; so im HS. nach v. 679: Der zwerg
pringt ain güelden schalen mit confect und spricht ferner
z. B. KG. 12, S. 377, 477, 509; 13, S. 27. In allen diesen Fällen werden
die Hauptaufgänge der Bühne benutzt, ohne daß das der Phantasie
der Zuschauer irgend welche Störung bereiten kann.
Mit der weitaus größeren Zahl von Requisiten steht es anders.
Sie befinden sich gleich von Beginn der Szene an in dem Räume,
in dem diese spielt, oder es liegt wenigstens nichts daran, zu be-
tonen, daß sie erst herbeigeschafft werden müssen : sie sind irgend-
wo, und es kommt nur darauf an, sie möglichst schnell an der be-
treffenden Stelle der Handlung zur Hand zu haben. Hier ist der
einfachste Fall der, daß die betreffende Person, die den Gegenstand
braucht, ihn gleich in ihren ersten Worten erwähnt oder daß sie
in der vorhergehenden Szene, an der sie beteiligt war, ihn in der
Hand tragend abgegangen ist. So ist es im HS. z. B. vor v. 193:
Sewfrid kiimpt mit dem korb oder vor v. 499: Der ries Kuperan
tregt ain grosen schluessel; dieser Fall ist so häufig, daß wir darauf
verzichten können, die Beispiele aus Hans Sachsens sämthchen
Werken zusammenzustellen, und der normale Ausdruck ist hier
durchaus: kummt mit . . oder geht ein mit; fließend sind hier
natürlich die Grenzen nach der Seite des Kostüms hin, da man z. B.
kaum noch wird sagen können, ob das Gebetbüchlein, das der Ein-
siedler mitbringt, und sein Rosenkranz als dauerndes Requisit be-
zeichnet oder zur Kleidung gerechnet werden müssen. Hier wird
also das Requisit im Beginn der Szene genannt, weil es eben sofort
gebraucht wird. Auch sonst aber ist es Hans Sachsens Prinzip, in
der szenischen Anweisung das Requisit erst da namhaft zu machen,
wo es für die Handlung notwendig wird, ohne daß da noch von
einem bringen oder dergl. die Rede ist.
Die Frage ist nun die: wo befinden sich derartige Requisiten,
ehe sie gebraucht werden? Sollen wir annehmen, daß vor dem
Beginn jeder Szene, in der ein Requisit zur Verwendung kam, nicht
zur Handlung gehörige Theaterdiener erschienen und vor den Augen
des Publikums das Requisit auf die durch keinen Vorhang abge-
schlossene Bühne stellten? Die Frage ist wichtig, denn wenn wir
sie bejahen müßten, würde es sich ergeben, daß die Bühne der
Meistersinger an die Phantasie ihrer Zuschauer nicht nur die An-
forderung stellte, dorthin im Geiste etw^as zu zaubern, wo tatsäch-
lich nichts war, sondern daß ihr auch zugemutet wurde, eine fort-
währende Illusionsstörung, ein ständiges Herausgerissenwerden aus
der mühsam geschaffenen fremden Welt auf sich zu nehmen. Es
wird sich von vorneherein empfehlen, so lange es irgend angeht,
nicht mit einer derartigen Annahme zu rechnen, sondern zu ver-
Requisiten: Herbeisclialfung. 93
suchen, wie weit wir aus den szenischen Verhältnissen heraus die
Lösung jener Aufgabe auf andere Art zu erklären vermögen.
Das einfachste Verfahren war ganz gewiß dies, daß der be-
treffende Gegenstand, auch wo er nicht sofort im Beginn der Szene
in die Handlung hineingezogen wurde, von einer der auftretenden
Personen mitgebracht ward. In sehr vielen Fällen war das natür-
lich auch dem Sinn nach sehr gut möglich. Daß z. B. im Alt reich
burger (KG. 12, S. 131) der Vater beim Auftreten den Wechsel
schon in der Hand hält, den er dann seinem Schuldner Lamprecht
bei der Rückgabe der entliehenen Summe wieder zustellt, bedeutet
keine Zumutung an den Intellekt der Zuhörer, da wir alsbald hören,
daß er den Schuldner an diesem Tage erwartet hat. So mag auch
Frau Glück im Fortunatus (KG. 12, S. 192 ff.) den Glücksseckel,
den sie nachher dem Helden übergeben wird, von vornherein in
der Hand tragen. Etwas bedenklicher ist es vielleicht schon, wenn
in der Rosamunda (KG. 12, S. 406) König Albuinus gleich mit jenem
aus dem Schädel des Gepidenkönigs gefertigten Pokal erscheint,
aus dem er nachher seine Gemahlin zu trinken zwingt; da er sich
aber gleich in seiner ersten Rede dieser Trophäe rühmt, wird es
auch nicht zu sehr befremdet haben, wenn er diesen Becher von
vornherein in der Hand hielt. Aber nicht in allen Fällen hegt die
Möglichkeit dieses Verhaltens vor, selbst wenn wir eine kleine Un-
wahrscheinlichkeit mit in den Kauf nehmen. Wenn im Verlauf
einer Unterredung ein Gegenstand gefordert wird, an den der Mit-
unterredner unmöglich vorher schon gedacht haben kann, so geht
es auch nicht an, ihn schon vorher ihm in die Hand zu geben. So
steht es, um ein paar Beispiele herauszugreifen, im Florio (KG. 8,
S. 327), wo Florio im Gespräch mit dem Herzog Ascheion an ihn
die Forderung stellt: Gieb ein sack mit ducaten her! und wo es
dann in der szenischen Bemerkung heißt: Hertzog Ascheion geit
im ein sack, oder im Alt reich burger (KG. 12, S. 132), wo der
Vater von seinem Sohne eine Goldwage verlangt, eine Forderung
auf die der Sohn vorher unbedingt nicht gefaßt gewesen sein kann
und die er dann doch sofort zu erfüllen vermag. Daß Hans Sachs
auch in solchen bedenklichen Fällen gelegentlich nicht davor zu-
rückscheut, den betreffenden Gegenstand von vorneherein mit-
bringen zu lassen, scheint eine Stelle im Cyrus (KG. 13, S. 329) zu
zeigen; hier heißt es: Thomiris, die küngin, kumbt mit einer bälgen
mit blut vnnd spricht. Nachdem sie dann in vierzehn Versen den
Ruhm ihres Sieges verkündet und einige Anweisungen für die Ihrigen
gegeben hat, fährt sie, von dem Haupte des Königs Cyrus redend, fort :
Bringt auch ein gfeß mit mensche nblut,
Darinn man sein haiibt trencken thut,
sie gibt also den Befehl das herbeizuholen, was sie in Wirklichkeit
94 Requisiten: Herbeischaffung.
schon in der Hand hält. Tatsächhch aber wird hier wolil nur ein
Versehen des Dichters vorhegen, er wird vergessen haben, daß er
die Königin bereits mit jenem Gefäß hat auftreten lassen. Darauf
deutet auch eine nach weiteren zehn Versen folgende szenische
Anweisung: Sie stöst das todt haiibt in ein gefeß mit blut. Hans
Sachs hätte nicht „ein", sondern „das" Gefäß geschrieben, wenn
er noch im Sinne gehabt hätte, daß es schon einmal erwähnt war.
So werden wir für eine große Anzahl von Fällen doch nach
einem andern Ausweg zu suchen haben. Woher nehmen, um ein
charakteristisches Beispiel aus dem HS. zu bringen, Sewfrids Mörder
das Reisig, mit dem sie nach v. 1073 laut Angabe der szenischen
Bemerkung seine Leiche zudecken? Gibt es einen Platz auf der
Meistersingerbühne, der nicht eigentlich draußen liegt und an den
die betreffenden Gegenstände doch erst im entscheidenden Moment
unauffällig von außen her gesetzt zu werden brauchen? Ein solcher
Platz ist auf der von uns rekonstruierten Bühne tatsächlich vor-
handen ; es ist die Stelle, die uns schon aus so mancher Verlegen-
heit geholfen hat: die neuerschlossene Altarraumtür. Sie stellt
in der größten Mehrzahl der Stücke für den Zuschauer keinen Auf-
gang zur Bühne und keinen Abgang vor, ja, sie ist sozusagen ge-
wöhnlich überhaupt nicht vorhanden: eine Öffnung von geringer
Höhe, die man leicht übersieht. Von hier aus nun ließen sich, ohne
daß die auf der Bühne befindhchen Personen abzugehen brauchten,
und ohne daß ein Theaterdiener sichtbar wurde, beliebige Gegen-
stände im entscheidenden Moment heraufreichen. Von hier also
konnten z. B. im HS. die drei Brüder das Reisigbündel nehmen,
um Sewfrids Leiche zu bedecken. Gelegentlich läßt sich sogar der
Zusammenhang dieser neuen Aufgabe der Altarraumthür mit ihren
sonstigen Funktionen deutlich machen. Im Abraham 1558 (KG. 10,
S. 38) heißt es von Lots Töchtern, die ihren Vater trunken machen
wollen: Die töchter nemen wein in ein giildine schaln. Da wir
nun vorher gehört haben, daß Lot mit seinen Töchtern in einer
Höhle hauste, empfahl es sich besonders, die beiden Mädchen den
Wein und die Schale aus der Altarraumtür nehmen zu lassen, die
ja auch sonst, wie wir gesehen haben, der Phantasie des Zuschauers
als Eingang zu einer Höhle gelten mußte. Wenn im Fortunatus
1553 (KG. 12, S. 201 f.) der Sultan aus seiner Schatzkammer den
Wunschhut herausnimmt, um ihn dem Fortunat zu zeigen, so war
es gewiß besonders praktisch, daß er ihn aus jener Türöffnung
nahm: sie stellte in diesem Falle zugleich die Schatzkammer dar,
auf deren sonstigen köstlichen Inhalt der Eigentümer seinen Gast
in den der Überreichung des Hutes vorausgehenden zwanzig Versen
genau aufmerksam macht. Wenn in Nabot 1557, KG. 10, S. 411
die zwei falschen Zeugen den Angeklagten mit Steinen zu Tode
werfen, so wird es ihnen um so leichter, die gemachten steine aus
Requisiten: Herbeiscliaüung. 95
der Altarraumtür zu nehmen, als sie ihr nach der ganzen Bühnen-
situation offenbar am allernächsten stehen. Aber auch sonst wird
die Verwendung dieser Stelle der Bühne fast aus allen Schwierig-
keiten heraushelfen. Nun könnte man aber vielleicht noch der
Meinung sein, in allen diesen Fällen, wo es ausgeschlossen erscheint,
daß eine Person gleich im Beginn der Szene mit dem betreffenden
Requisit auftritt, sei irgend jemand hinter den Vorhang ge-
gangen und habe von dort den Gegenstand herbeigeholt; es werde
also hier nicht anders verfahren als in denjenigen Situationen, für
die wir oben den terminus technicus bringen als bezeichnend
angesehen hatten. Es läßt sich aber zeigen, daß Hans Sachs diese
Bringe-FäWe von den hier in Betracht kommenden ganz charakte-
ristisch und zwar nicht nur durch die Verwendung jenes terminus
unterscheidet. Während in denjenigen Fällen nämlich, wo jemand
etwas zu bringen d. h. wo er die Bühne zu verlassen und sie dann
erst wieder mit dem Gegenstand zu betreten hat, wo also durch
dieses Herbeischaffen des Requisits im Dialog eine größere Pause
entsteht, der Dichter-Regisseur vorher das Gespräch stets mit einem
vollen Reimpaar beschließen läßt^), finden wir in denjenigen Situationen,
um die es sich hier handelt, mit der gleichen fast vollständigen
Ausnahmslosigkeit den Stichreim verwendet, d. h. die Herbeischaffung
des Requisits fällt zwischen die Reden zweier Personen, die durch
die Reime miteinander verbunden sind. Während also in jenen
Fällen die Möglichkeit zum Eintreten einer größeren Pause gegeben
ist, ist sie hier ausgeschlossen. Die Verteilung eines Reimpaars
auf die Reden zweier Personen wird, sobald ein größerer Zeitraum
zwischen sie gelegt wird, aus einem Kunstmittel zu einer Sinnlosig-
keit; anderwärts aber-) ist gezeigt worden, daß Hans Sachs das
Kunstmittel des Stichreims mit der größten Feinfühligkeit handhabt.
Wenn aber die betreffenden Requisiten an der Altarraumtür, also
auf der Bühne selbst bereit gehalten wurden, so brauchte tatsäch-
lich eine nennenswerte Pause im Dialog nicht einzutreten.
Wer das betreffende Requisit herbeilangt, soll hier nicht aus-
führlich erörtert werden: im allgemeinen wird es die betreffende
Person sein, die mit dem Gegenstande zu agieren hat; unter Um-
ständen kann das auch der König selbst sein, wie im Abraham
1558 (KG. 10, S. 41), denn offenbar sitzt der König hier ausnahms-
weise einmal nicht. Wo das aber ;der Fall ist und wo wir also
nicht erst annehmen mögen, daß er von dem Chorstuhl herunter-
steigt und zur Altarraumtür sich begibt, pflegen Trabanten oder
andere Personen auf der Szene zu sein, die ihn bedienen können. —
Auch die Frage: wohin wird das Requisit auf der Bühne gestellt, wenn
1) Vgl. KG. 8, S. 157, 209; 10, S. 107. 143, 440; 11, S. 73; 12, S. 92, 406; 18,
S. 329, 517; 15, S. 64; 16, S. 173; 20, S. 199.
2) Vgl. Herrmann, Hans Sachs-Festschrift der Stadt Nürnberg, 1894, S. 407 ff.
96 Requisiten: Herbeischatfung.
es nicht in den Händen der Agierenden bleibt? wird prinzipiell
nicht beantwortet werden können, das wird vielmehr von den be-
treffenden Ansprüchen jedes einzelnen Stückes abhängig bleiben.
Im Jüngling im Kasten 1557 (KG. 13, S. 246 f.) steht:
Der artzet hat ein glaß mit wasser vnnd spricht:
Nun wil ich das tolm-dranck zu- richten
Das er des schmertzen entjjfindt mit nichten
Vnd wil in den lufft setzen das
Für das fenster in diesem glas.
Er setzt das glas nider.
Dieses Glas spielt dann weiter noch eine entscheidende Rolle im
Stück, und es ist offenbar nötig, daß es an einer dem Auge besonders
auffallenden Stelle steht; vielleicht daß es wirklich für das fenster
d. h. oben auf den Sims des Kirchenfensters gestellt worden ist. —
Im übrigen kann umgekehrt die Ermittlung, daß viele Requisiten
aus der Altarraumtür genommen wurden, dazu dienen, uns in
manchen Szenen den Standort der mitspielenden Personen erkennen
zu lassen.
Vor allem aber scheinen wir durch diese Ermittlung nun so
weit gekommen zu sein, daß wir kaum noch jenes illusionsstörende
Auftreten von Theaterdienern anzunehmen brauchen. Freilich:
einige wenige Situationen bleiben übrig, in denen man zunächst
weder an ein Mitbringen noch an ein Holen von jener Tür wird
denken mögen. Eine solche Situation findet sich gerade im HS.
Hier steht mitten in der Szene, die uns den jungen Sewfrid in der
Schmiede zeigt, nach v. 153: Sewfrid thuet ain grawsamen schlag
auf den ampos. Wo kommt der Amboß her? Der Amboß in der
Schmiede pflegt fest auf seinem Platz zu stehen, und es geht nicht
gut an, daß ihn die Schmiede im geeigneten Moment erst aus der
Ecke herbeiholen. Minder schwierig steht es wohl mit dem Tisch
im Daniel 1557 (KG. 11, S. 50) und im König Sedras 1560 (KG. 16,
S. 173). In beiden Fällen wird in der szenischen Bemerkung aller-
dings nur angegeben, daß man den Tisch deckt oder zurichtet,
man wird wohl aber ruhig annehmen diu-fen, zumal der geschlossene
Reim vorher eine Pause ermöglicht, daß der Tisch in beiden Fällen
von des Königs Trabanten nun erst von draußen hereingetragen
wird, so wie in einigen andern Fällen geradezu vorgeschrieben ist,
daß man einen Sessel hereinbringt. Als Bett im König Saul 1557
(KG. 15, S. 57) und als Bank in der Cleopatra 1560 (KG. 20, S. 226)
diente vermutlich der Chorstuhl. Das Jägerhorn, das im vierten
Akt des Wilhelm von Oesterreich 1556 KG. 12, S. 506 plötzlich am
Stuhl hängt, konnte wohl unbemerkt schon vom Beginn des Stückes
an hinten am Chorstuhl befestigt sein. Wenn im Hagwarlus 1556
KG. 13, S. 241 und in der Arsinoe 1559 KG. 13, S. 552 die szenische
Wegschaffen der Requisiten. 97
Bemerkung vorschreibt, daß geplündert wird, so ist es freilich
vielleicht etwas bedenklich, anzunehmen, daß zu dem Zwecke erst
etwas aus der Altarraumtür oder unter dem Hintervorhang weg auf
die Bühne geschoben wurde. Im ganzen aber sind dieser nicht
recht erklärten Fälle so verschwindend wenige, daß wir um ihrer
allein willen nicht die Verwendung illusionsstörender Theaterdiener
werden annehmen mögen. Ganz aus der Welt geschafft aber ist
die Möglichkeit ihrer Existenz doch noch nicht: wenn sie für das
Herbeischaffen der Requisiten nicht gerade notwendig sind, so könnte
man doch vielleicht für das Fortschaffen nicht ohne sie ausge-
kommen sein.
So erhebt sich die letzte Frage: wie werden die Requisiten nach
ihrer Benutzung wieder von der Bühne weggebracht?
Viel mehr noch als beim Herbeischaffen versagen hier die aus-
drücklichen Angaben in den szenischen Bemerkungen. Als Haupt-
regel läßt sich aufstellen: das Fortschaffen des Requisits wird vom
Dichter nur in den verhältnismäßig wenigen Fällen ausdrücklich
bemerkt, wo in den letzten Worten des Dialogs besonders vom
Mitnehmen die Rede ist, wo es dem Inhalt der Handlung gröblich
widersprechen würde, wenn die abgehende Person den betreffenden
Gegenstand auf der Bühne stehen ließe'). Es zeigt sich also, daß
in dieser Hinsicht die szenischen Bemerkungen nicht eigentlich
theatralisch sind. In vielen Fällen, in denen das Abtragen der
Gegenstände theatralisch ganz notwendig ist, wird es nicht erwähnt.
Ein charakteristisches Beispiel findet sich im Sedras 1560 (KG. 16,
S. 172): der König hat von fremden Herrschern Geschenke empfan-
gen und teilt sie nun alsbald wieder aus; unter anderm sagt er:
Die krön zimt meiner köngin wol,
Das purpur mein bul haben sol.
Nach 18 weiteren Versen heißt es dann: Die königin gehet herein
in ihrer krön und deß königs bul im purpur. Mindestens also
Krone und Purpur müssen inzwischen von der Bühne entfernt
worden sein; aber keine szenische Bemerkung verrät etwas darüber.
Im allgemeinen aber ist der Schaden nicht groß, und die Ver-
hältnisse lagen hier, rein theatralisch betrachtet, so einfach, daß der
Dichter in seinen sämtlichen Bühnenanw^eisungen nicht noch be-
sonders aufmerksam darauf zu sein brauchte. Die meisten Requi-
siten bleiben während der Szene in der Hand dessen, der mit ihnen
agiert, und es ist natürlich, daß er sie auch mit hinaus nimmt.
Nicht beseitigt zu werden brauchten die Requisiten ferner am Schluß
des Stückes ; hier folgte der große Abschiedsaufzug aller Mitspielen-
den, und da woirde dem Auge der Zuschauer so viel geboten, daß
1) Solche SteUen sind KG. 8, S. 176, 310: 10. S. 20, 86; 11, S. 75: 12, S. 134, 207
18, S. 299, 310; 15, S. 62; 20, S. 118, 132, 154.
Herrmann , Theater. 7
98 Wegschaffen der Requisiten, Abtragen der Toten.
seine Aufmerksamkeit von etwa noch rechts oder hnks herumliegen-
den Gegenständen abgelenkt wurde, die dann entfernt werden
konnten, nachdem das Publikum die Kirche verlassen hatte. So
können in der Belagerung Samariae 1552, KG. 10, S. 464 die großen
Getreidesäcke ruhig stehen bleiben; so brauchen im Alt reich
burger des gleichen Jahres KG. 12, S. 140 die Teppiche mit dem
Schatz, der sich in Sand und Steine verwandelt hat, nicht fortgetragen
zu werden ; so bleiben im Hagwartus 1556 KG. 13, S. 241 die Maien
liegen, mit deren Hilfe die Burg erobert worden ist; so wird in der
Cleopatra 1560 KG. 20, S. 231 niemand darauf geachtet haben, wenn
die Lade, aus der Gift und Schlange genommen waren, stehen blieb ;
so brauchte auch in unserm HS. nach v. 1106 niemand das Reisig
zu beseitigen, das auf Sewfrids Leiche gelegen hatte. Wenn aus-
nahmsweise im Witfräulein mit dem Ölkrug 1556, KG. 10, S. 442
ausdrücklich steht: Sie tragen das öl aiiß, und wenn im Abraham
1558, KG. 10, S. 56 (vgl. S. 74) zu lesen ist: Die knecht kommen,
nemen das holtz, so mag das darum geschehen sein, weil das Öl
leicht umgeschüttet, der künstlich geschichtete Holzhaufen leicht
umgeworfen werden und dadurch Verwirrung in den großen Schluß-
aufzug hineinkommen konnte. Im übrigen sind stets am Schlüsse
der Szenen oder der Akte Personen auf der Bühne, die unauffällig
und so, daß es ihrer Stellung nicht widerspricht, ein etwa stehen
gebliebenes Requisit mit herausnehmen können, wenn kein ande-
rer da ist, wenigstens der Ehrenholdt, der ja in der Hofsphäre für
alle möglichen Aushilfsdienste stets zur Hand sein muß. Er wird
z. B. im Ahab 1557, KG. 10, S. 415 Zepter und Krone fortgebracht
haben, die der büßende König nach der Zwiesprache mit dem Pro-
pheten abgelegt hat. Er wird nach der Beschwörungsszene des
Alexander 1558, KG. 13, S. 481 das Becken fortgetragen haben, das
er vorher auch herbeigebracht hat. Höchst bezeichnend scheint
es mir zu sein, daß bei Hans Sachs in denjenigen Szenen, die
nicht am Hofe spielen, in denen der Ehrenholdt also nicht direkt zur
Verfügung ist, keine einzige Stelle sich findet, wo wir über die Mög-
lichkeit, Requisiten fortzuschaffen, in Verlegenheit geraten könnten,
und jedenfalls zeigt es sich deutlich : Hilfskräfte, die am Stück selbst
einen Anteil nicht haben, sind für die Beseitigung der Requisiten
nicht vonnöten.
Es bleibt aber in diesem Zusammenhang noch eine Frage zu
erörtern, von der wir an einer ganz andern Stelle (S. 58 ff.) schon
einmal kurz gesprochen haben. Auch hier handelt es sich um Fort-
schaffen von der Bühne, aber nicht um Beseitigung von Requisiten,
sondern um das Abtragen der Toten.
Die Nonnalform der Bühnenanweisung pflegt hier, mag es sich
nun um einen Toten oder um mehrere handeln, die zu sein: Sie
tragen den todten ab oder Man tregt den todten ab. So ist es
Abtrafjon der Toten. 99
schon an sich wahrscheinhch, daß zwei Männer jedesmal notwen-
dig sind, um einen scheinbar gestorbenen Darsteller von der Bühne
zu schleppen. Daß es sich so verhält, wird ganz deutlich im Wil-
helm von Österreich 1556 (KG. 12, S. 522); hier heißt es: Sie schla-
gen einander, bijS sie beide nider fallen. Die zwen Jäger klimmen
gelauffen, der erst Jäger spricht: . . . Die Jäger tragen den hertzo-
gen ab und klimmen wider zu dem todten könig Graneas . . . Sie
tragen ihn auch ab. Offenbar ging es also nicht an, jede der bei-
den Leichen von e i n e m Jäger fortschaffen zu lassen. Nur zweimal
in Hans Sachsens gesamter Produktion finden wir eine einzige Person
mit dem Tragen eines Toten beauftragt: im Jüngling im Kasten 1556
(KG. 13, S. 251): Die magt tregt den toden ab; das andere Mal in
der Witfrau Franziska 1560 (KG. 20, S.59): Rinutzo tregt den todten
daher. Es mag bemerkt werden, daß es sich in beiden Fällen um
Komödien und um die Fortschaffung von Scheintoten handelt; hier
durfte vielleicht der Tote mit seinen Beinen ruhig ein bißchen nach-
helfen, ohne daß das dem Publikum wider den Strich ging. In den
früheren Jahren werden gewöhnlich diejenigen, die den Totschlag
ausgeführt haben, auch wenn sie von vornehmem Stande sind, von
Hans Sachs zum Forttragen der Leiche verwendet; allmählich aber
wird es immer mehr der Normalzustand, daß Knechte oder Traban-
ten mit solchem Dienste betraut werden. Gewöhnlich wird die Fort-
schaffung nicht stillschweigend vorgenommen, sondern der Dichter
läßt die bestimmende Persönlichkeit ausdrücklich den Befehl zum
Abtragen der Toten erteilen, und nicht selten wird das Publikum
auch noch darüber orientiert, wohin die Leichen gebracht werden:
so z. B. im Hagwartus 1556 (KG. 13, S. 220), wo der König, dem
beide Söhne erschlagen sind, am Schluß des ersten Aktes zu den
Trabanten sagt:
Nun tragt sie allbaid in vnmiit
Gehn kirchen von dem sal herab,
Das man sie königklich begrab . . .
Solche Motivierung wird in diesen Jahren dermaßen geregelt, daß
man, wo sie fehlt, geradezu von einer Nachlässigkeit des Dichters
reden kann; ebenso kommt es vor, daß er auch die szenische An-
weisung über das Abtragen der Personen ganz vergißt. Wenn
beides, Motivierung und Bühnenanweisung, fehlt, können wir eigent-
lich immer den Grund für Hans Sachsens Vergeßlichkeit erkennen :
es pflegt dann der Fall zu sein, w^enn der betreffende Todesfall
nicht unmittelbar am Schluß eines Bildes oder eines Aktes erfolgt,
sondern wenn hinterher noch längere Gespräche geführt werden.
So steht es z. B. in der Jael 1557, KG. 10, S. 146, in der Arsinoe, 1559,
KG. 13, S. 571, in den Maccabäern 1556, KG. 11, S. 106 und beson-
ders in dem auch sonst liederlich gearbeiteten König Saul 1557.
KG. 15, S. 34, 37, 48.
100 Abtragen der Toten.
Freilich wird es sich nicht in allen Fällen, wo die betreffende
Bühnenanweisung vermißt wird, um Nachlässigkeit handeln, die wir
ruhig durch eine Ergänzung im sonst üblichen Sinne gut machen
könnten. Im Perseus 1558, KG. 13, S. 448, hat der Held in Gegen-
wart des Königs und seiner Tochter das Meerwunder umgebracht;
am Aktschluß aber, wo alle drei die Bühne verlassen, ist von einem
Forttragen des toten Ungeheuers nicht die Rede; und hier wäre es
auch schier unmöglich, daß auf dem einsamen Felsen mitten im
Meere plötzlich Trabanten erscheinen, um das tote Untier abzutragen.
So unmöglich, wie wenn auf dem öden Drachenstein des HS., den
keines Menschen Fuß Je betreten hat, zuerst der Leichnam des von
Sewfrid erlegten Riesen und dann der Kadaver des Drachen von
hinzueilenden Trabanten fortgebracht worden wären. Wir wissen,
wie Hans Sachs sich in diesen Fällen half): Sewfrid wurß in (den
Drachen) pey aim pain vberab . . . den (Drachen) wirft er auch
hinab. Riese und Drachen werden hinten am Vorhang vom Podium
geworfen, und so wird es auch mit dem Meerwunder des Perseus
geschehen sein. Hans Sachs vermeidet es also, Theaterdiener auf-
treten zu lassen, die in der betreffenden Situation unmöglich sind.
Wo diese nicht so schwierig ist, wo aber im entscheidenden Augen-
blick die Knechte oder Trabanten die Bühne bereits verlassen haben,
bemüht er sich gern, ihr Wiederauftreten wenigstens einigermaßen
zu motivieren, und so wird ihr Erscheinen in einer Situation, wie
sie im Alexander 1558, KG. 13, S. 488 vorliegt, die Zuschauer nicht
gar zu sehr befremdet haben. Nur ganz ausnahmsweise macht der
Dichter es sich einmal gar zu leicht, wie im Hugschapler 1556, KG. 13,
S. 7, wo die Knechte eigentlich nicht kommen dürfen, um den Ritter
abzutragen, da sie just von diesem Platze vorher geflohen sind.
Wenn im Drama Trabanten nicht auftreten, die den Dienst des Toten-
abtragens übernehmen können, so führt der Dichter wohl auch
Personen eigens dazu ein, die dann nicht im Personenverzeichnis
stehen. Aber es sind Statisten, die sich doch wenigstens in der
Kleidung der Situation passend einfügen, nicht Theaterdiener, die
fremd und störend in die vorgetäuschte Welt hineintreten würden.
Deutlich sehen wir das im HS., wo (vor v. 1074) in Crimhilds Ge-
folge ein Jäger erscheint, der den im Walde ermordeten Sewfrid
mit abtragen hilft ; ebenso wird es wohl auch in denjenigen Fällen
sein, die zweifelhaft bleiben, weil Hans Sachs keine Person in der
szenischen Bemerkung nennt, so z. B. in den Vier Liebhabenden
1556 (KG. 13, S. 207). Eine Art von Theaterdiener ist freilich immer
zur Verfügung: der Ehrenholdt, und dort wo er ohne die Illusion zu
stören in die Erscheinung treten kann, in der höfischen Sphäre also,
muß er sich denn auch, wenn niemand anders zu haben ist.
1) Vgl. oben S. 37.
Keine Theaterdiener. 101
beim Abtragen der Toten beteiligen ; so in der eben zitierten Stelle
des HS., wo er zusammen mit dem Jäger Sewfrids Leiche fortzu-
schaffen hat. Nur ganz wenige Stellen bleiben übrig, an denen
wir nicht erkennen können, durch welche Personen Hans Sachs die
auf der Bühne liegenden Toten hat wegbringen lassen: so wenige,
daß sie unsere Gesamtauffassung nicht zu erschüttern vermögen').
Diese Gesamtauffassung aber ist dieselbe, die wir für das Fort-
schaffen und auch für das Hineinbringen der Requisiten als richtig
erkannt zu haben glauben. Hans Sachs vermeidet es, die Illusion
durch das Auftreten nicht zur Handlung oder deren Sphäre gehöriger
Theaterdiener zu stören, und schiebt die für solche Zwecke not-
wendige Tätigkeit den Personen des Dramas selbst zu. So werden
wir also auch in dem einzigen Fall unseres HS., der unerklärt ge-
bheben ist, in der Frage, wie kommt der Amboß auf die Bühne?
lieber annehmen, daß die Schmiede eine leicht tragbare Nachbildung
eines Amboß bei ihrem Auftreten mit auf die Bühne bringen oder
alsbald aus der Altarraumtür holen, als daß wir uns zu der An-
nahme entschließen, Hans Sachs habe zwischen der Szene am
Königshofe und dem Bilde, das in der Schmiede spielt, ganz seiner
sonstigen Gewohnheit entgegen Theaterdiener auftreten lassen, die
einen Amboß auf die Szene stellten. Von den geistlichen Spielen
her war das Publikum wohl gewöhnt, daß die handelnden Personen
gelegentlich solche Zurüstung des Schauplatzes selbst vornahmen,
obwohl man hier natürlich im großen und ganzen ohne Theater-
diener nicht auskam. Noch in den Bühnenrodeln aus Luzern vom
Jahre 1583 heißt es in den Angaben, die sich auf die „Rüstung"
der zwölf Brüder Josephs beziehen2): Oiich söllent sy aen Sod-
brunnen oder Cistern rüsten, dargn sy Josephen werffend, derselbig
Brunn sol vnden am Platz stan gegem Platzbrunnen, den söllent
sy mit Ebhöw oder Lovbästen umstecken oder vmbbinden, doch sol
er wedei galg, Eymer noch anders oben drüber haben.
1) Es sind: Clinia und Agatocles 1555 KG. 12, S. 446; Vier Liebiiabende 1556 KG. 13,
S. 207; König Saul 1557 KG. 15, S. 37; Romulus und Remus 1560, KG. 20, S. 165; Anto-
nius und Cleopatra 1560 KG. 20, S. 231.
2) Germania 80, S. 328.
102
Kostüme.
Abb. 6: Nürnberger Musikanten. Aus Cod. Heldt fol. 164 (s. u. S. 129.)
Kostüme.
Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Theaterkostüme der
Hans Sachsischen Bühne richten, bemerken wir zunächst, daß wir
hier ein Material zur Verfügung haben, das über das gewöhnhch
zugrunde gelegte: die szenischen Bemerkungen hinausgeht. Bei
allem, was die eigentliche Bühneneinrichtung angeht, mußten wir
uns auf sie beschränken, denn die Andeutungen innerhalb des Dia-
logs dienten hier nur dazu, die Phantasie der Zuhörer zu veranlassen,
daß sie aus dem Nichts ein Etwas mache. Bei den Kostümen liegt
es nicht so: hier ist tatsächlich etwas vor die Augen des Publikums
gestellt worden; wo in den Reden der handelnden Personen auf die
Kostüme hingewiesen wird, dürfen solche Hinweise keinen Wider-
spruch gegen das wirklich Gesehene enthalten. Und so können
wir hier die Hindeutun<ren des Dialoirs zu den Anjiaben der szeni-
Kostüme in Hans Sachsens Eizäliliingen. 103
sehen Bemerkungen hinzunehmen. Ein sehr reichhaltiges Material
kommt freilich auch auf diese Weise nicht zAistande, offenbar des-
wegen, weil ein besonders wichtiges theatralisches Gebiet, ein Ge-
genstand eifriger und origineller Arbeit auch die Kostüme nicht
gewesen sind; das Material reicht aber, so bald wir es wieder in
den allgemeinen Zusammenhang einstellen, völlig aus, um uns über
die Nürnberger Verhältnisse aufzuklären.
Daß Hans Sachs auf diesem Gebiete ein großer Erneuerer nicht
werden konnte, geht schon aus den Kostümschilderungen in seiner
epischen Poesie hervor: hier, wo kein Theateretat seine Einbildungs-
kraft in ihre Schranken verwies, zeigt sich deutlich, daß Hans Sachs
ein phantasiebegabter Schneider nicht gewesen ist und auch zu
einer besonders eindringlichen Beobachtung der Wirklichkeit auf
diesem Gebiete oder einem wissenschaftlichen Studium des Längst-
vergangenen und des Fremdländischen auf dem Gebiet der Tracht
keine ausgesprochene Neigung besessen hat. Nur bei wenigen un-
gew^öhnlichen Gelegenheiten ist Hans Sachsens Blick dem auf der
Straße sich bietenden Trachtenbild aufmerksam zugewendet: bei
den Einzügen Ferdinands und Karls in Niu-nberg 1540 und 1541,
allenfalls auch beim Gesellenstechen des Jahres 1538 — da bringt
er in seinen gereimten Schilderungen der festlichen Hergänge auch
mehr oder minder ausführliche Kostümbeschreibungen. Gelegent-
lich ist der Erzähler — bei der Charakteristik der äußeren Erschei-
nung antiker Götter oder allegorischer Gestalten — von den Dar-
stellungen bildender Künstler beeinflußt, und zwar nicht nur, wenn
er es selbst sagt, wie etwa bei der Gestalt des Winters (KG. 4, S. 255 :
1538), als eines alten, dürren, langbärtigen, pelz- und filzbekleideten
Mannes, ^^^-^ ^^^ ^^^ ^^^ Saturnum malt,
(im Gegenteil, öfters, so z. B. KG. 7, S. 424 : 1550, ist die Berufung auf
ein Gemälde sicher so gut bloße Fiktion wie Spaziergang und Traum),
sondern auch, ohne daß wir eine ausdrückliche Erklärung treffen,
wie etwa in der Schilderung der Fama als einer greifenflügligen
Frau, die, mit einer Trompete in der Hand, auf einem Elefanten
sitzt (KG. 7, S. 432 : 1559). Und endlich : die Phantasie des Dichters
gibt wenigstens einiges her, wenn sich allegorischen Figuren rea-
listische Embleme des Alltags in parodistischer Symbolik in die Hand
geben lassen. Im ganzen ist der kostümliche Ertrag solcher Be-
mühung gering. Von den hochfürstlichen Besuchen her weiß Hans
Sachs wenigstens, daß die Könige nicht in jedem Augenblick mit
Purpur, Zepter und Krone ausgerüstet sind^); ganz allgemein be-
kannte Götterkostüme der Antike: Merkurs fußkleit, daran zwen
1 1 Besonders deutlich in der Hinsicht ein Zusatz zu dem Bericht der Quelle KG. 20.
338 ZI. 12—15; oder 16, S. 414, wo er ohne Anregung der Quelle (Sueton-Vielfeld) als ein
Zeichen von Caligtüas großem Übermut hervorhebt, daß er mit Zepter und Krone herumlief.
104 Kostüm in Hans Sachsens Epik. Interesse der Zeit für die Tracht.
flügel groß und breyt, sein Helm mit dem Hahnenschmuck, sein
Schlangenstab sind auch ihm nicht fremd, und er weiß Neptuni mör-
waffen, von denen seine Quelle spricht (KG. 16, S. 414), genauer als
drispitzing scepter wiederzugeben. Es fällt ihm auch wohl einmal der
Schnitt eines Gewandes auf, so daß er eine vornehme Frau (KG. 20,
522) auff außlendisch manier gekleidet sein läßt. In der Haupt-
sache aber ist nicht daran zu denken, daß er dem Schnitt der Kleider
sein Augenmerk zuwendet: daß er sie je einmal hoflich beschnitten
oder zerschnitten nennt, ist schon eine Ausnahme, und auch von
einem kurtzen und einem hohen Kleid ist nur je einmal die Rede.
Im allgemeinen hat er nur Auge für den Stoff des Gewandes und
namenthch für die Farbe, die zumal für die allegorischen Gestalten
das wichtigste Kennzeichnungsmittel darstellt — so entschieden,
daß es sich schon einmal lohnen würde, die von dem Dichter ge-
wählten Farben mit der Farbensymbolik der Maler in Beziehung zu
setzen; aber auch sonst sind Farbe und Stoff die Gebiete, auf denen
seine Phantasie etwas hergibt, und wenn z. B, bei Xenophon-Boner
die treue Gattin Panthea vor ihrem Tode nur anordnet, ein kleit
über sie zu breiten, so macht Hans Sachs ohne Reimzwang (KG. 20,
S. 273) ein rotes Seidenkleid daraus. Endlich ist bei ihm eine Nei-
gung ersichtlich (z. B. KG. 3, S. 150, S. 213, S. 214, S. 481, S. 486,
S. 432, 16, S. 228), allegorischen Gestalten und Ungeheuern Flügel
und Schwanz, auch wohl Tierfüße zu verleihen — volkstümliche
Vorstellungen bieten wohl mancherlei Anregung^), Mit den realisti-
schen Alltagsrequisiten geben diese phantastischen Vorstellungen
zusammen mitunter etwas seltsame Gebilde.
Mit solchem eben aufdämmernden, praktisch aber noch wenig
ausgebildeten Interesse für die Tracht ist nun Hans Sachs wie so
häufig ganz und gar ein Kind seiner Zeit, ganz und gar der Aus-
druck des kulturgeschichtlichen Moments, den er vertritt; eher ist
er ein wenig rückständig, als daß er seiner Zeit voran wäre. In den
letzten Jahren seines Lebens, da der größte Teil seiner dichterischen
Tätigkeit schon hinter ihm liegt, setzt in fast ganz Europa, in Frank-
reich, Holland, Italien und im besondern auch in Deutschland die prak-
tische Betätigung eines so brennenden Interesses am Kostüm ein, wie
es kaum zu einer andern Zeit zu finden ist. Von 1562 bis 1600 er-
schienen in den verschiedensten Orten: Paris, Antwerpen, Venedig?
Nürnberg, Rom u. a. nicht weniger als zwölf verschiedene
Trachtenbücher, zum Teil in mehreren Auflagen, im Buch-
handel 2). Auch diese Leistungen aber haben ihre bisher nur sehr
1) Vgl. etwa die Qiiellenanalyse bei Drescher, Studien v.w Hans Saclis I (Berlin 1890)
S. 65 zu Nr. 3.
2) Über sie unterrichtet die Ireftliciii' AhiiandlunK von H. Doege, Die Trachtenbücher
des 16. Jahrhunderts: Beiträge zur BücherUundc und Pliilologie, August Wihiianiis gewid-
met. Leipzig 1903, S. 429—44.
Historische Notizen. Einzelne Traclitenbilder. 105
wenig beachtete Vorgeschichte, vor allem in handschriftlichen
Trachtenbüchern, die ganz und gar in Hans Sachsens Blütezeit fallen
und von denen Wichtiges unmittelbar seinen Lebenskreisen angehört;
und während die gedruckten Werke völlig auf Geschichte der
Tracht verzichten, ferner das lokale Element stark zurücktreten
lassen, in erster Reihe also ethnologisches hiteresse mit besonderer
Betonung des Exotischen bekunden, sind in der Zeit der handschrift-
lichen Bilderreihen auch die historische Richtung und die heimat-
liche Volkskunde entschieden vertreten.
Gelegentliche Beobachtungen über den Wechsel der Kleider-
moden tauchen in der Literatur schon zeitig auf i). Freilich in den
allermeisten Fällen sind die eingehenden Schilderungen der Trachten
und ihrer Wunderlichkeiten nicht Selbstzweck, sondern nur die
Grundlage donnernder Moralpredigten gegen die Auswüchse der
Mode; aber schon das modernste Buch Deutschlands im 14. Jahr-
hundert, die Limburger Chronik, behandelt die sich wandelnden
Trachten rein vom kulturgeschichtlichen Standpunkt, im beginnen-
den 16. Jahrhundert kommen bei dem Schweizer Chronisten Valerius
Anshelm ganz ähnliche hiteressen zum Ausdruck, und Joh. Agricola,
der in seinen Sprichwörtererläuterungen auch sonst so rege Teil-
nahme an den Gebräuchen der einzelnen deutschen Landschaften
bekundet, hat die verschiedenen deutschen Frauentrachten des
Jahres 1528 ausdrückhch mit dem Hinweis charakterisiert, künftiger
historischer Betrachtung der Tracht damit ein Stückchen Material
bieten zu wollen 2).
Aber von solchen literarischen Aufzeichnungen zu bildlicher
Darstellung, zur Herstellung wirklicher Trachtenbücher, wenn auch
zunächst nur in der Form von Handschriften, ist doch noch ein
großer, ja der entscheidende Schritt. Einzelne Zeichnungen, die
irgend eine interessante Tracht festhielten, mag es auch schon
früher gegeben haben. Das Früheste sind wohl fünf Holzschnitte
in Breydenbachs Beschreibung seiner Fahrt ins heilige Land, in
denen ein Reisegenosse, Erhard Neuwich, verschiedene orientalische
Trachten dargestellt hat. Ja, Albrecht Dürers Genialität ist auch
auf diesem Gebiete soweit seiner Zeit voran, daß er zweimal schon
den Ansatz zu einer wirklichen Trachtenfolge nimmt: zuerst etwa
1500, wo er die Nürnbergerin im Hauskleid, auf dem Kirchgang und
beim Tanz in drei Blättern vorführt-^), und dann 1521, wo er auf vier
Blättern Irländer und Isländer darstellt , die er vielleicht in einer
niederländischen Hafenstadt gesehen hat^). Ebenso hat Holbein
1) Vgl. besonders die Materialzusamnienstellungen bei Alwin Schultz, Deutsches Leben
im 14. und 15. -Jahrhundert 1902, S. 286 ft.
2) Hagenau 1529, Nr. 370.
3) Lippmann, Dürers Zeichnungen, Nr. 463/5.
4) Ebenda. Nr 62, 373. 5.
106 Handschrittliclie Traclitenbücher liöfischen und bürgerlichen Ursprungs.
— wohl im Anfang der zwanziger Jahre — auf losen Blättern einige
Baseler Frauentrachten gezeichnet i); übrigens doch wohl mehr
Vorstudien für größere künstlerische Produktionen, nicht Betätigun-
gen rein kostümlichen Interesses. Aber der wirklich entscheidende
Schritt ist doch erst der zum Trachtenbuch, und gerade dieser
Schritt fällt in die Periode, die wir ins Auge fassen: in die Zeit
von Hans Sachsens Lebenswirksamkeit. Der Schritt oder richtiger:
die Schritte. Denn wenn, wie wir sahen, in den gedruckten Trachten-
büchern des ausgehenden 16. Jahrhunderts lediglich das ethnologisch-
volkskundliche Interesse erscheint , von geschichtlicher Betrachtung
aber keine Spur sich zeigt, so tritt noch in dem letzten großen
Dokument der Handschriftenzeit, dem gleich noch genauer zu be-
handelnden, unserm Zusammenhang besonders wichtigen Trachten-
buch des Sigismund Heldt, dessen Anlage um 1560 erfolgt ist 2),
neben dem Ethnologisch-Volkskundlichen, das im Gegensatz zu den
gedruckten Werken das einheimische Element fast bevorzugt, uns auch
der Sinn für geschichtliche Entwicklung entgegen. Offenbar ver-
einen hier sich zwei Ströme, über deren Quellen immerhin eine
Vermutung gewagt werden kann. Das Interesse für die Entwick-
lung der Tracht und ihre Darstellung in fortlaufenden Bilderreihen
wird sich zurückführen lassen auf die im 16. Jahrhundert aufkommende
praktische Gewohnheit fürstlicher Hofkammern, den Rechnungen
für die Herstellung der Hoftrachten deren Abbildung beizugeben
und diese sich auf diese Art Jährlich erweiternden Reihen in be-
sondern Büchern zusammenzuhalten. Von solcher Art sind der
Gothaer Codex der kurfürstlich sächsischen Hoftrachten 3) und der
Münchener Codex 1591, der die bayerischen Hofkostüme zusammen-
stellt^); daß solche Bücher nicht auf die praktischen Zwecke be-
schränkt blieben, sondern in weiteren Kreisen Teilnahme fanden,
geht aus dem Vorhandensein von gleichzeitigen Kopien hervor^).
Und wenigstens e i n Beispiel lehrt, wie dann solche Trachtenfolgen
auch in bürgerlichen Kreisen zu ganzen Büchern zusammengestellt
worden sind: das zu Braunschweig bewahrte Trachtenbuch des
Augsburger Matthäus Schwarz ist um 1520 angelegt und bildet bis
zum Jahre 1560 die Kostüme ab, die dieser prunkliebende Reichs-
städter getragen hat, ja er hat sich bemüht, nachträglich seine
wechselnden Kostüme bis zu seiner Geburt (1497) zurückzuverfolgen,
1) Woltmann 1. l()5tf., II, 108.
2) Jetzt Nr. 4 der Lipperheidischen Kostümbibliotliek in der Bibliothek des Kunst-
gewerbemuseums zu Berlin. Vgl. u. S. 1 11 f.
3) Vgl. Gallerie altdeutscher Trachten (Leipzig o. .). = 1802) S. t2ff. 37 ff. nebst
Tafel 1—9, 13—15.
4) Auch der Büdinger Kodex Wetterauischer Hoftrachten, von dem die Lipi)erheidi-
sche Kostümbibliothek eine moderne Kopie besitzt, gehört in diesen Zusammenhang.
5) Eine Kopie des sächsischen Werkes ebenfalls in Gotha, eine Kopie des bayerischen
Kleiderbuches im Nürnberger Germanischen Museum: HS. 34, 152 in fol.
Ethnolotjische Interessen. Ausland; Türkei und Spanien. 107
und ihre Bilder jenen übrigen vorangestellt; von 1561 hat sein Sohn
Veit Konrad Schwarz das Verfahren des Vaters aufgenonnnen und
hat ebenfalls seine Jugendbilder (von 1541 an) nachgeliefert!).
Die andere Reihe, die ethnologisch-volkskundliche, wird schwer-
lich in der deutschen Heimat ihre Wurzeln haben: zunächst wird
es nur lohnend erschienen sein, fremdartige ausländische Merk-
würdigkeiten auf dem Papier festzuhalten und zu verbreiten2). Es
ist dann auch auffallend, eine wie große Rolle in dem obenerwähn-
ten großen Trachtenbuch des Nürnbergers Heldt und in den zeitlich
sich ihm anschließenden gedruckten Kostümwerken die Kleidung
der östlichen und südösthchen Völker einerseits, die der spanischen
Untertanen anderseits spielen. Während aber die orientalischen
Bilder der gedruckten Werke sich wenigstens bis auf die Beschrei-
bung der türkischen Reise des Nicolaus Nicolay (1567) als auf die
wesentliche Quelle hat zurückverfolgen lassen-'), harrt die ältere Zeit,
die eigentliche Entstehungsepoche, und zumal jene starke Bevorzu-
gung der spanischen Trachten noch der gründlichen Erklärung. Daß
die Spanier selbst auf den Gedanken gekommen sein sollten, ihre
heimischen Kostüme in zusammenhängenden Bilderfolgen vorzu-
führen, ist bei dem Stande ihrer Kunst und Kultur in der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht gerade wahrscheinlich^), wohl aber
wäre es begreiflich, wenn die ungemein zahlreichen Ausländer, die
durch den Handel und durch die habsburgische Dynastie nach
Spanien geführt wurden-^), sich durch den Reiz einerseits der ver-
wandten Kultur, anderseits des fremdartigen, vielfach ganz fremd-
rassigen Volkstums bewogen fühlten, den nächstliegenden Ausdruck
solchen bunten Lebens: die Trachten den Landsleuten daheim in
1) Genaue Mitteilungen über das Buch, zumal auch seine kulturgeschichtlich sehr
wichtigen Textbeigaben, die eine Art Autobiographie darstellen, bei E. C. Reichard,
Mattliäus und Veit Konrad Scliwarz (Magdeburg 1786). Einige Bilder aus der Jugendzeit
der beiden Schwarz habe ich reproduziert und erläutert : Mitteilungen der Gesellschaft für
deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 20, S. 125 — 145.
2) Doch mag bemerkt werden, daß der erste Versuch, das wohl im Archiv des
„Pfänters" aufbewahrte Material über die beim Schembartlaufen zu Nürnberg verwendeten
Trachten zu besonderen Schembartbüchern zusammenzustellen, die chronologisch angeordnet
sind wie die fürstlichen Kostümwerke und ihre bürgerliche Nachahmung, in die Zeit
zwischen 1525 und 1539 zu fallen scheint.
3) Doege a. a. 0. S. 436. Vgl. auch oben S. 105 den Hinweis auf Reuwichs Holz-
schnitte aus d. J. 1486.
4) In Spanien selbst sind denn auch, wie ein gründlicher Kenner der graphischen
Kunstleistungen des Landes, Herr Angel Barcia Pavon in Madrid, mir mitteilt, handschrift-
liche Trachtenbücher nicht bekannt; die Libros espagnoles de sasteria, über die El conde
de las Navas in der Revista de archivos, hibliothecas y mus30s, 8, S. 483 ff. gehandelt hat,
gehören in den Ausgang des 16. Jh., sind gedruckt und zeigen einen von dem hier in
Betracht kommenden Material völlig verschiedenen Charakter.
5) Vgl. über die Ausländer in Spanien während des 16. Jh.: K. Haebler, Die wirt-
schaftliche Blüte Spaniens im 16. Jh. und ihr Verfall (Berlin 1888) S. 164ff.
l08 Spanische Trachtenbilder.
Bildern zu vermitteln. Die Vermutung, daß der Hergang sich so
vollzogen hat, läßt sich ziemlich zur Gewißheit erheben, und der
knappe Beweis für solche Behauptung führt uns schheßlich vom
welthistorischen Ausblick wieder in unsere nürnbergische Sphäre.
Zwei derartige spanische Bilderfolgen weisen nach Italien: die 70
Blätter umfassende Reihe spanischer Trachtenbilder, die der italieni-
sche Stecher Enea Vico (1523—67) gestochen hat^), und die ganz
unverhältnismäßig große Folge spanischer Trachtenbilder, die
Bertellis im Druck zu Venedig 1563 erschienenes Werk Omnium
fere gentium nostrae aetatis habitus enthält — beide Reihen sind
voneinander vollständig unabhängig2). Uns interessanter und auch
an sich viel anziehender ist die dritte Reihe, die auf deutschen
Ursprung weist. Sie liegt uns vor in dem äußerst wichtigen, bis-
her, wie es scheint, völlig unbeachtet gebliebenen Cod. 22, 474 des
Nürnberger Germanischen Museums^), der eine viel eingehendere
Betrachtung verdient, als sie ihm hier zuteil werden kann. Statt
der Steifheit, mit der in den Vicoschen und Bertellischen Dar-
stellungen die Gestalten in wenig variierten Positionen Parade
stehen, ist hier eine Lebendigkeit zu spüren, die vielfach ins Genre-
mäßige übergeht und dafür spricht, daß hier ein künstlerisch ver-
anlagter Beobachter meistens unmittelbar nach der Natur gearbeitet
hat, nur ganz gelegentlich sein Material durch die Nachbildung von
Gemälden ergänzend. Es ist ein Trachtenbuch, das er geliefert hat,
und zugleich mehr als das. Das kostümliche Interesse steht obenan;
so stark sogar ist es, daß — eine sonst nirgends nachzuweisende
Erscheinung — ein frei gebliebenes Stück Papier (fol. 73) benutzt
wird, um ein Kleidungsstück ohne den bekleideten menschlichen
Körper, ainen spanischen schiircz abzubilden. Aber neben dem
Sinn für das Kostüm ist auch der Sinn fürs Ethnologische stark
entwickelt: die granadischen Mauren, die merkwürdigen Bewohner
von Biscaya, eine Gesellschaft von „Indianern", die Cortez nach
Spanien geführt hat, werden in ganzen Blätterfolgen dargestellt,
und endlich hat der Beobachter das regste volkskundliche Interesse,
indem er nicht nur jene Vertreter ganz fremder Rassen bei allerhand
Verrichtungendes Alltags und des Feststags vorführt^), sondern auch die
1) Bartsch, Peintre-Üraveur XV, 325, Nr. 134—203. Sie sind in den großen Kabi-
netten von Berlin, Dresden, München nicht vorhanden, vollständig aber in der Kupferstich-
sammlung König Friedrich August's II. auf tler Brühischen Terrasse zu Dresden. Ich be-
nutzte photogi-aphische Reproduktionen, die die Direktion der genannton Sammlung freund-
lichst für mich hat anfertigen lassen.
2) Doege a. a. 0. S, 433 möchte allerdings Bertellis Bilder auf Vico zurückführen:
er hat aber Vicos spanische Trachtenbilder nicht gesehen und schließt nur aus dem
freilich verlockenden Umstand, daß Bertelli die 29 nicht spanischen 'rraclitenliilder
Vicos tatsächlich kopiert hat.
3) Ich durfte ihn durch die Freundlichkeit der Direktion in Berlin benutzen.
4) Am wenigsten die Basken, liie auch in ihren Stellungen jener Art der Wiedergabe
Spanische Trachtcnbikier augsbiirgisclien Urspriitifjjs. 109
eigentlichen Spanier beider Arbeit des Hauses, des Handels, des Feldes,
des Handwerks, der Schiffahrt, bei Spiel und Tanz, beim Spazieren-
gehen und Spazierenreiten, endlich auch die Missetäter und ihre
Strafen sehen läßt. Die ziemlich ausführli(;hen Beischriften neben
den Bildern sind in deutscher Sprache abgefaßt: von einem deutschen
Künstler rührt das Ganze her, von einem deutschen Künstler aber,
der in Spanien selbst gearbeitet hat: spanische Worte sind
verschiedentlich eingestreut und verschiedene Slangausdrücke
deuten auf die internationalen Fremdenkreise hin. Noch ge-
nauer aber läßt sich die Heimat des Künstlers bestimmen.
Nicht nur weist die Orthographie und mancher Ausdruck jener
Beischriften auf Augsburg, entscheidend ist vielmehr ein Blatt, auf
dem ein junger Mann in Seemannskleidung dargestellt ist; da-
neben steht folgende Erläuterung: Allso ist der Stoffeil weydicz
mit dem kolman heim Schmidt jber Mär gevarn. Christoph Weiditz:
das ist ein Augsburger Bildhauer, ein Verwandter des erst neuer-
dings mit seinem Namen nachgewiesenen sog. Petrarcameisters
Hans Weiditz — er hat 1532 in Augsburg die Gerechtigkeit erlangt^),
und Kolman Helmschmidt ist ein Angehöriger der weltberühmten
Augsburger Waffenschmiede-Familie dieses Namens, jedenfalls De-
siderius Kolmann, der Sohn des 1532 gestorbenen Koloman Colman,
der viel für Karl V. gearbeitet hat und selbst später vor allem im
Dienste Philipps IL von Spanien tätig 2). Keine Frage: es ist ein
Augsburger Künstler gewesen, der bei einem längeren Aufenthalt
in Spanien diese Trachten- und Volkslebensbilder größtenteils nach
der Natur aufs Papier gebracht hat, um sie später daheim zunächst
im Kreise der Kunstgenossen zeigen zu können, und der, um auch
einen Lacherfolg zu haben, als einmal zwei heimische Kollegen in
einer spanischen Hafenstadt auftauchten, den einen von ihnen
schleunigst in seiner fremdartigen Schiffstracht abkonterfeite^). Das
bei Vico und Bertelli am meisten gleichen — man möchte glauben, daß der Künstler hier
nicht nach der Natur arbeitet. Eine einigermaßen auffallende Ähnlichkeit eines Bildes mit
einer der Vicoschen Darstellungen findet sich nur einmal (bl. 119: Bartsch 1371). isi aber
auch da nicht so groß, daß man annehmen müßte, beide Künstler hätten hier die gleiche
Vorlage nachgebildet. So sind wohl auch die verhältnismäßig wenigen Trachten aus England,
Frankreich, Italien und Holland, die am Schlüsse des Ganzen auftauchen, nach Vorlagen
gemacht — nur bei den holländischen, die wieder mehr ins Volkskundliche gehen, möchte
man auf Autopsie des heimreisenden Künstlers schließen. — Mitten im Buch (fol. 30)
findet sich die (sonst nirgends vertretene) Darstellung einer Wienerin — gewiß war das
Original eine Wiener Dame, die ihre Heimatstracht nach Spanien mitgenommen hatte.
1) Vgl. H. Röttinger, Hans Weiditz der Petrarkameister (Straßburg 1904). S. 22.
2) Über ihn W. B ö h e i m , Jahrbücher der Kunstsammlungen des Allerhöchsten
Kaiserhauses 1890 S. 201 ff. und Meister der Waffenschmiedekunst (Berlin 1897) S. 43ff.
3| Aus dem Umstand, daß er den andern, den Kolman Helmschmidt, wegließ, möchte
man beinahe schließen, daß er selbst dieser Kolman Helmschmidt gewesen i.st. Dann
würde man allerdings das Bild statt in der Mitte mehr im Anfang des Codex zu suchen
110 Spanische Trachtenbilder augsburgischen Ursprungs.
gleiche Blatt gibt uns einen wichtigen chronologischen Anhalt für
die Entstehung des Codex: da die beiden Künstler offenbar 1532
wieder daheim sind^j, muß das Gesamtwerk etwas älter sein; an-
dere Blätter liefern den terminus ante quem non: Ferdinand Cortez
wird nach einem Bilde aus dem Jahre 1529 dargestellt und ist eben
damals in Spanien (1526—1530); Andrea Doria, der berühmte Seeheld,
kämpft schon einige Zeit auf selten Karls V. (seit 1528); und einige
weitere Momente sprechen ebenfalls für die Richtigkeit der Hypothese:
der Augsburger Künstler hat die Zeichnungen um das Jahr 1530
in Spanien gefertigt. In Augsburg aber hatten wir in den zwanziger
Jahren schon das starke Kostüminteresse der Zeit in Leistungen
der Bildkunst ausgedrückt gefunden : in dem historischen Trachten-
buch des Matthäus Schwarz und in dem großen historischen Ge-
schlechtertanzgemälde, und ohne behaupten zu können, daß der in
Spanien arbeitende Künstler seine Neigung für Kostüm Zeichnung
von jenen durch Schwarz bestimmten Interessen der Vaterstadt in
die Fremde mitgenommen und sie hier nur aus dem Historischen
ins Ethnologische gewandelt hat'^), werden wir doch die Tatsache
als gesichert ansehen dih'fen : Augsburg ist die Wiege des moder-
nen Kostüminteresses bürgerlicher Kreise, und das dritte Jahrzehnt
des 16. Jahrhunderts die eigentliche Ursprungszeit.
Von da aus aber verbreitet sich das Interesse weiter, und die
soeben behandelten Zeichnungen spielten dabei eine wichtige Rolle.
Keineswegs sind sie nämlich ein Unikum geblieben, sondern haben
offenbar eine starke Wirkung getan. Der Codex selbst, dem wir
die Bekanntschaft mit ihnen verdanken, ist nicht etwa das Original,
sondern wie einige Sinnlosigkeiten in der Wiedergabe der Namen
zeigen (z. B. Vollodoliff), eine in Deutschland von fremder Hand
hergestellte Kopie; auch das Papier ist deutschen Ursprungs. Solche
Kopien waren offenbar in den folgenden Jahrzehnten mannigfach im
Umlauf, und ihre Benutzung durch andere läßt sich mehrfach nach-
weisen. Wichtiger für unsern Zusammenhang als die Feststellung,
daß Bertelli in sein 1563 gedrucktes Trachtenbuch zwei unzweifel-
haft von dem Augsburger nach dem Leben gezeichnete Bilder (fol. 17
und 23) übernommen hat, ist die Ermittlung, daß der schon genannte
Sigismund Heldt in seinem riesigen handschriftlichen Kostümwerk
eine sehr große Zahl der Zeichnungen des Augsburger Künstlers
geneigt sein — oder es mülSte sicii hei der „Meerfahrt" niciit um die Ankunftsreise der
t)(>iden, sondern um eine gelegentliciie Faln-t von Hafen zu Hafen gehandelt haben.
1 1 Das oben erwähnte zweimalige Auftreten dieser Jahreszahl ist doch gar zu auf-
fallend. In den Augsburger Steuerlisten wird Des. Kolman allei'diugs erst 1584 zuerst
erwähnt.
2) AiUii'dings finden sich /.wWx Darstellungen älterer deutscher Traciileii milleii
unter den damaligen spanisclusn — das könnte fiii- den oben ini Text nur als möglich
angenommenen Zusannnemhang sprechen.
Trachtfiiinteresse in Nüiiiljoifj. Sigis-uiiind Hcldt.
111
kopiert hat, und sich auch für seine eigenen Aufnahmen von ihm
allgemein hat beeinflussen lassen. Diese Ermitthuig führt uns von
Augsburg nach Nürnberg und damit direkt wieder in die Hans
Sachsische Sphäre.
Die überaus umfängliche Handschrift, um die es sich handelt
Abb. 7: Zwei Türken. Aus Cod. Heldt. fol. 316 (s. u. S. 129).
— sie umfaßt nicht weniger als 867 einzelne Zeichnungen — , gehört
jetzt der dem Berliner Kunstgewerbemuseum angegliederten Lipper-
heidischen Kostümbibliotheki) ; Sigismund Heldt, der 1559 in Nürn-
berg als Losungsschreiber erscheint, hat sie vermutlich im Laufe
der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zusammengestellt-). In der
1) Nr. 4. Vgl. die ausführliche Beschreibung in dem gedruckten Katalog. Bd. I
(Berlin 1896 ff.), S. 5 ff.
2) Die jüngste datierte Tracht weist ins Jahr 1565; Heldt benutzt BerteUis Werk,
112 Sieglsmund Heldts Trachtenwerk.
Vorrede gibt er seinem Werke das zeitübliche moralische Mäntelchen
um : er habe diese Trachtenbilder zusammengestellt, um die Jugend
vor den Auswüchsen der Mode zu warnen; in Wirklichkeit zeigen
sich bei ihm die drei Arten des Interesses vereinigt, die wir bisher
nur neben einander nachweisen konnten : das historische, das ethno-
logische, des volkskundliche, z. T. so, daß die Bekundungen dieser
verschiedenen Interessen ineinander übergehen. So haben wir eine
ganze Menge von Bildern alter trachten: nicht nur des Kaisers
und hoher Fürsten, sondern auch alte römische Kleidungen, ferner
Trachten von Nürnbergern aller Stände vom Patrizier bis zum
Simpeln Handwerksmann, z. T. mit genauer Datierung (1500, 1512,
1520, 1530, 1560 usw.). Die Quellen Heldts sind hier offenbar ein-
zelne datierte Bilder — am deutlichsten in der sehr umfangreichen
Folge von Männern und Frauen aus Nürnberger Geschlechtern „in
fünf Veränderungen", fünf Entwicklungsstufen der einheimischen
Tracht, deren jüngste ins Jahr 1480 verlegt wird — offenbar nach
einem Geschlechtertanzgemälde gemacht, wie es Matth. Schwarz
in Augsburg angeregt hatte: solche kostümgeschichtlichen Ideen
haben also, wie es scheint, auch schon vor Heldt in Nürnberg
Nachfolge gefunden. Die rein ethnologischen Partien bringen
einmal zahlreiche Trachten fremder, zumal exotischer oder doch
weitabwohnender Völker, dann aber auch viele Kostüme aus
deutschen Städten, am meisten eigentümlicherweise aus Berlin (19»,
ferner aus Hamburg (10), Königsberg, Leipzig und Gandersheim [!]
(je 8), Wittenberg (5) und vieles Verstreute. Während für die
ausländischen Trachten wenigstens teilweise die Quellen fest-
gestellt werden können: die spanisch -augsburgische Handschrift
und Bertellis gedrucktes Buch, bleibt es im ganzen zweifelhaft, ob
für die inländischen Heldts Zeichnungen auf lebendige Beobachtung,
auf einzelne Blätter, oder, wie das für Königsberg ziemlich gewiß
ist und wenigstens für Berlin wahrscheinlich aussieht, auf lokale
Gesamtfolgeni), zurückgehen. Endlich der heimisch-volkskundliche
Teil — im gewissen Sinne der wertvollste : denn hier, wo die Wirk-
das in erster Auflage 1563, in letzter 1569 erschienen ist, während die gedruckten Bücher
der siebziger Jahre nicht mehr ausgebeutet sind. Später hat H. noch ein ilhistriertes
Gesclilechtsbuch hergestellt, das handschriftlich in Nürnberg bewahrt wird.
1) Im Druck liegen solche lokalen Trachtenbücher zunächst allerdings nicht vor,
sondern beginnen erst 1601 mit Möllers Danziger Frauentrachtenbuch (Doege S. 431); doch
scheint, was bisher nicht bekannt war, schon 1573 ein StratJburger Trachtenbuch von
Christoph Riedacker erschienen zu sein, das der Rat aber als schimpflich rnd .spottlich
alsbald unterdrückte. Handschriftlich existiert hat jedenfalls ein ost- und westpreußisches
Trachtenbuch, das neben städtischen Gewändern auch allerhand litauische Kostüme u. d<il.
enthielt — ein Abkömmling davon ist ein Codex, der der Firma Börner in Leipzig gehört und
in einem ilir(>r Kataloge fälschlich als „brandenburgisches Trachtenbuch v. J. 1539" er-
scheint. Heldt hat einige Blätter daraus benutzt, ebenso das Weigelsche Trachtenbuch
V. .1. 1577.
Siegismund Heldts Trachtenweik und sein Einfluß in Nürnberg.
113
werden mag, daß
zu spüren ist, so
lichkeitstreue uns durchaus verbürgt ist, sind Alltags- und Festtags-
leben der Nürnberger und des benachbarten Landvolkes in einer
Fülle und einem Nuancenreichtum vorgeführt, die es verbieten, hier
mit einer Charakteristik auch nur den Anfang zu machen ; bemerkt
auch hier der historische Zug nicht selten
z. B.,
wenn etwa die altmodische
Tracht vorgeführt wird, in
der die Barbiere „noch in
Anno" 1550 in die Häuser
gingen. Angeregt aber ist
Heldt zu der Darstellung
solcher Volksszenen, die
über das bloße Kostüm-
bild weit hinausgehen,
zweifellos durch die volks-
kundlichen Darbietungen
des spanisch - augsburgi-
schen Codex: die Vor-
führung z.B. der zu Markte
ziehenden Bauern mit
Wagen und Pferden sind
beinahe als Übersetzungen
aus dem Spanischen ins
Nürnbergische anzusehen.
Dies volkskundliche Inter-
esse aber an der Tracht
und seine Bedeutung für
die Herstellung von Bilder-
folgen regt sich nun in
Heldts Tagen und mög-
licherweise durch seine
Anregung auch sonst: die
Vervielfältigung der
Schembartbücher w ird seit
der zw^eiten Hälfte des
Jahrhunderts mit uner-
hörtem Eifer betrieben,
und alle möglichen Bilder von Nürnberger Volksbelustigungen
werden beigegeben, die ihre Verwandtschaft mit Heldtschen Dar-
stellungen nicht verleugnen könneni).
Abb. 8 : Jakobsbruder. Aus Cod. Heldt fol. 43 (s. u. S. 1 28)
1) Vgl. o. S. 107, Anm. 2. Von solchen Ermittlungen findet .sich allerdings in der
leider wenig wertvollen Einleitung zu der durch die Gesellschaft der Bibliophilen ver-
anstalteten Reproduktion der Hamburger Handschrift des „Nürnberger Schembartbuches'"
Herrmann, Theater. 8
114 Trachten in der Bücherillustration. — Tradition des Theaterkostüins.
Für das steigende Interesse an authentischen Kostümen liefert
endlich — worauf hier eben nur hingewiesen werden kann — auch
die bildende Kunst des 16. Jahrhunderts gewisse Belege im Gemälde
und namentlich in der graphischen Darstellung, die ja zumal in
der Form der Bücherillustration für einen Mann wie Hans Sachs
besonders maßgebend gewesen ist. So tritt der Zug zu einer
Charakteristik von Personen vergangener Zeiten durch Anwendung
früher im Gebrauch gewesener Kostüme bei einem Maler wie Lukas
von Leyden zutage. Das eigentliche Hauptgebiet für die Ersetzung
der Gegenwartsgewänder durch historische Tracht ist aber die
Illustration der Antike, die ja eben in den Büchern dieser Zeit eine
so hervorragende Rolle spielt, und tatsächlich zeigen manche Künst-
ler der für uns hier wichtigen Jahrzehnte das entschiedenste Mühen
um archäologische Kenntnisse; die große Mehrzahl der Bilder zu
griechischen und römischen Schlachten fährt allerdings fort, die
Krieger ruhig in die moderne Ritterrüstung zu stecken. Ebenso
steht es in etfinologischer Beziehung. Von einer Einführung spani-
scher Tracht scheint freilich noch nicht die Rede zu sein : die
Illustrationen zu Calixt und Melibia z. B. zeigen durchaus
die deutschen Gewänder, aber auf das orientalische Kostüm
wird doch schon mehr Rücksicht genommen, und so gibt etwa
die Wittenberger Bibel von 1534 durch Einführung mindestens
von türkischen Kopfbedeckungen, Waffen u. dgl. den bi-
blischen Bildern schon einen gewissen morgenländischen Charakter.
Es ist also hier wie überall: noch ist der Bann nicht eigentlich
gebrochen, sichtlich aber regt sich doch schon ein eben erwachtes
neues Leben.
Es wird sich nun fragen : stellt sich diesen eben in Hans Sachsens
Zeit lebhafter hervortretenden Kostüminteressen eine Tradition des
Theaterkostüms entgegen, die stark genug ist, allen etwaigen Neue-
rungsgelüsten und -forderungen den Eintritt zu verwehren? Die
stärkste Tradition wird von vornherein bei den Trachten zu erwarten
sein, die in den neutestamentlichen oder, wir dürfen wohl sagen :
den biblischen Spielen gebraucht wurden. Leider sind die in den
vorreformatorischen Dramentexten enthaltenen kostümlichen Hin-
weise und Anspielungen im allgemeinen so dürftigij, daß sich in
bezug auf diese Zeit über die Theatertrachten wenig sagen läßt
— man müßte denn im Bewußtsein der viel betonten Tatsache, daß
sich die mittelalterlichen Maler vielfach von den Marktplatzaufführun-
gen beeinflussen ließen, den Versuch wagen, auf den Gemälden
die vielleicl^J; hie und da auch mit übernommenen Theaterkostüme
herauszufinden. Dieser Versuch kann hier nicht unternommen
(Weimar 1908) nicht das Geringste — ja überhaupt kaum ein Ansatz /u wirklicher
Sammlung und kritischer Sichtung des Materials.
1) Vgl. die Materialzusammenslellungen bei Heinzel, S. 23 — 26.
Theaterkostüm im Mittelalter. 115
werden. Aus der Spärlichkeit der Trachtenvorschriften in den
szenischen Bemerkungen aber kann man zunächst einen doppelten
Schluß ziehen: entweder könnten die Kostüme im allgemeinen als
ein nicht sehr wesentlicher Bestandteil der Aufführung der Willkür
der einzelnen Darsteller überlassen sein oder aber: die Tradition
war hier so fest und streng, daß besondere Bemerkungen si(;h fast
ganz erübrigten; wenn gelegentlich einmal (im Erlauer Dreikönigs-
spiel) die Vorschrift sagt: Maria cum angelis et Joseph de vestibus
ipsis decentibiis seciindum beneplacitiim registranfis, so
möchte man aus dem Umstände, daß ein solches ausdrückliches
Zugeständnis an die Willkür des Regisseurs eben nur einmal er-
scheint, die Folgerung ziehen, daß ihm sonst die Hände gebunden
waren. Anderseits aber zeigt das Gebot, daß die Kostüme Dezenz zu
bekunden hätten, das nicht nur hier, sondern im Verhältnis zur Spär-
lichkeit des Materials verhältnismäßig häufig im 14. und 15. Jahr-
hundert uns entgegentritt, daß man im allgemeinen in bezug auf die
Kleidung den Mitwirkenden ziemlich viel Freiheit gelassen hat und in-
folgedessen sich öfters gegen Auswüchse wenden mußte. Vielleicht
war es so, daß man bei den ganz kleinen Rollen alles den einzelnen
Darstellern überließ und daß namentlich die Statisten sich kleiden
konnten wie sie wollten, wenn sie nur aus dem stilus honestus des
Ganzen nicht herausfielen, daß dagegen für allegorische Figuren,
für fürstliche Personen und namentlich für die heiligen Haupt-
gestalten eine gewisse feste Tradition sich herausbildete. So darf
etwa der Praecursor nicht mit den närrischen Attributen des Fast-
nachtspieleinschreiers sich ausstaffieren. Wohl aber spielen sym-
bolische Attribute, zumal bei den allegorischen Gestalten eine große
Rolle: die Gerechtigkeit z. B. trägt Buch und Schwert; die heiligen
drei Könige haben auch auf der Reise die Krone auf dem Haupte,
und der sie begrüßende Herodes hält noch dazu das Zepter in der
Hand. Die Stilisierung der Kostüme der Protagonisten scheint
in den eigentlich liturgischen Spielen am strengsten gewesen
zu sein — bei der Nürnberger Osterfeier wie dann bei der späten
Bordesholmer Marienklage kommen priesterliche Gewänder zur
Verwendung, und Christi Nacktheit wird nur symbolisch an einem
leblosen Crucifixus, den der völhg bekleidete Sprecher der Christus-
rolle in der Hand hält, angedeutet. Auf dem geistlichen Stadt-
theater dagegen erscheint Christus bei der Kreuzigung nackt, d. h.
jedenfalls in libkleidern, und auch bei Lebzeiten geht er nudis
pedibus einher: in Übereinstimmung mit den gleichzeitigen Dar-
stellungen der bildenden Kunst; noch in einem Prosadialog Hans
Sachsens vom Jahre 1546 (KG. 22, S. 367) heißt es von einem Wan-
derer, der dem Erzähler begegnet: Als aber ich neher zw im kam
und in recht pesach, da war es unser hergot, den ich als-pald a n
seinem parfues-gen vnd praunem gestrickten rock erkennet.
116 Theaterkostüm im Mittelalter.
Nachweisbar sind die Itbkleider und Itbstrümpfe allerdings erst im
16. Jahrhundert 1).
Für die mehr stilisierende Behandlung des Kostüms bei den
wichtigeren Gestalten sprechen auch zwei Erwägungen allgemeinerer
Art. Die eine ist die: daß es für die nur jährlich oder in noch
größeren Abständen wiederkehrenden Aufführungen wenigstens für
die bedeutsamen Rollen gewiß eine Art Theatergarderobe gab; die
Kostüme blieben lange Zeit hindurch verwendbar, wurden altertüm-
lich und wurden schließlich gewiß nicht mehr als unmodern, sondern
als für die betreffende Gestalt wesentlich empfunden, so daß, wenn
einmal eine Neuanfertigung nötig war, der frühere Zustand im
ganzen wieder zugrunde gelegt wurde. Und das andere: bei der
mittelalterlichen Marktauf führung kann nicht damit gerechnet werden,
daß jeder im Publikum alle gesprochenen Worte tatsächlich ver-
nimmt. Sie bietet viel weniger als unsere heutige Bühnenkunst
die Vorführung einer dramatischen Dichtung, bei der das Wort die
vornehmste Rolle spielt: sie ist in erster Reihe Theater, sie ver-
mittelt das Verständnis mit Hilfe des Schauens — durch die Be-
wegungen der Personen auf dem großen, alle heiligen Orte um-
fassenden Schauplatz wird dem Zuschauer, der ja mit dem Gesamt-
hergang durchaus vertraut ist, klar, an welchem Punkte der Hand-
lung man sich in jedem Augenblick befindet. Zur Erreichung dieses
Zieles ist es aber nötig, daß man auch auf weitere Entfernung hin
die Personen erkennt, und das beste Mittel in dieser Hinsicht ist
das stilisierte Kostüm. Vielleicht tritt in der ja wohl gewiß nicht
regelmäßig, aber doch vielfach zu beobachtende Neigung der Maler,
die Nebenpersonen ins Alltagsgewand zu hüllen, die Hauptgestalten
dagegen mit einem mehr idealisierten Kostüm zu versehen, eine
Abhängigkeit von den Trachtenverhältnissen der Marktplatzbühne
zutage.
Glücklicherweise gibt durch einen freundlichen Zufall unser
karges Material einen Hinweis, der uns in bezug auf das Vorhanden-
sein von Typisierung und Stilisierung aus dem Bereich der Ver-
mutung etwas hinausführt und Gelegenheit gibt, eine Brücke zu
dem reicheren Material des 16. Jahrhunderts zu schlagen. In dem
Tiroler Mariälichtmeßspiel des 15. Jahrhunderts heißt es in bezug
auf den greisen Simeon, der bei Maria Tempelgang den Christus-
knaben auf dem Arm tragen darf: Interim venu Simeon in habitu
prophetali . . . Etwas Ungewöhnliches also, denn dieser Simeon
(Luc. 2,25) ist kein Prophet; aber als etwas ganz Bekanntes, im
Typus Feststehendes wird der habitns prophetalis vorausgesetzt:
das Gewand, an dessen Schnitt und etwa auch an dessen Farbe
der Zuschauer den Träger als einen Propheten erkennt. Diese
Prophetentracht als eine besondere Eigentümlichkeit taucht dann
1) Hei HZ ei a. a. 0., S. 25, Anm.
Kostüm des geistliclien Theaters im 16. Jahrhundert. 117
auch in den Luzerner Bühnenrodeln des 16, Jahrhunderts wieder aufi),
und namenÜich schreiben die sehr austuhrHchen Kostümangaben
des Jahres 1583 deutlich vor, die Propheten als Propheten vasf
(/lychförmig uff seltzame manier auftreten zu lassen; es kommt
offenbar besonders darauf an, sie von Abraham und seiner Sippe,
die patriarchisch, und Petrus, Johannes und den übrigen Jüngern
die got zwelff'bottisch gekleidet gehen, zu unterscheiden; und auf
ein so feines Verständnis für den symbolischen Sinn solcher Kostü-
me rechnet man beim Zuschauer, daß Moses, der zwischen den
Patriarchen und Propheten steht, auch ettwas vnderschydlich zwischen
einem Patriarchen und Propheten gekleidet sein soll. Gekhlaidt wie
ein Patriarch als ein feststehender Begriff kommt auch in den
Kostümanweisungen vor, die um 1580 ein österreichischer Regisseur
seinen katholisierenden Bearbeitungen und Ineinanderarbeitungen
Hans Sachsischer Bibeldramen beigegeben hat 2); so stimmen auch
in der am Ende dieses Bandes ausführlich behandelten, ohne Zweifel
stark das Theatralische berücksichtigenden Bilderhandschrift von
Jakob Rufs Drama Der Weingarten des Herrn (Zürich, ca. 1540) die
Trachten der Propheten untereinander gegen die wieder unter sich
stark verwandten Trachten der Apostel ziemlich deutlich überein.
Es handelt sich offenbar um einen an den verschiedensten Orten
gültigen Gebrauch, und da wir den habitiis prophetalis schon im
Mittelalter nachweisen konnten, werden wir das Recht haben, auch
den habitus patriarchalis und den habitiis apostolicus bis in die alte
Zeit zurückzuverlegen. Die Gleichheit bezieht sich aber wohl mehr auf
das Prinzip als auf die Haltung der Kostüme im einzelnen, die
gewiß auch von lokalen Verhältnissen mitbestimmt war: so scheinen
z. B. die Luzerner Propheten mehr den Züricher Aposteln ähnhch
und umgekehrt; noch weniger werden wir also mit Sicherheit die
eine oder andere Kostümkategorie mit all ihren Einzelheiten bis ins
15. Jahrhundert zurückdatieren dürfen.
Daß auch sonst im 16. Jahrhundert längst feststehende Trachten-
typen immer wieder zur Verwendung gelangen, geht aus der Form
einiger Anweisungen deutlich hervor: Die Engel. Wie Engel sond
cleyt syn^) und Maria gekhlaidt in jren gewonlichen khlaidern^).
Der König und sein Hofgesinde in Johannes Heros' Drama Der
irdisch Pilgerer (1562 in dem Nürnberg benachbarten Städtchen
Roth geschrieben) sind all bekleidet nach gewönlicher arth. Ferner
1) Abgedruckt durch R. Brandstetter, Germania 30, S. 205ff., 325ff.
2) Cod. germ. Mon. 3635 an verschiedenen Stellen: z. T. gedruckt bei Hampe:
Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg, S. 49ff. Ich durfte die Handschrift hier
in Berlin benutzen.
3) Germ. 30, S. 205.
4) P. Expeditus Schmidt, Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramas,
S. 75.
118 Das Theaterkostüm des 16. Jahrliunderts und das neue Interesse an der Tracht.
bekunden einige mehr oder weniger große Übereinstimmungen in
der kostümlichen Ausgestaltung verschiedener Hauptgestalten in
Luzern, Zürich, Österreich — so besonders in bezug auf die Tracht
des Gottvaters, doch auch des Kain, des Abel, der Schlange, der
EngeP), daß neben aller lokalen Differenziertheit auch eine gewisse
Gesamttradition sich bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts erhalten
hat; zu einer direkten Anknüpfung an die Theatertracht des 14.
und 15. Jahrhunderts reicht das kärgliche Material freilich bei weitem
nicht hin 2).
Jedenfalls: die Existenz einer stark wirksamen Tradition bei
Hans Sachsens Zeitgenossen ist als erwiesen zu betrachten — nun
fragt sich noch: läßt sich eben in der Zeit, in der er das Nürnberger
Theater leitet, umgekehrt das Eindringen der neuen Tendenz zum
historischen und ethnologischen Kostüm an dem bisher betrachteten
Material spüren ? Kein Zweifel zunächst, daß in der Luzerner Aus-
stellung des Jahres 1583 die neue Periode deutlich zu merken ist.
Vor allem der historische Zug in der Scheidung der Personen des
alten und des neuen Testamentes: immer wieder wird für die Ge-
stalten der vorchristlichen Zeit eine gar allte manier der Trachten
und dergleichen entschieden verlangt, während für die Personen
der eigentlichen Oster- und Passionsspiele davon nicht die Rede
ist: man merkt die Absicht, den Zuschauer die chronologischen
Unterschiede spüren zu lassen. Und ferner: während im Mittelalter
die Nebenfiguren einfach die zeitgenössische deutsche Tracht ge-
tragen haben, hier das ethnologisch gerichtete Bestreben, sie wenig-
stens in jüdische Gewänder zu stecken. Wenn weiter für viele
NichtJuden der heiligen Vorgänge, zumal für Pilatus und seine
römische Umgebung, vielfach heidnische Manier vorgeschrieben
wird, so ist wenigstens für den Kreis des Neuen Testaments dar-
unter schwerlich irgend eine behebige fremde Tracht, sondern eben
die antik römische zu verstehen: sonst würde nicht für Herodes
angegeben sein: weder jüdisch noch heidnisch, sonst frömbder
Manier, doch meer jüdisch, denn er war ein Proselyt oder be-
schnitner Heyd. Der neue kostümwissenschaftliche Zug der Zeit
spricht sich übrigens in solcher subtilen Scheidung besonders aus.
Das besondere Interesse für die orientalische Tracht geht endlich
aus der Vorschrift hervor, die für die ägyptischen Kaufleute, die
Käufer des jungen Joseph gilt : Sond bekleidt sin jn langen kleidern
mitt krummen Seblen, auch hohen Hütten mitt Fädern, alls heid-
1) In dem eben genannten Ii'dischen Pilger des .loh. Heros steht: Der Eiujel svl in
lauter weis gekleidt sein, mit einem rot/ien Creutz über die Alben.
2) Die heiligen drei Könige tragen in Österreich wie hundert .Jaiue Irüiier im Er-
lauer Spiel noch Kron(Mi auf dem Haupte (in Luzern ist davon nicht die Rede); aber im
Gegensatz zu der älteren Darstellung (vgl. oben S. 115) gibt man ihnen hier nun auch
iine Zepter auf die Reise mit.
Theaterkostüm bei der Aufführung weltlicher Dramen. 119
nische oder türckische Koiifflüt. — So deutlich wie hier tritt
in dem österreichischen Material der gleichen Zeit die neue Periode
noch nicht zutage — ist es doch auch bei weitem nicht so um-
fassend und entstammt es doch offenbar auch einer viel einfacheren
Sphäre; immerhin tauchen auch hier nicht nur der Judenhut, sondern
auch türkischer Hut und türkisches Kleid auf. Allerdings: all das
ist nachhanssachsisch. Aber auch in der Luzerner Aufführung des
Jahres 1545 beginnt das Neue sich wenigstens schon zu regen.
Zwar von jener chronologischen Scheidung der alt- und der neu-
testamentlichen Tracht ist hier noch nicht die Rede, aber auch hier
wird doch schon für die Nebenpersonen jüdisches Gewand an-
geordnet; wenn die Kostüme von Pilatus und seiner Frau als
heydisch bezeichnet werden, so darf man vielleicht schon an An-
tikes denken, und vor allem kommt der Sinn für orientalische
Trachten mit merkwürdiger Deutlichkeit in den Gewändern der
heiligen drei Könige zum Ausdruck : sie sond cleyd syn bim kost-
lichsten. Caspar arabisch, Melchior tarsisch, Balthasar mörisch.
Läßt sich somit schon angesichts des Bibeldramas behaupten,
daß in Deutschland zur Zeit der Meistersängerbühne die mittel-
alterliche Kostümtradition in der Hauptsache noch lebendig war,
daß aber anderseits das neu erwachte Interesse für authentische
Trachten auch auf dem Theater sich eben geltend zu machen
anfing, so wird sich endlich fragen, ob das seit dem Ende des 15.
Jahrhunderts immer mächtiger auf die Bühne sich drängende welt-
liche Drama die moderne Bewegung noch zu fördern imstande
war. Leider ist hier das Material noch wesentlich dürftiger als in
bezug auf die geistlichen Aufführungen. Die szenischen Bemer-
kungen der Dramentexte und die bisher bekannt gewordenen Archiv-
notizen über stattgehabte Vorstellungen geben so gut wie nichts
her, und es bleiben eigentlich nur die Dramenillustrationen; auch
von den dort wiedergegebenen Kostümen aber scheidet, wie die im
zweiten Teil dieses Buches angestellten bilderkritischen Untersuchun-
gen zeigen, sehr vieles als gar nicht dem Theater zugehörig aus,
und von den positiven Ergebnissen ist für die hier behandelte
Frage: nach dem Vorhandensein einer festen Tradition und dem
leisen Streben nach Berücksichtigung des neuen historisch-ethnolo-
gischen Moments kaum etwas zu verwenden; denn es handelt sich
durchaus um Dinge, die der hier in Betracht kommenden Periode
noch voran liegen, und die Gelegenheit, ethnologisch Fremdartiges
anzubringen, ist ^ nicht allzu groß. Allerdings: die Antike kommt in
erster Reihe in Betracht: beim Terenz; aber hier in den Darstellun-
gen aus dem bürgerlichen Leben ist die Versuchung nicht allzu
groß, nach besonderer Eigentümlichkeit der Tracht zu streben; zu
mindesten genügt eine gewisse Altertümlichkeit, die sich hier
wieder durch die Konservierung alter Theatergarderoben einstellt.
120 Kostüm des weltlichen Theaters. Hans Sachsens Theaterkostüme.
Eher locken Szenen mythologischen oder historischen Inhalts zu
aparter Kostümierung, und dabei hat allerdings offenbar zum Teil
malerische Phantasie sich geltend machen dürfen, hie und da sich
anlehnend an irgend ein einzelnes antikes Kostümstück, auf das
die werdende Renaissancekultur schon hingewiesen hatte, öfter
aber an den Mummenschanz der heimischen Feste. Gewiß hat
also hier auf dem Gebiete des weltlichen Spiels das Moderne leichter
seinen Einzug halten können; eine Bemühung um archäologische
Kostümtreue bei der Darstellung altgriechischen Lebens aber hat
sich bisher nicht vor dem Jahre 1566 nachweisen lassen, und da
handelt es sich um eine besondere Vorführung an einer Stätte
hervorragender Gelehrsamkeit: am Gymnasium zu Straßburg i). So
etwas wird bei Durchschnittsaufführungen bürgerlicher Kreise nie-
mand verlangt haben, zumal es die Anfertigung völlig neuer Kostü-
me erheischt und somit große Kosten gemacht hätte. Aber die
gelegentliche Einführung von Trachten fremder Völker, für deren
Eigenart auch weiteren Kreisen die Augen geöffnet waren, wurde
vermuthch hier im weltlichen Spiel noch mehr als im geisthchen
verlangt und konnte schließlich auch ohne gar zu tiefen Griff in
den Geldbeutel geleistet werden.
Kommen wir so vorbereitet an Hans Sachsens Theaterkostüme
heran, so sind wir nun imstande, das Material recht zu deuten
und zu erkennen : er bereitet uns auch auf diesem Gebiete keine
Überraschungen, sondern läßt sich von der geschichtlichen Situation
tragen. Zunächst auch hier keine völlige Emanzipation, sondern
ein starkes Fortleben der Tradition, zumal im geistlichen Drama.
Die hier hervortretende Dürftigkeit in den szenischen Bemerkungen
hinsichtlich der Kostüme, die in den neutestamentlichen Spielen
zu fast völliger Schweigsamkeit gesteigert ist, erinnert an die mittel-
alterlichen Texte, die auch so sehr wenig über die Tracht bemerkten,
weil sie eben im allgemeinen fest in der Tradition begründet, also
selbstverständlich war, und zeigt, daß Hans Sachs auch noch an
der Überlieferung festhielt. Zu solchem Argumentum ex silentio
gesellt sich auch einiges Positive : wenigstens an der Kostümierung
der Hans Sachsischen Könige zeigt sich, daß man bei den Meister-
singern der alten Tracht treu blieb. Der Hans Sachsische König
trägt beständig die Krone auf dem Haupt so gut wie der König
Herodes und die heiligen Drei aus dem Morgenlande in den geist-
lichen Spielen des Mittelalters, obschon man in Nürnberg bei den
Einzügen Karls V. und Ferdinands gesehen hatte, daß der Herrscher
auch in feierlichen Situationen von diesen Zeichen seiner Würde
1) Vgl. P. Expedit US Schmidt, S. 68. Übrigens mag man auch auf das oben
(S. 112) erwähnte, isolierte Straüburger Trachtenbuch von 1573 in diesem Zusammenhang
hinweisen.
Tradition und Neuerungsspuren. 12 L
keinen Gebrauch macht; er trägt sie niclit nur in festlichen Momen-
ten, sondern immer, etwa auch wenn er zu Tisch geht (KG. 11,
S. 143), und es ist ein großer Ausnahmefall, wenn König Artaxerxes
beim Zubettgehen (KG. 23, S. 213) statt der Krone die Schlafhaube
auf dem Kopfe trägt: sie spielt im Fortgang der Handlung eine be-
deutsame Rolle. So muß der Hans Sachsische König auch
noch wie weiland König Herodes das Zepter stets in der Hand
halten — werden Krone und Zepter beiseite gelegt, so kann das
die Abdankung bedeuten, so wie der Thronprätendent bei seiner
Anerkennung mit 'Krone und Zepter geschmückt wird. Die Krone
kommt auch der Königin ständig zu. Ebenso aber ist es offenbar
alte Tradition, daß der König immer in einem besondern „könig-
lichen Gewand" einher geht: es ist mit Gold geschmückt (KG. 13,
S. 349) und besteht, wie öfter hervorgehoben wird, aus „Purpur";
ist der König in tiefer Trauer, so trägt er ein Klagkleid, wie andere
Trauernde auch, aber über dem Königsgewand (KG. 6, S. 107), in
der Schlacht trägt er den Harnisch, aber über ihm, um als König
kenntlich zu sein, den Purpurmantel (KG. 13, S. 509). Unter „Purpur"
aber dürfen wir hier und anderwärts nicht die hochrote Farbe der
gewöhnlichen Vorstellung uns denken, das Wort hat vielmehr den
ihm schon Jahrhunderte v o r Hans Sachs eigenen Sinn : farbiges
Seidengewebe; völlig deutlich tritt uns das in Hans Sachsens Esther-
drama entgegen, wo die könglich kleijdung, die Mardocheus vom
König Ahasverus erhält, folgendermaßen charakterisiert wird: ein
piirpurkleijd, gelb und weiß seiden (KG. 15, S. 123)i). Des Dichters
früher aus seiner Epik ermitteltes Interesse für Stoff und Farbe
kommt hier zum Ausdruck, um so mehr, als die Bibel an der zu-
grunde liegenden Stelle ein blau und weißes Kleid anführt, bei
dem von Seide nicht die Rede ist. Oder geht diese Veränderung
nicht auf den persönlichen Geschmack des Dichterregisseurs, sondern
wie die gesamte Königstracht auf alte Tradition zurück? Die
ältere Überlieferung reicht, wie wir sahen, nicht aus, um das zu
entscheiden.
Wenn wir aber so im allgemeinen annehmen, daß die Nürn-
berger Kostüme dem gewöhnlichen Zug der Zeit entsprechend noch
an die mittelalterliche Theatertracht anknüpfen, so sehen wir ander-
seits auch hier wie anderwärts ein paar Spuren des neu auftauchen-
den Interesses für authentische Kostüme und eine Erneuerung der
Theatergarderobe in diesem Sinne. Charakteristischerweise be-
schränkt sich die Modernisierung aber auf wenige Punkte : im For-
tunatusdrama (1553) kommt Andolosia türckisch gekleidet (KG. 12,
S. 214), und in Wilhelm von Österreich (1555) erscheint sogar der
1) In der Handschrift steht allerdings nur gewant gelb und weiß.
122
Ausländische Traclit. Götter und Heroen.
Heidenkönig Graneas ebenfalls türckisch gekleidt (KG. 12, S. 521);
ferner heißt es in Fiorio und Biancefora (1551, KG, 8, S. 324):
Schaw! dort kommen spanisch gekleidt
Etlich herren und auch knecht.
Es scheint also, daß Hans Sachsens Theatergarderobe die Trachten
dieser beiden Völker, der Türken und der Spanier, die auch in dem
allgemein kosttimlichen Interesse der
Zeit die Ausgangspunkte gebildet
hatten, einbezogen hat — andere aber
nicht: König Graneas ist kein Türke
und trägt doch das türkische Gewand
— da kein anderes in der Theater-
garderobe vorhanden ist, muß dieses
genügen, um den Heiden äußerlich
zu charakterisieren. Keine Spur vor
allem von einer Vorführung antiker
Tracht — die zwei Dialogstellen, an
denen eine Differenzierung ange-
deutet ist: das troyanisch gwant, in
dem Agamemnon heimkehrt (KG. 12,
S. 330) und das thuscanisch kleyd, das
sich Mucius Scaevola anlegen will,
um Porsenna zu überfallen (KG. 8,
jl^ ^^Ä^^BP^^B S. 207), sind sicher nur aus des Dichters
^B ^^KflV% ^^H Quellen rein wortmäßig herüberge-
^ ^B^B m^^H nommen, während die Wirklichkeit
der Bühne hier vielleicht auch mit
dem Surrogat des türkischen Kostüms
operiert hat.
Im übrigen haben vielmehr auch
die griechischen Götter und Heroen
eine besonders fremdartige oder gar
archäologisch begründete Tracht nicht
gehabt 1), sondern sind lediglich durch
Hans Sachsens beUebtestes Charakteri-
sierungsmittel gekennzeichnet wor-
den : durch Verleihung eines typischen
Requisits. Phebiis kiimbi mit seinem
bogen, köcher und pf'eilen (KG. 13, S. 462), Cupido . . mit ver-
punden äugen, mit köcher vnnd handtbogen (ibid., S. 465) und
Perseus gehet ein in seim geflügelten füßkleidt (ibid., S. 433) — es
1) Durcli ein im Anfang des näclisten Kapitels erörtertes Meisterlied des Dichters
erfahren wir eines authentisch: daß der Darsteller des Jupiter in der Komödie .Tupitt>r
und Juno v. J. 1534 zepter vnd krön getragen hat.
Abb. 9: Vornehmer Spanier.
Aus Cod. Heidt fol. 392 b (s. u. S. 129).
Das typische Attribut als Kostümniittcl.
128
sind die typischen Attribute der Götter, die, wie oben bei Behand-
lung des Kostüms in Hans Sachsens Epik gezeigt wurde, dem
Dichter vertraut waren; die angeführten Stellen weisen freilich alle
drei erst ins Jahr 1558, so daß es sich vielleicht erst um eine
späte theatralische Ausnutzung seiner Kenntnisse handelt und die
Abb. 10: Brief böte. Aus Cod. Heldt fol. 451b (s.u. S. 128).
Frage offen bleibt, ob Merkur in Dramen der Jahre 1551 und 1554
und Minerva im Jahre 1555 schon ähnlich gekennzeichnet waren
— von den Göttergestalten der Jugenddramen ganz abgesehen, i)
1) Höchstens mag auch hier mit der Farbe des Kostüms gewirkt worden sein, wie
denn der schon oben genannte Joh. Heros aus dem mittelfränkischen Roth — literarisch
jedenfalls ein unmittelbarer Nachfahr des Hans Sachs — 1562 vorschreibt: Ciipido sol in
lauter rodt gekleidf sein. Felix Platter spielt als Knabe zu Basel in der Hypocrisis des
Gnapheus ein Gratia; er erzählt über das Kostüm (Boos, Th. u. F. Platter, 1878, S. 1-44):
124
Das typische Attribut.
Sonst aber ist die Charakteristik eines Standes durch das Attri-
but bei Hans Sachs längst das Übhche : der Gelehrte hat ein Buch
(KG. 13, S. 96), der Nigromant die spera celi (13, S. 486), die Rich-
terin den Stab (10, S. 133, allerdings nur in der Handschrift), der
Jäger Hörn und Spieß (1, S. 92), der Schiffer das Ruder (8, S. 147),
der Fischer dazu noch das Fischfäßlein (16, S. 81), der Hirt
Hirtentasche und Stecken (20, S. 152), der Bote biilgen und
Trompete (12, S. 105 r 16, S. 134), der Bauer Sichel oder Rechen
(10, S. 223; 12, S. 237), der
Wanderer Bündelein und
Stecken (10, S. 19 u. ö.),
der Bettler ebenfalls den
Stecken und dazu den
Sack am Hals (12, S. 29).
Diese nahe liegende und
bequeme Art der Kenn-
zeichnung ist natürlich
keinesfalls Hans Sachsens
Erfindung: das dlh-ftige
Material des Mittelalters
und die reichlichen schwei-
zerischen Angaben aus
dem 16. Jahrundert deuten
auf Ähnliches hin — nur
läßt sich die stereotype
Art der Durchführung
nirgends so deutlich nach-
weisen wie in Nürnberg.
Als etwas besonders Cha-
rakteristisches sei des wie-
derholt genannten Joh.
Heros Anordnung v. J.
1562 hervorgehoben: der
Tod sol mit einem langen
rotgeferbtn stächet kom-
men, während bogen und
köcher vol pfeif dem weib-
lichen Nuncius mortis zu-
erteilt ist.
ohne sie wird nun auch
Der Aussätzige hat
antel.
s
/
.^^^B. W ^a
^
'■•■ JhI
-X '^
^^^^B ^^^^^^k
W^
-^^m'wmm:
Abb. 1 1 : Aussätziger. Aus Cod Heldt toi. 44 (s. u. S. 128).
Neben solchen Attributen und auch
die eigentliche Kleidung hie und da genannt
nicht nur des kleppeiiin, sondern auch Schlafhaube und
mann legt mir der Heriveijenen docter Gertriidl klcider mi. Elx'uso trägt er als Lycondes
in der Aulularia des Plautus ein schönen nuintel so des Svliiirlins sun wer. Also durch-
aus zeitgenössische Kostüme.
Naive Benutzung des Zeitkostüms.
125
der Wallfahrer nicht nur Bulgen und Stab, sondern auch Mantel
und Hut, der Einsiedler nicht allein Stecken, Paternoster und Gebet-
bu(;h, sondern auch Einsiedelrock und Kappen, der Ritter nicht nur
Schwert, Spieß und Schild, sondern auch Helm und Harnisch, und
auch sonst ist von Mantel, Schauben, Imsecken, Hemd usw. öfter
in den szenischen Bemerkungen die Rede; auch das „Klagkleid"
Abb. 12: Nürnberger Fußturnier. Aus Cod. Heldl fol. 95 (s. o. S. 128).
kommt nicht selten vor. Immer aber sind es Hinweise auf die
allbekannten Gewänder der Wirklichkeit, irgend etwas anderes fehlt
vollständig, und ebenso mag hervorgehoben werden, daß die Eigen-
schaftsworte, die zur allgemeinen Anweisung über die Kostüm-
gestaltung verwendet werden, sich stets in der Wirklichkeitssphäre
halten: also etwa köstlich, fürstlich, geschmückt, fein geputzt;
übelbekleidet, armutselig, erbärmlich, daß dagegen niemals ein Wort
wie „abenteuerlich" oder „seltsam" in den szenischen Bemerkungen
126 Mangel an Phantasie. Stoff und Farbe.
vorkommt. Es ist also wohl nicht zu bezweifeln: wenn wir von
den für das biblische Kostüm vorhandenen Traditionen und von
den Zugeständnissen ans Modern-Ethnologische absehen und auch
noch bedenken, daß aus früheren Jahrzehnten altmodisch Geworde-
nes mit in Hans Sachsens Theatergarderobe hinein gekommen sein
kann, besteht sie aus Gewändern der damaligen Gegenwart, und
so wenig wie ein in der Kostümkunde bewanderter, ist ein phan-
tasiereicher Theaterschneider beschäftigt worden. Hans Sachsens
Mangel an Einbildungskraft in bezug auf die Tracht war uns schon
angesichts seiner epischen Dichtung entgegengetreten; aber wir
können auch sonst sagen: es fehlt den Nürnbergern überhaupt an
der Fähigkeit, sich bei der Gestaltung der Kleidung sonderlich frei
gehen zu lassen selbst dort, wo solche Freiheit geradezu geboten
wäre. Die Nürnberger Schembartbücher und die in ihnen enthaltenen
Karnevalskostüme legen mit ihrem geringen Humor, mit ihrem
Mangel an Mut zu einer rechten Emanzipation von der gewöhn-
lichen Tracht für die spießbürgerliche Beschränktheit der damaligen
Schneiderphantasie ein sehr beredtes Zeugnis abi). Auch die alle-
gorischen Gestalten, die freilich nicht in so dichten Scharen auf
die Bühne gelassen werden wie in der Lesedichtung, werden ruhig
ins Zeitkostüm gesteckt oder mit dem ausstaffiert, was die Theater-
garderobe sonst bot — Frau Armut geht wie eine Nürnberger
Bettelfrau einher, so wie jener Heros'sche Nuncius mortis ein lum-
pets weibskleidt haben soll, und Frau Glück ist hochprechtig wie
ein keisserin peklaid und geschmücket. Das Attribut — so bei der
Gerechtigkeit das bloße Schwert — dient auch da zur Ergänzung.
Dagegen tritt uns in den szenischen Bemerkungen Hans Sachsens
und den zugehörigen Textstellen das entgegen, was uns auch
in seinen epischen Kostümbeschreibungen als Gegenstand seines
Interesses auffiel: Stoff und Farbe, während die auch dort so spär-
lichen Hindeutungen auf den Schnitt der Kleider so gut wie ganz
fehlen. Schon oben gelegentlich der Königstracht war darauf hin-
gewiesen worden. Von Sammet und Seide ist öfter die Rede —
allerdings nur im Text, sodaß man hier nicht gerade anzunehmen
braucht, die Kostüme hätten wirklich aus so kostbaren Stoffen be-
standen; gelb, weiß, schwarz, grün, rot, blau werden als Farben
von Kleidern oder Kleiderteilen erwähnt; Hamann im Estherdrama
trägt sogar rote Stiefel2). Besonders beweiskräftig aber für Hans
Sachsens Neigung zu kostümlichen Farbenwirkungen auf der Bühne
scheint mir eine Stelle in den „Vier unglückhaften Liebhabenden"
1) Allerdings steht (vgl. o. S. 113 Anm.) die Untersuchung noch aus, inwieweit wir
in den Schembartbuchillustrationen wirklich authentische Reproduktionen der Original-
kostüme und nicht etwa wenigstens teilweise nur Versuche besitzen, die textliche Über-
lieferung illustrativ auszugestalten.
2) Ob dieser Zug vielleicht auch auf alte Tradition hinweist?
Stoff und Farbe.
127
(1556, KG. 13, S. 177, vgl. 176, 26 f.) zu sein, wo der König, inbezug
auf Gernier, Gabriotto und Reinhardt zu seinem Marschall sagt:
Marschalck, wer warn die drey in grün?
Diese Worte entsprechen allerdings der Angabe in Hans Sachsens
Vorlage (Wickram); an sich wäre es aber natürlich durchaus für
Abb. 13: Hofmann. Au.s Cod. Heldt fol. 441 b (s. u. S. 128).
den Dichter nicht nötig gewesen, hier Quellentreue zu üben und
um ihretwillen etwa dem Theaterschneider drei neue grüne Kostüme
in Arbeit zu geben; es hegt vielmehr gewiß umgekehrt: in der
Theatergarderobe waren eine ganze Menge von Kostümen in allen
Farben vorhandeni), und weil der Dichter das wußte, konnte er die
Angabe der Vorlage herübernehmen.
1) Vgl. Felix Platters Erzählung über die Baseler Aufführung von V. Boltz Spiel
„Pauli Bekehrung" i. J. 1546 (H. Boos, Th. u. F. Platter. 1878. S. 144): der Rudolf Fry
128 Wiederbelebung Hans Sachsischer Bühnentrachten.
Über solche allgemeine Feststellungen hinaus aber uns ein
bestimmtes Bild wenigstes von einigen der auf Hans Sachsens
Bühne gebrauchten Kostüme zu schaffen, ermöglicht uns die An-
nahme, daß es sich doch zum großen Teil um die Alltagskostüme
des damaligen Nürnberg gehandelt hat, und das in bezug auf sie
vorhandene Material, obenan also der Heldtsche Kodex, und so
konnten dem hier vorliegenden Abschnitt eine Anzahl solcher
Trachtenbilder eingefügt werden. Eine gewisse Fehlerquelle muß
dabei freilich berücksichtigt werden: Heldts Bilder geben, wie wir
sahen, in der Hauptsache die Kostüme nicht der fünfziger, sondern
der sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts wieder. Groß aber ist die
Differenz im allgemeinen wohl nicht; wenigstens erscheint sie in
den meisten Fällen, in denen ein Vergleich dadurch ermöglicht
wird, daß Heldt auch die Trachten vorführt, wie sie vor jähren ge-
wesen sind, meist nicht sehr bedeutend, und namentlich wird man
die Kleidung der niederen Stände wohl als ziemlich stabil sich vor-
stellen dürfen, so daß durch die Wiedergabe ihrer Trachten als der
Hans Sachsischen kein zu großer Anachronismus begangen wird.
Wenn Heldt einmal (fol. 159 b) einen Barbier in altertümlicher Tracht
abbildet, wie er noch 1550 auf der Straße zu sehen gewesen, so
mag das ein Zeichen dafür sein, daß eben um diese Zeit die neuen
Handwerkertrachten sich durchgesetzt haben. Wie Herr Tristant
und Curnefal als Jacobs-bräder bekleid ausgesehen haben (KG. 12,
S. 176), können wir uns also nach Heldts Bild (fol. 43; vgl. o. S. 113)
(genau vorstellen; Ulisses als Bettelmann KG. 12, S. 359) steht
durch Heldts Bild (fol. 44 b vor uns, ebenso der aussätzige Mark-
graf Hato mit schlaff haiiben, klepeiiein und mantel (KG. 8, S. 151)
durch die Darstellung des Aussätzigen (fol. 44a; vgl. o. S. 124).
So sehen wir ferner die Diener: Köchin, Hausknecht, Kellermeister
(fol. 433b, fol. 444, 462) vor Augen, der in Hans Sachsens Dramen so
häufige Bote erscheint (fol. 451b; vgl. o. S.123j und für die Sphäre des
Bauerntums liegt ein ungemein reiches Material vor, das uns nament-
lich die Typen des Hans Sachsischen Fastnachtspiels völlig wirklich-
keitsgetreu schauen läßt : denn nicht irgend beliebige Bauern, sondern
die Bauern aus der Umgegend von Nürnberg bildet Heldt ab (vgl.
bes. fol. 422 b, 456 ff., 462 b, 466, 472). Aber auch aus der vorneh-
men Welt werden wir einige Typen uns aneignen dürfen: so etwa
den Hofmann (fol. 441b und 442 a; vgl. o. S. 127) und die Geschlech-
terbraut (fol. 400); die Darstellung eines Nürnberger Fußturniers
(fol. 95 a; vgl. o. S. 125) gibt uns ein Bild der ritterlichen Rüstung.
war hauplman, hatte by WO biirger, alle seiner färb angethon, imder sehn fenlin.
Ferner in des Heros oben erwälinten Drama v. ,1. 15(52: Cupido sol in lauter rodt ye-
kleidt sein . . . Praecepter sol ein eober sc.hwartz hleidt haben . . . Knab . . in lauter
schwartz yeUleidt Dazu auch die oben (S. 118 Anni. 1) erwähnte wcil.^e KhMdung des
?-ng<>ls niil (hMii roten Kreuz.
Wiederbelebung Hans Sachsischer Biihnentrachten. Kostümliche Phantastik. 129
Für die Ausrüstung des Narren, der mit Kappe und Kolben bei Hans
Sachs so häutig erscheint, in dessen Gewand z. B. auch Herr Tristant
sich hüllt, mag eine Narrengestalt aus der Darstellung eines Auf-
zuges im Heldtschen Kodex verdeutlichend wirken (fol. 68). Der
letztere gibt uns ferner mehrfache Gelegenheit, uns Hans Sachsens
Musikanten vorzustellen (fol. 164 b, 397 b; vgl. o. S. 102), und das
Bild des Ehrenholds (s. u. S. 134) dürfen wir wohl dem 1562 in
Nürnberg hergestellten Druck
eines Dramas „Der irdische
Pilgerer" entnehmen, das ein
anderer „Held", jener Schulmei-
ster Johannes Heros in dem
mittelfränkischen Städtchen
Roth verfaßt hafi). Endlich
gibt der Heldische Kodex auch
die beiden ausländischen Trach-
ten her, die Hans Sachsens
Theater einführte: den Spanier
(fol. 329 b ; vgl. o. S. 122) und die
Türken (fol. 316, o. S. 111) —
wenigstens (und das ist für uns
das Entscheidende) das Bild der
Vorstellung, die man im dama-
ligen Nürnberg von türkischen
Kostümen hatte. — Alle unsere
Reproduktionen geben freilich
die Farben der Heldtschen Bil-
der nicht wieder: vernach-
lässigen dadurch aber durchaus
kein Wirklichkeitselement: bei
einem Vergleich der Heldtschen
Bilder mit ihren Vorlagen stellt
sich heraus, daß er die Farben
vollständig willkürlich behan-
delt. Im übrigen aber vermitteln sie uns auch für unsere besonderen
Zwecke lebendigste Anschauung.
Die kostümliche Phantastik beschränkt sich, wenn wir absehen
von den traditionell gegebenen Gestalten des älteren Dramas, den
Engeln und Teufeln und der Paradiesschlange, von denen im zweiten
Teil dieses Buches die Rede ist, auf eine einzige Leistung. Bei der
letzten Erscheinung der schönen Magelone vom Jahre 1556 (KG. 12,
Abb. 14: Aus Cod. Heldt fol. 168 (s. o. S. 123).
1) Exemplar in Berlin, Kgl. Bibliothek. Zum Vergleich mag man die Herolde der
Ruoffschen Weingartenhandschrift (vgl. Register) heranziehen, die freilich schon ins Jahr
1539 gehören.
H errm ann, Ttieater. 9
130 Das Drachenkostüm.
S. 552) sind Flügel und Schlangenschwanz nur Zugabe zu dem ge-
wöhnlichen Kostüm und wurden gewiß von den vorhandenen Aus-
stattungen des Engels und der Paradiesschlange genommen. Im
nächsten Jahre aber wagt Hans Sachs — geführt von einer Neigung,
die wir auch in seiner Epik beobachteten — etwas Neues, so
wie er auch auf dem Gebiete der Requisiten um die gleiche
Zeit die Technik stärker in Anspruch zu nehmen begann: im
Harnen Seufrid führt er die Drachen selbst auf die Bühnei), mit
denen der Held zu kämpfen hat (KG. 13, S. 341, 344 ff.). Und nach-
dem er einmal für diesen Zweck das Drachenkostüm hat herstellen
lassen müssen, schreibt er sozusagen im nächsten Jahre für dieses
Kostüm zwei neue Stücke: die Andromeda am 22. März und die
Daphne am 29. März 1558 (KG. 13, S. 427, 458). Und so groß
muß das Entzücken der Zuschauer beim Anblick dieses Drachens
gewesen sein, daß der Dichter ihn am 27. September des gleichen
Jahres im Alexanderdrama noch einmal anbringt und zwar etwas
gewaltsam. Der zauberkundige König Nectanabus liebt Alexanders
Mutter Olympias, und um sie zu besitzen, spiegelt er ihr vor, Zeus
sei in Leidenschaft für sie entbrannt und wolle sie zur Nachtzeit
in Gestalt eines Drachens besuchen. In einem Monolog erklärt er
sodann, selbst die Rolle des Drachens spielen zu wollen, und darauf
folgt die szenische Bemerkung (KG. 13, S. 485) : Nectanabus gehet
ab, kiimbt bald wider wie ein trach und gehet herumb und wider
ab. Der Anfang eines Hergangs, der durchaus hinter die Szene
gehört, wird auf sie verlegt, damit die Zuschauer noch einmal das
Drachenkostüm bewundern können. Es ist also offenbar etwas,
was aus der im ganzen nicht sensationellen Art der Nürnberger
Kostüme stark herausfällt. — Und wie sah der Drache nun aus?
Die szenischen Bemerkungen geben darüber nicht viel her, aber
hier können wir ja auch die Schilderungen des Dialogs heranziehen ;
so heißt es im Hürnen Seufrid von dem Drachen :
Gefluegelt mit grawsamen fiirm.
Sein zen, die sint eyseren ganz,
Mit ainem giftig langen schwänz.
Auch thuet er hellisch fewer speyen.
und in dem Drama Perseus mit Andromeda :
Des fewr schoß im auß dem rächen . .
Hat wol ein klaff ter langen schwantz,
Hat auch zwen flügel in meers-grufjt . .
Sehr grawsam scharpff waren sein klaen\
von seinen Klopern, seinen langen zen und freijsam klaen, seinem
Feuerspeien ist auch sonst die Rede. Daß die Vorstellung des
1) übrigens schreibt auch schon in einem vorhanssaclisischen Fastnachtsspiel (Keller
S. 173) eine szenische Bemerkung vor: Hie gel ein Trach und speit fear miß.
Das Draclienkostüm. Umkleiden und Unterkleidung. 131
Feuerspeiens nicht der Phantasie des Publikums überlassen blieb,
sondern mit den im vorigen Kapitel charakterisierten Feuerwerks-
mittelh wirklich ausgeführt wurde, beweisen die szenischen Be-
merkungen, wo das speit feiver dreimal gefordert wird (KG, 13,
S. 360, 448, 464); in dem Andromedadrama, wo der Drache eigent-
lich ein Meerwunder ist, verlangt des Dichters Handschrift sogar
speit feiner und wasser, — der Druck aber hat die beiden letzten
Worte fortgelassen: die Durchführung ist offenbar technisch nicht
möglich gewesen. Von dem Aussehen dieses Drachen können wir
uns wieder ungefähr eine Vorstellung machen: beim Nürnberger
Schembartlaufen hat man einmal ein solches Monstrum durch die
Straßen der Stadt geführt, einen dreiköpfigen Drachen allerdings;
wenn man aber von der Abbildung, die die Nürnberger Schembart-
bücher bringen, zwei Köpfe fortläßt, bleibt etwas übrig, was gewiß
dem Drachenkostüm der Bühne sehr ähnlich sieht^).
Es bleibt endlich übrig, eine Nebenfrage des Kostümwesens
noch zu erledigen: die Frage nach einem etwaigen Umkleiden der
Personen vor den Augen des Publikums und das damit zusammen-
hängende Problem einer angemessenen Unterkleidung. Auch diese
Frage läßt sich beantworten, und das Ergebnis ist charakteristisch.
In den ersten Jahren der Meistersingerbühne stehen die bühnen-
gemäßen Unterkleider offenbar noch nicht zur Verfügung: ein
Kleiderwechsel bei offener Szene findet nur statt, wenn die be-
treffende Person das eine Kostüm über dem andern tragen kann.
Die „unschuldige Kaiserin" zeucht die mannßkleider ab; da steht
sie wie ein fraw (KG. 8, S. 157 : 1551) — die Mannskleider waren
das lange Gewand des Arztes. Oder (KG. 6, S. 107, wieder 1551)
im „Absalon": David sthet auff vnd thiit sein schwartz Meid ab
— das lange Trauergewand, das er über der königlichen Tracht
getragen hat. Sonst aber geht jemand ab, um sich hinter der
Szene umzuziehen^); so noch im Hugschapler aus dem Juni des
Jahres 1556 (KG. 13, S. 39): der König überredet den Einsiedler,
mit ihm die Kleider zu tauschen, und nun spricht dieser:
. . . Kumbt in mein zelln, vnd leget an
Mein rock, mantel, hat vnd hentzschuch,
Nembt Pater noster, stab vnd buch.
Sie gehen beide ab. König Hugo kumbt wider in des ainsidels
Meid. Wenige Monate aber nach der Abfassung dieser besonders
1) Der Drache des Schembartlaufs gehört allerdings ins Jahr 1511; aber gerade in
bezug auf die sog. „Hölle" des Schembarts, zu der auch der Drache gehört, besteht mir
der Verdacht, daß die Bilder erst in Hans Sachsens Spätzeit auf Grund der Textüberlieferung
hergestellt sind, also im ganzen die Vorstellungen der Zeit um 1560 wiedergeben.
2) In der Schlußszene der Unschuldigen Kaiserin vom J. 1551 (KG. 8, S. 158) handelt
es sich jedenfalls nur um ein „Schmücken", nicht um ein eigentliches Umkleiden.
9*
132 Umkleiden und Unterkleidung.
charakteristischen Stelle vollzieht sich ein Umschwung ; wir dürfen
nicht vergessen, daß wir auch sonst in der zweiten Hälfte des Jahr-
zehnts eine Tendenz zum Komplizierteren beobachtet haben. Das
Drama vom Kaiser im Bade aus dem September des Jahres 1556
verlangt geradezu eine Umkleidung vor den Augen des Publikums,
wenn das Ganze seine Wirkung nicht verfehlen sollte: Er zeucht
ketten und schauben ab und hut. Sie geben in ein badtmantel vmb,
und er geht ab . . . Der enget kumbt im badtlach, wie der kayser
abgangen ist . . . Sie legen dem enget des kaysers gwandt vnnd
geschmuck an (KG. 13, S. 116f.)i). Und jetzt geht es ebenso wie
mit dem Drachenkostüm: das Neue, einmal gefunden, wird nun
gründlich ausgenutzt; zum erstenmal gleich im nämlichen Drama
in einer Situation, die eine getreue Wiederholung der eben aus
dem Hugschapler angeführten Szene ist: Herrscher und Einsiedler
wechseln das Kostüm; diesmal aber gehen sie nicht ab, sondern
die szenische Bemerkung schreibt vor: Der kaiser legt den ein-
siedelrock an, setzt sein huet auff (S. 134). Und in den
Dramen der Folgezeit kommt das Umziehen vor dem Publikum
so häufig vor, daß wir fast annehmen möchten: es ist kein Notbehelf
mehr, sondern etwas was die Zuschauer gern mitansehen 2).
Und was tragen die Darsteller unter dem Kostüm, das sie nun
vor den Augen des Publikums abzulegen haben? In dem eben
genannten Drama kommt es durchaus darauf an, daß man den
Kaiser einen Augenblick nackt sieht; ebenso muß im Passions-
drama des Jahres 1558 Christi Körper, nachdem die Knechte des
Pilatus die Kleider von ihm abgestreift haben, bloß erscheinen,
denn gleich nachher heißt es (KG. 11, S. 294): Ein knecht bringt
geysel vnnd rufen in rotte färb eingetaucht. Sie hawen in sein
leg b , wirf blutig. Wir müssen also annehmen, daß in solchen
Fähen die Darsteller unter ihrer Tracht fleischfarbene Trikots, leib-
kleider gehabt haben, so wie sie jedenfalls auch im Schöpfungs-
drama Adam und Eva trugen: sind ganz nacket und darzu bloß
(KG. 1, S. 39), während bei dem blofJ eingehenden Teufel im Drama
David zählt Volk (10, S. 370 : 1552) wohl an den zottigen Teufels-
habitus der Tradition zu denken ist, wie er uns in der Handschrift
des Ruofschen Weingartendramas entgegentritt. Die „Leibkleider''
aber stehen auch ihrerseits in der Tradition und sind nicht etwa
erst eine Erfindung der Meistersingerbühne^). In andern Fällen
1) Befördernd mag auch das Drama vom Verlorenen Sohn vom April des gleichen
Jahres gewirkt haben, wo wenigstens eine bessere Bekleidung des Helden vor den Augen
des Publikums erfolgen muß (KG. 11, S. 236).
2) Dagegen findet die Bekleidung des Kaisers mit dem Herrscherornat (KG. 13. S. 138)
mit Recht hinter der Szene statt: Der Zuschauer durfte ihn nun nicht noch einmal
entblößt sehen.
3) Vgl. o. S. 115f.
Umkleiden und Unterkleidung. 'Rüstung' der 'Stulticia'. 133
dagegen, in denen die Umkleidiingdem Publikum sichtbar wird, werden
wir an wirkliche Unterkleider zu denken haben; wenigstens wäre
es doch bedenklich anzunehmen, daß in der ernsten Situation, in
der der Ritter Gottfried und die Märtyrerin Pura die Gewänder
wechseln (KG. 11, S. 350:1559), die züchtige Jungfrau auch nur
scheinbar die Blöße ihres Körpers zur Schau stellt. Hans Sachsens
Bühne mußte daher für die Darsteller auch die entsprechende weib-
liche Unterkleidung zur Verfügung halten; eine gewisse Verfeine-
rung hat sich also bei aller Einfachheit des Kostüinwesens schließ-
lich herausgebildet.
Eine Bestätigung verschiedener hier für das Nürnbergische
Kostümwesen ermittelten Grundtendenzen wird geliefert durch einen
handschriftlichen Fund, der in letzter Stunde gemacht just noch
zurecht kommt, um für dieses Kapitel eine Ergänzung zu bieten.
Während das Material für unsere Kenntnis der von Hans Sachs vor-
geschriebenen Trachten sonst nur auf einzelne in den Werken ver-
streute Gelegenheitsbemerkungen sich bezieht, haben wir nun auch
eine Stelle, an der der Dichterregisseur im Zusammenhang über die
kostümliche Rüstung aller Personen eines Dramas Vorschriften
macht; es handelt sich allerdings um ein Werk aus des Dichters
Frühzeit und um eine Komödie, die in ihrer ganzen Art dem Fast-
nachtspiel recht nahe steht : um die 1532 verfaßte Stulticia mit irem
hofgesind. Die bisher wenig beachtete Handschrift 686 des Klosters
Einsiedeln 1) stellt offenbar eine Abschrift der verlorenen Urfassung
der Komödie dar, sei es, daß sie auf das zweite Spruchbuch, sei es,
daß sie auf ein Einzelmanuskript des Dichters zurückgeht'^), und
in ihr heißt es zum Schluß (S. 42/44) :
1) Aufmerksam wurde ich auf sie durch einen Hinweis Goetzes: KG. 23, S. 5'20, der
aber nur angibt: „mit besonderen Bülinenanweisungen". Ich durfte den Codex durch die
Güte der Bibliotheksverwaltung hier in Berlin benutzen.
2) Daß es sich nicht um eine Abschrift aus den gesammelten Werken des Dichters
handelt, wie man zunächst annehmen könnte, geht schon daraus hervor, daß am Ende der
Kopie das Jahr 1554 genannt wird, während der zweite Band der Folioausgabe, in dem
die Komödie zuerst gedruckt ist, 1560 erschienen ist. Aber auch ein positiver Beweis dafür
läßt sich liefern, daß die Vorlage der Handschrift mit der früheren Fassung identisch ge-
wesen sein muß : Hans Sachs gibt in seinem handschriftlichen Generalregister, das nach
den geschriebenen Spruchbüchern oder z. T. nach Sondermanuskripten gearbeitet ist, als
Personenzahl der Stulticia an: 28 perfon, der Druck des Werkes dagegen nennt 29; tat-
sächlich fehlt im Einsiedler Codex die ganze kleine Szene mit dem wunderlichen mann
(KG. 7, S. 35 f.): sie ist offenbar ein späterer Zusatz. [Die Verszahl des Gesamtregisters (692)
stimmt weder mit dem Einsiedler Codex (686) noch mit dem Druck (702), wenn auch immer-
hin etwas mehr zu dem Codex: Hans Sachs wird sich wohl, wie nicht selten, etwas ver-
zählt haben.] Außerdem finden wir zahlreiche kleine Einzelabweichungen; metrisch und
sprachlich aber weisen, wie hier nicht im einzelnen gezeigt werden kann, die Lesarten
der Einsiedler Handschrift so sehr auf Hans Sachsische Art, daß man auch sie für die Ui-
sprünglichkeit des Einsiedler Textes als Beweis heranziehen und nicht etwa in ihnen Ände-
134
'Rüstung' der 'Stulticia'.
Hernach volgen die perfon mit irer rüstung in die Comedj
Der herolt, in ainer herolts khlaydung
Abb. 15: Nürnberger Herold |vgl. o. S. r29|
rungen eines fremden Bearbeiters gegenüber dem uns bekannten Texte sehen darf. — Nun
könnte man freilich zwar zugeben, daß der Wortlaut der eigentlichen Komödie auf Hans
Sachs zurückgeht, aber die Ansicht aufstellen, daß die oben abgedruckte Rüstung der
Zusatz eines fremden Regisseurs sei, eben dessen, der sich für Aufführungszwecke den
(jetzt freilich neugebundenen) Gesamtcodex von 5 Hans Sachsischen Stücken zusammen-
gestellt hat ; doch spricht dagegen der Umstand, daß unter diesen Prosanotizen noch der
Satz steht : Auch inac/ man wol etlich perfon auslaffen wo der zu vill wern, der doch
wohl nur von dem Dicliter herrühren kann, ferner die oben gekennzeichnete innere Über-
einstimmung der Kostümanweisungen mit der Hans Sachsischen Art. — Auf die kritische
vStellung der übrigen in dem Codex enthaltenen Stücke (Fastnachtspiele N. 14, 6, 7, 13)
kann bei der Schwierigkeit dieser Frage nicht eingegangen werden. Der Abschrift von
F. 6 ist eine Kostümvorschrift beigegeben (vgl. KG. 25, S. 82, N. 746); sie ist aber hier
vorangestellt und geht so ganz anders als die oben mitgeteilten Anweisungen ins spezifisch
Schauspielerische über, daß sie schwerlich Hans Sachs, sondern wohl dem erwähnten
Regisseur zuzuschreiben ist. Immerhin ist sie interessant genug, um hier einen Abdruck
zu verdienen :
(S. 73) Die Klayduufi der Ferfoii.
Der vatter mit groben har luid pari auf alt fraukhifcli Iddait , au ainem ftebleiii
oder ftekhen geeilt zitrent unnd hueftent kraifteut mit langfameu leifeu driten rund lanli-
famer leifer redt vnnd aiii varpanlt oder fchrouen mitten in der ftueben darauff er fi/tz
zw feyuer zeit wie verzeiclinet ift vnd ein dafehn, darineu er vil reellen Pfenning liab. e.
Der Sun ein Haifiger Jüngling uh>1 gebutzt mit federpüfclien rnd gefelimukht, wie
man es zu wegen pringen mag. e.
Der los gefel in ainem narren lüilagd der unierfl nuud taller lieg im liab, rund mit
vil fett famer abeis rund hoffen, als ein luiechler oder zirtutler guet rar aiigeii falfrli
hinternach der iui offt die feggen hinterwertz zeig. e.
'Rüstung' der 'Stulticia'. 135
Siiilticia, als ein künigin, doch ein narrenkhapp am hals
hanngc vnnd vill narrenkhappen peij Ir haben das fij yedeni eine
an [heng]
lieb Ir felb, die Erff hoff'raw ein SpiegfelJ drage, vnnd oft
darein fchawen hoch fertig gecl[aijt]
Schmale hlereij die annder foll ein fuchsfchwantz dragen,
die ftulticiam mit beftreichen
Vergeffenhaydt die dritt Soll ain küß mit dragen fleh fchläf-
rig ftellen,
wolliift die vierdt ain pomerantze dragen
J eckte in aim narre klag dt vnd kolben
Das kindt auf ein? pfertlein reiten vnnd ain äpfel dragen
Die frauw fein erber klaydt als ein Eefraw
Der pawer Im pawren klaydt
Der handtwergsmä mit hamer, zang^ ein fchmidt
Der kauf man Im mädrem pireth vnnd rockh
Der karg mit aine gelt fackh am arm alt und grab
Der drinckher mit groffem pauch ein wein kandl drag^
Der pueler fein ftolz in fpanifch' kappe und federn
Der Spiler würfet und karte übel klaydt
Der lantsknecht in hofen wames, ein hollenpart^
Der Reutf in ftifel unnd Spore vnd reit rockh
Der walprueder in mantel hiiet mit mufchell vnnd zaichen
Der Alchamift mit eim diftilier glafs
Der paw herr mit ein winckhel maß vnd gult[. .]
Der doctor in docto pireth vnd hrockh ein puch dra[g^]
Der Regen dt köftlich gefchmuckht groffe fed'pufch
Der minie h in ainer kutten fchwarz grab od' weyfs
Der Curtifan ein kurzen pffaffen rockh, ain groffe fchlappen
auf, ein prief in der hanndt,
Der alt man an ein fteckhen geent grab, vnd alt fain pog-
rueckhet hinckh'^ in alt frenckhifch^ klag [dt]
Die fafs nacht in frawen klaydern voll fchelflen] narren oren,
kartenpletern, vnd d' gleiche hangen
Die faften hinckhendt in fchwartze mantl ei[n] fchlayr wie ein
pogin od' pethfchwefter ain pa[ter]-nofter vnnd prezen drgendtf!]
Die Aufmerksamkeit Hans Sachsens auf Stoff und Farbe der
Kostüme tritt auch hier hervor; vom Schnitt ist wiederum kaum
die Rede. Nur einmal wird charakteristischerweise das Altmodische
der Tracht hervorgehoben, und umgekehrt wird das Neumodische
im Aufzug des Buhlers gekennzeichnet, indem ihm eine spanische
Kappe gegeben wird: wir denken an das oben ausführhch be-
handelte Interesse für die spanische Tracht. Im übrigen gehen auch
hier die allegorischen Gestalten, ohne daß die Phantasie stark be-
müht wird, im überlieferten Theaterkleid oder im Alltagsgewand;
136 'Rüstung' der 'Stulticia'.
bei der Gestalt der Frau Narrheit taucht das typische Kostüm der
Königin wieder auf. Eine gewisse Ausnahme scheint nur die
Rüstung der Fastnacht zu machen, die etwas phantastisch aus-
gestaltet erscheint; auch hier aber ist von einer selbständigen
Leistung Hans Sachsischer Einbildungskraft nicht die Rede: solche
Kostüme aus Kartenblättern u. dgl. erscheinen in den Nürnberger
Schembartbüchern, auf die schon mehrfach verwiesen wurde. Das
Hauptmittel, mit dem der Dichterregisseur kostümhch charakteri-
siert, ist auch hier wieder das Attribut.
Ein paarmal aber gibt Hans Sachs hier Vorschriften, die sich
nicht mehr nur auf das Kostüm beziehen, sondern auf die Schau-
spielkunst.
Drittes Kapitel.
Die Schauspielkunst.
Wenn wir den Umstand, daß Hans Sachs seine Werke in dem
Bewußtsein schrieb, bei ihrer Aufführung Regie zu führen, bisher
benutzt haben, um aus ihnen ihren Bühnensinn herauszulesen und
unter Heranziehung der technischen Verhältnisse das Theater der
Meistersinger zu rekonstruieren, so können wir das gleiche Material
nun auch verwerten, um über die Schauspielkunst der Nürnberger
ins Klare zu kommen. In den Anweisungen, die ein dichtender
Regisseur den Personen seiner Dramen gibt, spiegelt sich natur-
gemäß seine Auffassung von der schauspielerischen Darstellung.
Hans Sachs aber ist sogar nicht nur Regisseur gewesen, sondern
hat selbst in einer großen Anzahl von Rollen als Mitspieler die
Bühne betreten i); um so mehr haben wir ein Recht zu der Annahme,
daß zumal seine szenischen Bemerkungen, soweit sie sich auf das
Agieren der Personen beziehen, durchaus praktischen Theatersinn
besitzen.
Immerhin: es wird sich empfehlen, nicht nur dieses Recht zu
betonen. Schließlich handelt es sich doch nicht um einen Schau-
spieldichter, der nur Rollenstücke schreibt und weiter nichts, son-
dern um einen Autor, der auch auf anderm, theaterfernem Gebiete
arbeitet, der auch epische Dichtungen in ungeheurer Zahl verfaßt.
So könnte die Auffassung, die der Epiker von der Aktion seiner
Gestalten hat, in die szenischen Bemerkungen sich eingeschlichen
haben. Darum müssen wir das Material selbst befragen, ohne vor
der erschöpfenden Durcharbeitung seiner erschreckenden Fülle
zurückzuschaudern. Zunächst : macht es einen in sich einheitlichen
Eindruck, hat es terminologischen Charakter? Diese Frage ist sofort
mit Ja zu beantworten, sobald wir das Gesamtmaterial in zwei
Teile zu scheiden uns entschließen. Ganz offenbar kennt das Theater
des Hans Sachs zwei schauspielerische Stile sehr verschiedenen
Charakters: die Darstellung der großen Dramen, der Komödien und
Tragödien ist von der der Fastnachtspiele streng geschieden, wenn
auch natürlich ein paar mehr indifferente Züge hier wie dort in
1) KG. 10, S. 6.
138 Terminologischer Sinn der szenischen Bemerkungen. Zwei schauspielerische Stile.
den Anweisungen zu finden sind und eine gelegentliche Herüber-
nahme gewisser wesentlich dem Drama zukommenden Spielvor-
schriften ins Fastnachtspiel nicht völlig vermieden ist. Auf die
Unterschiede der beiden Stile wird später genauer einzugehen
sein; hier mag der Hinweis genügen, daß die Anweisungen des
Fastnachtspiels dem Naturalismus weit näher stehen und somit
dem Nuancieren und Individualisieren größeren Raum geben, so
daß sich hier doch manche nicht typische Vorschriften finden, ja
daß der Dichter hie und da in den Spielbemerkungen die gleich-
mäßige, rein technische Ausdruckweise verläßt und sich mehr
humoristisch-schriftstellerischer Wendungen bedient, die nicht so
wohl an den Schauspieler wie an den Leser sich wenden: gibt jm
ein beiiderling (27, 148), troldi daruon (34, 80), sieht den waidhoffer
(75, 150) und — besonders bezeichnend — einmal statt des üblichen
hat den Kopff in der hand: seczt ein sorgseulen (64, 60). In den
Spielanweisungen der großen Dramen, von denen wir hier vornehm-
lich reden, ist derartiges undenkbar: hier herrscht eine verhältnis-
mäßig einförmige, trockene, sichtlich technisch-terminologische
Ausdrucksart, sachhch ein ständiges Wiederkehren bestimmter
Vorschriften, denen eine gewisse Systematik nicht fehlt und unter
denen nicht wenige einen durchaus eigenartigen Charakter haben.
Ganz besonders verschieden aber sind die Aktionsvorschriften
für Tragödie und Komödie von den Bemerkungen, die der Dichter
in seinen epischen Werken über die körperliche Beredsamkeit seiner
Gestalten macht; jener eben bezeichnete Stil der Fastnachtspiele
steht dieser weiterhin auch noch genauer zu charakterisierenden
epischen Mimik und Pantomimik näher. Auch hier zeigt sich neben
gelegentlich auftauchender individueller Beobachtung eine typische
Wiederkehr des Gleichen; aber sie geht auf wesentlich andere
Züge als in den szenischen Bemerkungen der Dramen und hat ihre
wesentlich andere Begründung: den epischen Zug zum Formelhaften
und den Vers- und Reimzwang. Höchst charakteristisch aber ist
es, daß die gar nicht seltenen Stellen der Dramen, an denen die
auftretenden Personen erzählend über die von ihnen beobachtete
körperliche Aktion anderer, nicht auf der Szene befindlicher Per-
sonen berichten, sich durchaus dem epischen Stil einreihen: die
Anweisungen der szenischen Bemerkungen sind offenbar etwas ganz
Besonderes : nicht Beobachtungsergebnisse, sondern Vorschriften für
den Schauspieler.
Zu der gleichen Überzeugung kommen wir, indem wir Hans
Sachsens Dichtungen mit ihren Quellen verglei(;hen. Hätten die
hier in Frage stehenden szenischen Bemerkungen der Dramen keinen
besonderen theaterterminologischen Charakter, so müßten wir er-
warten, daß ein so quellengetreuer Autor wie Hans Sachs auch
die Angaben seiner Vorlagen über die Körperbewegungen der
Vollständigkeit der szenischen Bemerkungen. 139
handelnden und sprechenden Personen im wesenthchen mit über-
nehmen würde. Tatsächlich ist das Verhältnis i) denn auch in den
epischen Darstellungen Hans Sachsens ein ziemlich enges, wenn-
gleich von einer Einheitlichkeit nicht die Rede sein kann: die
Historien in ihrem Bestreben, den Stoff ins Großzügige zu kompri-
mieren, und manche Meistergesänge') von kurzer Strophenform werfen
die mimischen Andeutungen der Vorlagen vielfach ganz beiseite;
anderseits führt der Zwang, Zeilen zu füllen und Reimworte zu
finden, auch hier oft zu Abweichungen. Ganz anders aber bei den
dramatischen Werken und zumal bei Tragödien und Komödien.
Hier herrscht eine vollständige und offenbar bewußte Selbständig-
keit, die nur selten außer acht gelassen wird: alles wird verschmäht,
was den typischen Vorschriften der szenischen Bemerkungen wider-
spricht, außerordentlich viel Neues wird eingeführt, wozu die Quelle
nicht einmal eine Anregung bietet. Verhältnismäßig am engsten
ist der Anschluß an die Vorlage auch hier wieder bei den Fast-
nachtspielen mit ihrem minder streng geschlossenem System; einige
auffallende und später noch zu besprechende Beziehungen
zum Grundtext finden sich in den biblischen, zumal in den neu-
testamentlichen Dramen. Sonst aber ist der Unterschied zwischen
der Arbeitsweise des Epikers und der des Theaterdichters auch
hier sehr deutlich, — besonders lehrreich ist es, das verschieden-
artige Verhalten Hans Sachsens dort zu studieren, wo er einen Stoff
dramatisch und episch gestaltet hat. So wird kein Zweifel mehr
bestehen, daß die szenischen Bemerkungen in Hans Sachsens
Dramen die Schauspielkunst der Nürnberger Meistersinger uns
vorführen.
Die Frage ist nur noch : ob wirklich die ganze Schauspiel-
kunst? oder ob die Darsteller außer dieser vorgeschriebenen Mimik
und Pantomimik und allem was dazu gehört, auch noch andere
schauspielerische Mittel anwandten? Das wird trotz der verhältnis-
mäßig großen Zahl der szenischen Anweisungen nicht bezweifelt
werden können, daß hie und da einige fehlen, die der Verfasser
sozusagen aus Versehen fortgelassen hat: nicht nur scheinen
einige ganze Stücke wie Gideon 1556 und Jael 1557 in schau-
spielerischer Beziehung merkwiirdig wenig durchgearbeitet zu sein,
sondern es fehlen auch an einzelnen Stellen anderer Dramen die
szenischen Vorschriften, die der Situation nach durchaus zu erwarten
sind. Einige Male scheinen auch die Reden der Personen, die die
Aktion einer mit ihnen auf der Szene befindlichen Gestalt be-
schreiben, auf solche Ausfälle hinzuweisen. Im großen und ganzen
1) Vergleiche sind natürlich nur auf Grund des heutigen Standes der Quellenforschung
angestellt worden.
2) Durchgearbeitet sind für unsere Untersuchung allerdings nur die von Goetze und
Drescher in den „Fabeln und Schwänken" veröffentlichten Meisterlieder.
140 Vollständigkeit der szenischen Bemerkungen.
aber zeigt schon die ganz auffallend kleine Zahl derartiger Stellen
des Dialogs, wie wenig dem Schauspieler überlassen bleiben soll,
seine Aktion selbst zu bestimmen: in dem ganzen gewaltigen
Corpus Hans Sachsischer Komödien und Tragödien zähle ich nur
fünfi), dazu drei, in denen die Beschreibung nachträghch erfolgt,
und endlich sechs, in denen der körperliche Zustand einer Person
geschildert wird, die eben auftreten soll, die die auf der Bühne
befindlichen Personen daher einen Augenblick früher erblicken als
der Zuschauer. Im ganzen also 14 Stellen. Immerhin größer ist die
Zahl in den Fastnachtspielen, und das bedeutet um so mehr, als
ihr Gesamtumfang hinter dem der Komödien und Tragödien er-
hebhch zurücksteht: ich rechne 22 Fälle (10 + 3 + 8) heraus;
tatsächlich entspricht es dem noch ausführlicher zu behandelnden
Stil der Fastnachtspieldarstellung, daß dem Schauspieler hier ein
wenig mehr Aktionsfreiheit gewährt wird.
Zu diesen 36 (14 -f- 22) Stellen des dramatischen Gesamtwerks
kommen nun allerdings noch 23 (13 -4- 10), in denen die Sache
anders liegt. Während jene 36 im Rahmen der theatralischen
Ausführbarkeit bleiben, fallen diese aus dem System der Meister-
singerkunst heraus, ja sie liegen jenseits alles dessen, was man
überhaupt einem Schauspieler vorschreiben kann.
Wie sitzt du also au ff dir selb ?
Bist so erschluchtzet, bleich und gelb?
fragt Ahab T 1557 (KG. 10, S. 405) Königin Isabel ihren Gemahl
Ahab, dem Naboth soeben den Weinberg verweigert hat. Der könig
sitzt trawrig heißt es kurz vorher in der szenischen Bemerkung;
erschluchzet mag sein darauf folgender Monolog gesprochen worden
sein, — bleich und gelb zu werden, hat der Schauspieler nicht in
seiner Gewalt 2). Ja, gelegentlich findet sich zwischen der szenischen
Bemerkung und der Dialogstelle geradezu ein Widerspruch. In
Daniel C 1557 (KG. 11, S. 50 f) heißt es von Belsacer: Der künig
schawt gegen der wandt, fehrt vom tisch auff . . , er sagt dann
aber sofort:
Mein gmüt vor ängsfen sich anstreckt,
Das mir gleich zittern fuß vnd hendt.
Mir schüchtern beide brüst vnd lendt.
Hier haben wir eine einfache Herübernahme der biblischen
Angabe in den Monolog: . . . dafd ihm die lenden schulterten und die
beine zitierten, während das Auffahren in der Quelle nicht zu finden
ist. Dieses verschiedenartige Verhalten zur Quelle aber symboli-
1) Nicht mitgerechnet sind natürlich die Fälle, wo der Dialog nur das anfninnnt, was
die szenische Bemerkung vorschreibt.
2) Nicht hierher geiiören die Stellen F. 42, 193tf; 58, UatT; 7!», 277: da liegt der
Darsteller, und sein Gesicht ist dem Zuschauer kaum sichtbar.
Meistersängerische Schauspielkunst. 141
siert förmlich den Gesamtsinn der sämtlichen Dialogangaben über
die Aktion der Personen: sie gehören ebenso wie die schon
oben charakterisierten Dialogbemerkungen über Mimik und Panto-
mimik in nicht vorgeführten Szenen in die nächste Nachbarschaft
der rein epischen Behandlung dieses Gebiets und haben mit dem
Theater kaum etwas zu schaffen; bezeichnenderweise befinden sich
auch unter den vorher behandelten Stellen, die nicht so offensicht-
lich der Nürnberger Schauspielkunst widersprechen, doch keine
solche, die ganz eigentümliche Vorschriften des theatralischen Stils
wiedergeben und sich nicht ebenso gut auch dem epischen Stil
einordnen ließen.
Und so dürfen wir erklären: von wenigen Stellen abgesehen,
die wir durch Analogie leicht erkennen können, haben Hans Sachsens
Schauspieler nur da ihren Körper irgendwie in Aktion treten zu
lassen oder ihrem Vortrag eine bestimmte Färbung zu geben, wo
die szenischen Bemerkungen das ausdrücklich vorschreiben; im
übrigen herrscht einfache Deklamation des Textes. Wenn der Zu-
schauer gelegentlich im Dialog von Ausdrucksbewegungen und dgl.
hört, die der Darsteller nicht ausführt, so wird er daran so wenig
Anstoß genommen haben wie an den Dialogstellen, die ihm von
Garten, Straße und Meer redeten, während er doch immer nur die
kahlen Wände der Marthakirche vor Augen hatte. Die Einschnürung
der Darsteller aber in ein unschwer erlernbares System von Aus-
drucksbewegungen und Vortragstönen, diese Dressur nach Regeln,
die der Meister vorschreibt, diese Ausmerzung jeder Möglichkeit
individueller Kunstübung, wie sie zumal in den Tragödien und
Komödien uns entgegentritt, darf uns nicht wundernehmen. Es
handelt sich um die Meistersinger. Geradeso wie auf dem lyrisch-
musikalischen Gebiete dem krassesten Dilettantismus durch die
Beobachtung eines großen, jede Individualität erstickenden Systems
von Regeln doch ein gewisser Kunstbetrieb ermöglicht wurde, so
mußte hier gegenüber dem schauspielerischen Dilettantentum, der
mimischen Talentlosigkeit verfahren werden. Lieber einmal einer
einzelnen ausgesprochenen Begabung die Bewegungsfreiheit nehmen
als auf eine gewisse Schulung des unbegabten Durchschnitts ver-
zichten. Eine der Grundfragen jeden Theaterlebens wird somit in
Nürnberg in einem ganz bestimmten Sinne entschieden.
Und welches ist dieses meistersingerische System? so dürfen
wir nun fragen. Ein Negatives drängt sich uns zunächst auf.
Diese Schauspielkunst verschmäht ganz und gar alles, was auf die
charakterisierende Herausarbeitung einer menschlichen Individualität
geht. Ob Saul, ob David, ob Batseba — wenn wir zunächst wieder
die Kunst des großen Dramas ins Auge fassen, die ja den eigent-
142 Verzicht auf Individualisierung.
liehen Gegenstand dieser ganzen Untersuchung bildet — ob Alexander,
ob Romulus oder Tristan: die Darstellungskunst arbeitet immer mit
genau denselben Mitteln. Und es fehlt auch der geringste Ansatz,
wenigstens einzelne Rollenfächer zu unterscheiden: zwischen der
Gesamthaltung der Väter und der jugendlichen Liebhaber, der
Anstandsdamen und der Naturburschen usw. besteht schauspielerisch
nicht die kleinste Differenz. Wie die „lyrischen" Leistungen der
Meistersinger vollständigste Gleichförmigkeit als Ideal aufstellen,
so erstreben auch die schauspielerischen gänzliche Unterschieds-
losigkeit. Jeder überhaupt Zugelassene und Eingeweihte muß im-
stande sein, jede Aufgabe zu übernehmen.
Diese theoretische Erkenntnis aber vermögen wir vielleicht
durch eine Untersuchung der wirklichen Verhältnisse zu kontrollieren.
Freilich: Theaterzettel der aufgeführten Stücke mit Angabe der
Rollenbesetzung, aus der wir ersehen könnten, ob bestimmte Schau-
spieler immer wieder Rollen bestimmter Art spielen, oder ob ein
vollständiges Durcheinander herrscht, gibt es nicht. Wohl aber ein
einzelnes, möglicherweise brauchbares Surrogat. Hans Sachs selbst
zählt in einem Meistergesang vom 6. März 1551 die Rollen auf, die
einem nicht näher bekannten Meistersänger Schmidtlein bis zu diesem
Tage zugefallen sind. Wir lassen den Text dieses Gedichts hier
zunächst folgen i), um ihn dann für unsern Zweck kommentieren zu
können ; die Anmerkungen bieten die Identifikationen der einzelnen
Rollen 2) unter Angabe der Jahreszahl der Abfassung, die in den
meisten Fällen den der Aufführung benachbart sein wird, der
Gattung des betr. Stückes und des Umfangs der Rolle.
In des Romers gesanckweis.
Die 27 Spil des Schmidlein.
Ach got, wie oft hat Sich nur mein person verkert!
Als ob ich het der gottin Circes kunst gelert,
Det doch in kainer gstalt zw lang verharren.
Erstlich war ich mit meinem posen weih ain mon'^),
Wart darnach Jupiter vnd trueg zepter vnd kron^);
Das nechst Jar darnach war ich zw aim narren^).
1) Nach dem ersten Abdruck bei V. Michels: VLG. 3, S. 43 ff. Vgl. f515f: über den
Schmidlein A. Rauch, Barbara Herscherin (Nürnberg 1896) S. 24.
2) Zum größten Teil stimmen sie natürlich mit den von Michels S. 45 f. Gebotenen
überein.
3) F. 4, 8. Okt. 1533 (?1530?), «(i v. 480 Versen (5 Personen).
41 Jupiter und Juno C, 30. Apr. 1534. 107 v. 871 V. (5 P.) oder Judicium Paridis,
9. Jan. 1532, 342 v. 736 V., 15 P.
5) Esther C, 8. Okt. 1536, 70 v. 632 V. (13 P.) oder Slultitia C, 1. Febr. 1532, 63
V. 703 V., 28 P., oder C Jupiter und Juno, 30. Apr. 1534, 38 v. 871 V., 5 P.).
Die Rollen des Schmidtleiii. 143
Nach dem wart ich ain driincken polcz
Mit grofem pawch, ein grolczei und ain koczer^);
Nach dem schnit man den narren stolcz
Mir^) ; nach dem wurt ich des Franczen Schmaroczer^).
Nach dem wart ich der Dolpen Fricz,
Ein pawer^); darnach wart ich der Haincz Flegel-^);
Nach dem wart ich auch der Vurwicz^);
Nach dem wart der milt nach Sant Marteins reget');
Nach dem ich ain zigeuner war,
Dort in der rockenstueben^) ;
Nach dem wart ich, das ander jar,
Der äewjfel gar
Vnd truege in die hele dar
Ein jungen posen pueben^).
Nach dem wart ich am fürstlichen hof ain trabant^^).
Nach dem aber wart ich der hewchler, weit erkant^^) ;
Wurt darnach der dewffel mit der vnhuelden^'^).
Nach dem wurt ich Haincz, der verschlagen pawren knechi^^);
Nach dem wurt ich Vrban, des schwangern, nachtpaur schlecht
(Kunt wir nachpaurn Sein kargheit gar nit duelden)^^).
Wart wider ein trabant zw stünd^^) ;
Nach dem ein knecht vnd ain duerck paidesander,
Da ich den falschen poswicht schiind^^) ;
1) F. 5, 1535, 107 V. 495 V. (4 P.).
2) F. 11, 3. Okt. 1536, 123 v. 379 V. (3 P.).
3) F. 6, 30. Sept. 1536, 138 v. 368 V. (3 P.).
4) F. 15, 31. Dez. 1540, 193 v. 326 V. (3 P.).
5) F. 12, 21. Nov. 1539, 161 v. 384 V. (3 P.).
6) F. 8, 12. Juli 1538, 168 v. 435 V. (3 P.).
7) F. 7, 17. Febr. 1.538 (?), 246 v. 504 V. (3 P.).
8) F. 10, 28. Dez. 1536, 57 v. 214 V. (5 P.).
9) Vermutlich eine Rolle in einer nicht Hans Sachsischen Komödie. Goetze (KG. 26,
S. 48) denkt an eine Aufführung des (epischen) Schwankes 'Das Höllenbad'.
10) Gismunda mit Guisgardo T (vgl. KG. 2, 29, 5), 17. Nov. 1545, 11 v. 472 V. (10 P.).
11) F. 14, 30. Dez. 1540, 141 v. 390 V. (3 P.).
12) F. 18, 19. Nov. 1545, 107 v. 341 V. (3 P.|.
13) Vermutlich wieder in einer Komödie, die nicht von Hans Sachs stammt.
14) F. 16, -25. Nov. 1544, 37 v. 324 V. (5 P.).
15) Griselda, C, 15. April 1546, 27 oder 35 v. 810 V. (13 P.).
16) Genura C, 6. März 1548, 20 + 4 v. 700 V. (9 P.).
144 Die Rollen des Schmidtlein.
Wart ein reivter und hencker mit einander,
Hawt aus ein jungen zv dem dot,
Der dem riter Sein dochter het peschlafen ^ ;
Wart auch ain Jeger und postpot
Vnd ein hencker und Solt die kungin strafen'^).
Nach dem wart ich der dewffel gancz,
Must mich der weiber weren^).
Nach dem ich an dem nasentancz
Erlangt den krancz,
Wart kung (die pawren vmb die schancz
Betten einander peren !) ^).
Nach dem wart ich Marcolfus pey kung Salomon,
Die weiber ich pald auf den kunig hezet on,
Erzelt ir duegent in manigen dingen^).
Nach dem wart ich auch ein farender schueler weis,
Da mich ein pewrin schicket in das paradeis,
Dem gstorben mangelt vnd klaider zu piingen^l
Nach dem ich erst ein rewter wuer
Vnd halff ein abt Selb fangen vnd auch paden '^).
Nach dem wart ich ein marschalck nur
Vnd ein hoffschmaichler, pracht herschaft zw schaden^).
Also her auf Achzehen jar
Hab Spilen helffen neun schöner Comedj
Vnd Sechze fasnacht Spil, vurwar,
Vnd darzw auch zwo trawriger tragedj,
Aus den ler, frewd vnd kurz weil vil
Den lewten ist erwachsen :
Got geb noch lenger, ists Sein wil,
Nach disem zil,
Das ich helff halten noch mer spil
Mit meim vater Hans Sachsen.
1) Violanta C, 27. Nov. 1545, '23 (27?) + 8 v. 586 V. (13 P.).
2» Königin aus Frankreich C, 12. Dez. 1549, 7 + 6 + 7 v. 850 V. (13 P.): doch
Goetze a. a. 0. S. 49.
3) F. 19, 27. Nov. 1549, 59 v. 324 V, (5 P.).
4) F. 20, 4. Febr. 1550, 23 v. 330 V. (9 P.).
5) ludicium Salomonis C, 6. März 1550, 7ß v. 718 V. (8 P.).
6) F. 22, 8. Okt. 1550, 98 v. 322 V. (3 P.).
7) F. 27, 17. Dez. 1550, 51 oder «2 v. 35(3 V. (5 P.).
8) Jocasta T v., 19. April 1550, 20 -\- 34 v. 700 V. (13 P.).
Die Rollen des Sclunidlein. j^45
Zunächst scheint hier allerdings das Überwiegen der Fastnacht-
spielrollen auffallend (16 Fastnachtspiele gegen 9 Komödien und 2
Tragödien 1) und im Zusammenhang damit der Umstand, daß der
Schmidlein in den größeren Dramen vorwiegend gemeine Leute
spielt. Das könnte darauf hinweisen, daß innerhalb der Komödien-
und Tragödienaufführung die Rollen der geringeren Leute fastnacht-
spielmäßig gegeben worden seien.
Indessen: so sehr überwiegend ist bei genauerem Zusehen das
Fastnachtspiel doch nicht, Hans Sachs hat bis zu der Zeit, zu der
er jenes Rollenverzeichnis in Verse brachte, 29 Fastnachtspiele und
30 größere Dramen gedichtet, unter denen die Komödien durchaus
überwiegen ; sicherlich aber sind viel mehr von den Fastnachtspielen
als von den Dramen wirklich zur Aufführung gekommen, und so
wird das Verhältnis 16:9 (zwei Rollen scheiden aus, weil sie nicht-
sächsischen Stücken angehören) dem Verhältnis jener Aufführungen
wohl etwa entsprechen; dazu stimmt die Beobachtung, daß ganz
ebenso wie die Mehrzahl der vom Schmidlein gespielten Dramen-
rollen (7 von 9) auch die Mehrzahl der von Hans Sachs verfaßten
größeren Dramen (18 von 30) in die Zeit nach 1545 gehört, — von
den voranliegenden Komödien und Tragödien des Dichters sind
gewiß nur ganz wenige auf die Bühne gelangt. Weiter: sehr
lehrreich ist eine chronologische Betrachtung der dem Schmidlin
übertragenen Rollen hinsichtlich ihres Umfangs.
1532 542? (h) Ö5? (m)
1533 66 (g)
1534 iö7? (g) 38? (m)
1535 107 (g)
1536 123 (g) 138 (g) 57 (g) 60? (m)
1537 246 (h)
1538 168 (h)
1539 161 (h)
1540 193 (h) 141 (g)
1544 37 (n)
1545 107 (g) 11 (n) 23 (27) + 8 (nn)
1546 27 (35) (n)
1548 20 + 4 (nn)
1549 59 (m) 7 + ö + 7 (nnn)
1550 23 (n) 98 (g) 51 (62) (n) 76 (m) 20 + 34 (nn)
Mögen im einzelnen die Jahreszahlen der Abfassung denen
der Aufführung auch nicht immer entsprechen, — im ganzen wird
doch das chronologische Bild richtig sein. Und da tritt uns eins
1) Komödien- und Tragödien-Rollen in der folgenden Übersicht sind kursiv gedruckt ;
die Bedeutung der einzelnen Partien im Rahmen des gesamten Dramas ist in vier Stufen
geschieden; h (-Hauptrolle), g (-große Rolle), m (-mittlere Rolle), n (-Nebenrolle).
Herrmann, Theater. 10
j^46 Gründe für die Rollenzuteilung.
gleich deutlich entgegen: die Zeit bis 1540 ist von der seit 1544
sichtlich verschieden. Nach den aufführungslosen vier Jahren
werden im ganzen dem Schmidlein größere Aufgaben nicht mehr
übertragen, mag es sich nun um Fastnachtspiele oder um eigent-
liche Dramen handeln. Nur zweimal hält sich die Verszahl der
Rolle oder des Rollenkomplexes in der Nähe der 100; von den
Zahlen der dreißiger Jahre ist nicht mehr die Rede. Vermutlich
reichte sein Gedächtnis nicht mehr zu. Da nun die überwiegende
Zahl der Komödien- und Tragödienaufführungen in die zweite
Periode fällt, so erklärt sich die Beschränkung auf gemeine Per-
sonen ganz einfach: ihrem Kreise wesentlich gehören die kleineren
Rollen der Komödien und Tragödien an. In der ersten Periode,
als der Schmidlein noch große Aufgaben zu bewältigen vermochte,
hat er auch den Jupiter gespielt. Ein Zweites kommt wohl dazu.
Es fällt nicht nur auf, daß er niemals Frauenrollen dargestellt hat,
sondern auch, daß er in F. 10 den Zigeuner (vgl. v. 72) und in F.
20 den Heinz Flegel vorführte : zu beiden Rollen war wohl ein be-
sonders groteskes Äußeres notwendig, und was den Schmidlein hier
empfahl, machte ihn für die Darstellung fürstlicher Personen und
dgl. ungeeignet; immerhin hat er einmal 1550 in der Jocasta den
Marschall Nicias gespielt. Auch der Umstand, daß man ihm mehr-
fach (3, 12, 15, 22, 24) die Rollen des Narren und des Teufels
übertragen hat — besonders beachtenswert, daß dazu zwei von
den drei Fällen gehören, in denen man dem Schmidlein noch in der
zweiten Periode etwas größere Partien überwies — , auch dieser
Umstand weist darauf hin, daß der Mann etwas Groteskes an sich
hatte, was ihn für die Darstellung vieler Rollen ungeeignet er-
scheinen ließ. So spricht die Untersuchung dieses poetischen
Rollenverzeichnisses nicht gerade für, aber auch nicht gegen die
Richtigkeit der oben vorgetragenen Theorie; gewisse psychische
und physische Eigentümlichkeiten des Schmidlein verboten es, ihm
unterschiedslos Rollen aller Art anzuvertrauen; für die Besetzung
der Komödien und Tragödien gibt unser Dokument überhaupt nicht
viel Erkenntnis, und die Hauptmasse der Hans Sachsischen Dramen
ist ja erst nach der Abfassung unseres Meistergesanges entstanden.
Wenn die Schauspielkunst der Meistersinger nun aber die
Aufgabe, Individuen zu charakterisieren, ganz bei Seite läßt, welchen
Zielen strebt sie dann tatsächUch zu? Ein Doppeltes hat der Dar-
steller zu leisten. Er hat einerseits die körperliche Aktion vorzu-
führen, die das Drama verlangt, mag sie nun ganz unabhängig
von der gesprochenen Rede erfolgen oder in den Worten der
handelnden Personen so deutlich angekündigt werden, daß die
Ausführung notwendig vor den Augen des Publikums erfolgen
muß. Das andere ist die Aufgabe, Zustände und Hergänge des
Leibes und der Seele körperlich mit visuellen oder akustischen
„Gestus" und Aktion. 1^7
Mitteln so deutlich werden zu lassen, daß das gesprochene Wort
dadurch ersetzt, ergänzt oder verstärkt wird. Wenn wir diese zuletzt
genannten Leistungen unter der hier sehr weit gefaßten Bezeichnung
„Gestus" zusammenfassen, so unterscheiden sich Gestus und Aktion
zunächst dadurch, daß die Aktion im vorhin definierten Sinne
eigentlich keine, der Gestus dagegen sehr viele entbehrliche Ele-
mente enthält: entbehrhch in der Beziehung, daß der Zuschauer
schließlich auch ohne sie den Sinn des Dramas verstände. Die
eigentliche Aktion gehört so gut wie der Dialog eigentlich nicht
zur Theaterkunst, sondern zum Drama.
Natürhch aber zieht das Theater auch die Aktion mit in sein
Bereich: es werden „Handlungen" vorgeführt, die für das Verständnis
des Dramas entbehrlich sind, und andere weiter ausgedehnt, als
die Zwecke des Dramas es bedingen. Solche reine Theateraktion
reicht einerseits in das Gebiet der Regiekunst, anderseits in das
des Schauspielers hinein; hier, wo es sich nur um Regie primitivster
Art handelt, möge sie mit in die Betrachtung der Darstellung ein-
bezogen werden. Und über den Umfang und die Sonderart solcher
Theateraktion auf Hans Sachsens Bühne mag hier zunächst das
Nötigste gesagt werden.
Die Aktion auf Hans Sachsens Bühne.
Auf der einen Seite ist es der Kampf, in dessen Vorführung
das Theater sich auslebt und Selbstzweck wird. Der Kampf des
einzelnen sowohl, zumal der Zweikampf, wie namentlich der Massen-
kampf, die Schlacht. Mit der gleichen Energie, mit der moderne
Bühnenkunst der Vorführung solcher Szenen aus dem Wege geht,
werden sie hier gesucht und über die dramatische Notwendigkeit
hinaus ausgedehnt. Das zweite Hauptgebiet rein theatralischer
Vorführung aber ist die öffentliche Handlung. Die bürgerliche Form
der Eheschließung (z. B. KG. 8, S. 101), das ganze Gerichtsverfahren
von der Zeugenvernehmung zum Urteilsspruch und zur Exekution,
die Ausstellung und Vorweisung der öffentlichen Urkunde, neben
der aber auch der Privatbrief eine Rolle spielt: sehr charakteristisch
etwa, wie Hans Sachs (KG. 10, S. 483 f.) in der Belagerung Jeru-
salems die Botschaft der Quelle (2 Kön. 19, 9 ff.) zu einer großen
Briefszene ausbeutet.
Mit dieser Vorliebe für die umständliche Wiedergabe öffent-
licher Handlungen steht das Theater des Hans Sachs sichtlich in
einer alten theatralischen Tradition, mag auch im besondern die
Vorliebe für Urkunden- und Briefszene auf eine individuelle Eigen-
tümlichkeit des schreibfrohen Dichterregisseurs zurückgehen. Hochzeit
und Gerichtssitzung führt das Fastnachtspiel des 15. Jahrhundert
auf einer Stufe seiner Entwicklung immer wieder vor, wo es sich
10*
j^48 Aktion: öffentliche Hergänge; Schlachten.
noch gar nicht um ein dramatisches Gebilde, sondern nur um
naturahstischen Theaterulk handelt: solche Hergänge, an denen auch
das schhchteste Leben einen Augenblick lang an die Öffentlichkeit
tritt, sind dem Städter besonders interessant. Auch in den geist-
lichen Spielen ist die theatralische Vorliebe für diese Akte vielfach
sichtbar, wie denn z. B. in einer der Sterzinger Dramenhand-
schriften sogar die wichtigsten Rechtssymbole in Federzeichnung der
„sententia Pilati" beigegeben sindi). Dagegen fehlt mit einziger
Ausnahme von Hans Sachsens Passionsdrama, in der die Tradition
der mittelalterlichen Passionsspiele bis ins Detail fortlebt, die in
allen älteren Darstellungen als Hauptcharakteristikum hervortretende
Neigung, die Grausamkeiten bei der Exekution bis ins Groteske
gesteigert vorzuführen, bei Hans Sachs eigentlich ganz, so sehr
seine Stoffe Gelegenheit zur Ausgestaltung solcher Aktion bieten.
Ganz gewiß aber war das Interesse des Bürgers für die Folterqualen
der armen Sünder im 16. Jahrhundert nicht minder brennend wie im
15.; angesichts dieses vollständigen Ausfalls bei Hans Sachs wird
man vielleicht geneigt sein, sich einer neuerdings hervorgetretenen
Auffassung anzuschheßen, die in der Neigung zur Ausmalung der
Marterung Christi nicht, wie es allgemein geschieht, die naturalistisch-
theatrahsche Übertragung bürgerlicher Grausamkeit auf die Passions-
hergänge, sondern das Ergebnis dogmatischer Erwägungen der
geisthchen Textdichter sieht: je mehr man Christum leiden sah,
um so tiefer war der Eindruck, den die Idee seiner Selbsthingabe
machte.
Dagegen finden wir umgekehrt für jene ausgesprochene Freude,
die das Hans Sachstheater an der Vorführung von Schlachten hat,
kein rechtes Seitenstück in den geistlichen Spielen des Mittel-
alters, deren Stoffe allerdings auch, zumal in Deutschland, wenig
Gelegenheit zur Darbietung von Kampfszenen boten. Man hat die
Wahl, ob man annehmen will, daß es sich um eine Art Stilisierung
der auf der Fastnachtspielbühne, auch auf der Hans Sachsischen,
so beliebten Prügelei handelt (einmal in den Menächmen 1548:
KG. 7, S. 116 hat der Dichter auch für die Komödie eine nicht schlachten-
mäßige Straßenprügelszene breit auszugestalten gewagt 2), oder ob
man lieber auf die in der bildenden Kunst der Zeit allgemein
hervortretende Neigung zur Darstellung von Kampfszenen hinweisen
mag. Sie beschränkt sich nicht auf den Holzschnitt der Bücher-
illustration, sondern tritt zu Hans Sachsens Zeit auch schon auf
dem Tafelgemälde zutage : man denke etwa an Burgkmairs Schlacht
bei Cannae und Jörg Prews Schlacht bei Zama.
Über die Art, in der solche Theateraktion durchgeführt wurde.
1) Wackernell, Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol (Graz 1897) p. CCII.
2) Vgl. auch Romulus und Remus 1560: KG. 20, S. 156.
Kämpfe auf der Bühne. Vorbild des Turniers. ;149
ist natürlich nicht viel zu sagen. Am wenigsten über die Hoch-
zeits- und Gerichtsbräuche : hier liegt in der naturalistischen Wieder-
gabe der Wirklichkeit, in dem Zusammengehen, im Schwören, im Stab-
brechen usw. schon etwas Feierliches, etwas Stilisiertes. Nur das
Problem der Vorführung von Kämpfen auf der Bühne mag ein-
gehend erörtert werden. Von der naturalistischen Darstellung einer
Schlacht kann schon darum nicht die Rede sein, weil Hans Sachs
— wenigstens bis zum Frühjahr des Jahres 1552 — keinen Krieg
in nächster Nähe erlebt hat:
Vnd hab doch nie kein krieg gesehen
sagt er damals selbst i); die Schilderung aber, die er von den
Nürnberger Kriegs- und Belagerungszeiten in diesem Gedicht vom
18. Juni entwirft, lassen deutlich erkennen, daß eine offene Feld-
schlacht ihm nicht zu Gesicht gekommen ist, und die Anordnung
seiner Theaterschlachten ist auch nach 1552 keine andere als vor-
her. Etwas anders steht es um die Grundlage für die Vorführung
des Einzelkampfs : das Turnier spielt in Nürnberg eine große Rolle,
Hans Sachs hat, wie verschiedene seiner Spruchgedichte beweisen,
ein besonderes Interesse dafür, und eine szenische Bemerkung in
seinem Ödipusdrama v. J. 1550 (KG. 8, S. 38) weist deutlich darauf
hin, daß er die in Nürnberger Turnieren gemachten Beobachtungen
für die Inszenierung des Kampfes zwischen Laios und Oedipus ver-
wendete: Hie nimbt ieder hauptman sein rundet-) von seinen tra-
bandten, kempffen. Wir werden uns danach vorstellen dürfen, daß
auch sonst die Zweikämpfe der Hans Sachsbühne, also etwa der
Kampf der Horatier und Kuriatier, nach den Vorschriften der
damaligen Turnierbücher, z. B. des großen Werkes von Georg
Rüxner ausgefochten wurden ; freilich konnten nicht die gewöhnlichen
Reitergefechte, sondern nur die seltneren Fußturniere das Muster
abgeben. Wie beim Turnier handelt es sich darum, den Kampf
möghchst lange auszudehnen und so das Publikum in Spannung
über den Ausgang zu halten: Sie kempffen lang, so lang biß sie
endlich fallen — solche Wendungen finden sich zu wiederholten
Malen. Das Kämpfen besteht, wie wir einmal (KG. 8, S. 51) er-
fahren, in stechen vnd hawen; auf eine wirkliche turniermäßige
Handhabung der Waffen werden sich die nie turnierfähigen Meister-
sänger schwerlich verstanden haben, und so hilft man sich mit
II KG. 7, S. 415.
2) So in S. ; in A statt sein rundel: hämisch vnd runde/, was eine noch umständ-
lichere Theaterszene ergeben würde.
//• ieder an der stet
Seinen rüstmeyster hett,
Der in schraubt auß vnd ein
heißt es in Hans Sachsens Turnierschilderung „Das Gesellenstechen" v. J. 1538 (KG. 8,
S. 746).
150 Kämpfe auf der Bühne. Vorbild des Turniers.
einer Aktion, die zugleich Leben ins Bühnenbild bringt: die
Kämpfenden treiben einander lang vmb (KG, 8, 51; 12, 291 u. ö.):
jeder weicht ein weil (KG. 8, 183) und läßt sich von dem Gegner
in alle ecken treiben (KG. 12, S. 306): dann steht er einen Augen-
blick und treibt nun nach kurzem Hauen und Stechen seinerseits
den Feind die vier Seiten des Schauplatzes entlang. Diese ent-
schiedene Verwendung der Bühnenperipherie zeigt ebenfalls, daß
Hans Sachs von der Vorstellung des Turnierplatzes und seiner
Schranken ausgeht.
Wie aber steht es mit den Massenkämpfen? Für sie war die
Aufgabe natürlich noch schwerer zu lösen, um so mehr als auch
hier das Publikum, wie verschiedene szenische Bemerkungen (z. B.
KG. 13, S. 28; 20, S. 218) zeigen, eine längere Dauer der Vorführung
verlangt. An einen Naturalismus war hier von vornherein nicht
zu denken. Wir wissen zwar nicht, aus wieviel Personen die Heere
des Hans Sachs bestanden: die Personenverzeichnisse führen nur
die redenden Gestalten auf; aber die beschränkten Bühnenver-
hältnisse erheischen ein Minimum von Statisten, das sich heut auch
ein kleinstädtisches Publikum nicht gefallen lassen würde. Hätte
Hans Sachs seinen ganzen Schauplatz mit neben- und hintereinander
stehenden Gewaffneten ausfüllen wollen, so hätte er etwa 40
Personen stellen können; aber davon kann gar keine Rede sein,
denn dann hätten sie keine Kampfbewegungen vorführen kön-
nen. So sehen wir: an die Phantasie der Zuschauer werden
wieder die größten Anforderungen gestellt: es heißt beinahe
so viel, sechs Soldaten für ein großes Kriegsheer wie den
Chorraum der Marthakirche für einen Blumengarten und die
Saki'isteitür für eine Höhle ansehen.
Wie aber läßt der des lüleges nicht kundige Hans Sachs seine
Heere miteinander kämpfen? Ein blindes Drauflosholzen ging
unmöglich an, zumal nicht wenn der Kampf längere Zeit dauern
sollte; wie der Regisseur stihsierte, wird durch ein paar szenische
Bemerkungen klar, die das gewöhnliche Sie kempffen genauer
spezialisieren. Im Hertzog Wilhelm von Österreich 1556 heißt es
(KG. 12, S. 509): Sie schlagen aneinander par und par, biß könig
Belwan feit. Das ist das Entscheidende : die Schlacht wird in eine
Reihe von Einzelgefechten aufgelöst, es geht in der Schlacht wie
in einem großen Turnier zu, das also auch für den Massenkampf
dem Regisseur als Vorbild dient:
Je par und par znsammen strichen,
In kecker man hei t sie nit wichen,
Als ob es wer in einem kämpf
Ein schlahen, fechten hin und her,
Sam obs ein rechte feldschlacht wer,
Kämpfe auf der Bühne. Pathetische Pose. 151
SO charakterisiert er 1541 in einem Sprucligedicht (KG. 2, S. 346)
das Turnier und deutet damit schon an, welchen Weg seine Phantasie
gehen werde, wenn er künftig eine Schlacht zu inszenieren habe.
Und ferner: jener Hauptregietrick für den Einzelkampf kehrt auch
bei der Darstellung des Massenkampfes wieder: sie jagen einander
lang vmb (z. B. KG. 20, S. 200), sie weichen zurück auff der piin
herumb. Ich vermag mir danach bloß vorzustellen, daß die beiden
„Heere" im Gänsemarsch auftreten und bald auf den beiden Seiten
der Bühne, an den Mauern des Chors postiert aufeinander losgehen,
bald wieder hintereinander um die Peripherie der Bühne herum
eine Geschwindpolonaise aufführen i).
In dieser Neigung zur Darstellung großer Bewegungen auf der
Bühne steht Hans Sachs durchaus im Zusammenhang mit dem
mittelalterlichen Theater, das bei der Geräumigkeit seines Schau-
platzes in dem Hin- und Herziehen der Personen das eigentlich
Charakteristische seiner Gesamtleistung geboten hatte. Daneben
macht sich schüchtern eine Neigung zur pathetischen Pose geltend,
zur bloßen Geste statt der Aktion, wo es sich um den Gebrauch
der Waffe, wenn auch nicht um eigentlichen Kampf handelt oder
zunächst nur um Kampfandrohung. Da kommen die Helden mit
blossem! schwerdt geloffen, sie greiffen an die wehr, man stürtzt die
wehr, man zuckt sein schwert, man zeucht vom leder, oder wenn
Blut geflossen ist, so würfft der Sieger sein schwert auff, oder
wuscht sein schwert-). Besonders groß ist die Geste KG. 8,
S. 257: Oliver zeucht auß in alle hoch, sam wolt er ir das haupt
von einander spalten und beim versuchten Selbstmord KG. 11, S. 159:
Herodes nimbt das messer, zuckt es hoch auff, wil sich erstechen;
auch die Steigerung der bibhschen Angabe: und reckte seine Hand
1) Besonderes Interesse haben zwei Stellen in „Des Leviten Kebsweib" (1555
KG. 10, S. 235) und Josua (1556 KG. 10, S. 112). Beidemal verlangt die Quelle, daß
ein Hinterhalt gelegt wird, beidemal wird das Problem mit den gleichen Mitteln bewältigt.
Die Gibeanitter fallen hinauß (der Schauplatz wechselt; er stellt nicht mehr die belagerte
Stadt, sondern eine Gegend in ilirer Nähe dar), jagen Israel herein auff den platz (die
Israeliten stehen nun vom ganz nahe bei den Stufen, die zum Publikum führen, mit dem
Gesicht diesem zugekehrt; dicht dahinter in einer zweiten Reihe die Gibeoniter). Israel
wend sich (so nur in A, in S fehlt dieser Passus), da kiimbt der hinterhalt hinten (so
nur in S, in A nur: der hinterhalt kombt; der Hinterhalt d. h. Eleasar mit einigen
Israeliten, die sich vorher inn die groß holen zu Gaba versteckt hatten, d. h. in die
Sakristei, kommt aus deren Tür auf die Bühne hinten) an die Gibeanitter (Eleasar und
seine Knechte bilden eine dritte Reihe, so daß die Gibeoniter nun eingeschlossen sind).
Die Gibeanitter werden geschlagen . . . Genau so an der andern Stelle, nur daß durch
den Satz sie weichen zurück auf der pun herumb die Aktion noch deutlicher wird. In
A vorher nur Hemor, der hauptman, versteckt sich, in S dahinter noch mit etling —
was einen ungefähren Schluß auf die Zahl der Statisten erlaubt.
2) Auch der Henker zewcht sein schwert aus (KG. 13, 282, so in S, in A nur
zeucht aus) und besonders bezeichnet streicht sein scharsach, ehe er abgeht, um Mnter
der Szene eine Hinrichtung zu vollziehen (KG. 23, S. 214).
152 Darstellung rein körperlicher Erlebnisse.
aus und faßte das Messer in die Anweisung Abraham nimbi
in beim schopff und zucket sein messer inn alle hoch zum
streich (KG. 10, S. 72) scheint mir charakteristiscli. Die merk-
würdigste Stelle aber findet sich in der Tragödie „David ließ seine
Mannschaft zählen" v. J. 1552 (KG. 10, S. 375), da wo der Engel
erscheint, um die Pest über Davids Hauptstadt zu bringen. Die
Bibel (2. Sam. 24, 16) gibt hier nur an, daß er seine Hand über
Jerusalem ausstreckte, Hans Sachs aber schreibt vor : Der enget
kombt mit einem bloßen blutigen schwerdt und .... schlecht
auft die vier ort mit dem schwerdt. Ob diese großzügige sym-
bolische Geste in Hans Sachsens eigener Phantasie ihren Ursprung
hat, vermag ich leider nicht zu entscheiden; sie gemahnt am ehesten
an die Vorstellungen der Offenbarung St. Johannis.
Darstellung rein körperlicher Erlebnisse.
Es fragt sich nun weiter : wie ist es um die Veränderungen des
äußeren körperlichen Habitus bestellt, die durch rein körperliche
Vorgänge bestimmt sind? Auszudrücken versucht das ernste
Drama Hans Sachsens: Schlaf; Erwachen; Trunkenheit; Erkrankung —
vornehmlich Vergiftung und Irrsinn, gelegentlich auch Verwundung,
Blindheit, Geburtsschmerzen ; endlich den Tod. Etwas größer ist
der Kreis der im Fastnachtspiel herangezogenen Körperhergänge
immerhin, und der mehr naturalistische, individualisierende, detail-
lierende Charakter ist in ihnen nicht zu verkennen : Der pfarrer
reispert sich, bevor er den Bauern eine feierliche Strafpredigt hält
(F. 65, 105); Herman Dol w'urfft den jngwer im maul hin vnnd
wider, sieht sawr (F. 41, 253); Die Mutter geyt jr etwas in den
Mund, sie kewet daran (F. 56, 318) — solche Dinge wären im ernsten
Drama nicht möglich. Die erzählende Dichtung hat dann noch
einiges mehr — soweit sie überhaupt der Schilderung solcher
Körperlichkeiten Raum gibt, also besonders in den Schwänken;
namentlich die Sphären mangelhafter Ernährung und mangelhafter
Verdauung spielen eine Rolle.
Die charakteristischen Tendenzen der meistersingerischen Schau-
spielkunst aber sind auch auf diesem Gebiete zu erkennen, sobald
wir jene auch im ernsten Drama vorgeführte Gestik des körper-
lichen Erlebens genauer ins Auge fassen: sie ist von einer nach
dem Symbolischen strebenden Einfachheit und Großzügigkeit, die
dem Zuschauer sofort deutlich machen, um was es sich handelt, die
an den Darsteller keine besonders großen Anforderungen stellen
und die endlich — im großen Drama — allem Naturalistischen sich
fernhalten. Der Tod — in erster Reihe natürlich der Tod im
Kampfe — wird regelmäßig dadurch dargestellt, daß der Betreffende
zu Boden stürzt und ruhig liegen bleibt; eine andere Bedeutung
sterben, Schlafen, Kranksein. 153
hat das völlige Niederstürzen nie, es sei denn die der Ohnmacht,
bei der ja aber der Zuschauer zunächst in spannender Ungewißheit
bleiben soll, ob es sich nicht wirklich um den Tod handelt; ein
Sterben in anderer Situation, im Sitzen oder im Liegen, dem kein
Niederstürzen vorangegangen ist, erfolgt nur in wenigen Fällen, in
denen die Notwendigkeit dann jedesmal zuerkennen ist: im Schlaf
oder ein paarmal nach längerer Krankheit. Aber auch in ihrer
eigenen Sphäre betrachtet, sind es Ausnahmefälle, daß der Schlafende
am Boden liegt oder der Kranke sitzt. Das Typische ist vielmehr,
daß der Schlafende sitzt, der Kranke steht: das Sitzen ist, wie
wir sahen und sehen werden, ein schon zu stark in Anspruch ge-
nommenes Ausdrucksmittel, als daß es bei dem allgemeinen Streben
nach Simplizität auch noch das Kranksein bedeuten könnte. Liegen
muß nur der schlafende Sisera in der Jael v. J. 1557 (KG. 10, S. 144),
weil die Tötung mit dem Nagel nicht anders darzustellen war: ins
Podium konnte man ihn schlagen, nicht aber in den besonderer
Schonung empfohlenen Chorstuhl ; liegen im Schlafen muß Seufried
(1557, KG. 13, S. 374), weil er auf dem Chorstuhl nicht zwischen sein
schultern ermordet w^erden konnte ; liegen müssen die drei Türken
in Pontus und Sidonia (1558, KG. 13, S. 393), weil drei Schlafende
auf dem einen Chorstuhl nicht Platz haben i). Sitzen darf die durch
Vergiftung todkranke Gismunda, weil sie schon vorher die t^'pische
Stellung des „Traurigsitzens" eingenommen hatte (vgl. o. S. 47 u. u.) :
so stirbt sie denn auch im Sitzen, ebenso wie Tristant, der auf
einem Sessel blutig auf die Bühne gebracht wird (1553, KG. 12, S. 182),
weil es doch nicht angegangen wäre, einen Sterbenden so lange
stehen zu lassen, ohne von dem Schauspieler einen starken dar-
stellerischen Naturalismus zu verlangen 2).
Wie sehr die Nürnbergische Schauspielkunst den Naturalismus
zu meiden strebt, zeigt sich nun auch zunächst an denjenigen
Stellen, an denen das Sterben nicht ohne w^eiteres durch das
Zubodenstürzen bezeichnet w^ird, sondern im Sitzen oder im
Liegen erfolgt. Hier wird der Tod noch durch eine weitere Be-
wegung bezeichnet, aber sie ist von der äußersten Einfachheit.
Wenn jemand schon gestürzt ist, aber noch letzte Worte zu sagen
hat, wie König Darius (Alexander, 1558, KG. 13, S. 502), so genügt
es, daß er todtschwach spricht und dann eben aufhört; der sterbende
Jüngling im Jüngsten Gericht (1558, KG. 11, S. 413) redet noch
1) Allerdings sitzen, der biblischen Angabe gemäß, die drei Jünger Jesu in der
Ölbergszene der Passio Christi (1558, KG. 11 S. 269); es ist aber wohl anzunehmen, daß
dieses Hans Sachsische Stück nicht in der Marthakirche gespielt worden ist, deren Raum
schwerlich ausgereicht hätte.
2) Der sieche Hiob liegt (1547, KG. 6, S. 41), im Gegensatz zur Bibel, die ihn
sitzen läßt, weil die Phantasie des Zuschauers doch wohl nicht bereit gewesen wäre,
im Chorstuhl den Misthaufen zu sehen.
154 sterben, Schlafen.
lange Zeit, ehe er den Geist aufgibt, und so ist hier ein etwas
deuthcheres Symptom nötig, als es zu Ende ist: Da zeucht der
kranck, samb er sterbe. Auffallender aber und weithin bemerkbar
muß die Bewegung des Sterbenden sein, wenn er nicht nieder-
gestürzt ist, sondern sich zum Schlaf hingelegt hat und im Schlaf
vom Tode ereilt wird : Sisera krümmet sich undter dem mantel, mit
dem er im Schlafe bedeckt ist, Seufried zabelt ein wenig, ligt
darnach still. Immerhin: auch hier ist es jedesmal nur ein
Symptom, und das ein wenig soll einem zu starken Auftragen
seitens des Darstellers Einhalt gebieten. Etwas mehr in mimischer
Beziehung wird nur in den zwei Fällen getan, wo der Tod nicht im
Liegen, sondern im Sitzen erfolgt i): Gismunda spricht nicht nur
mit kleglich niderer Stim, sondern läßt auch den Kopf sinken,
nachdem sie die letzten Worte gesagt; Tristan spricht kränkhch,
lest hend vnd haubt fallen .... streckt sich vnnd stirbt. Und
als hätte der Dichterregisseur immer noch die Besorgnis, daß das
Publikum angesichts der ungewöhnlichen Situation: des Sterbens
im Sitzen, doch noch übersehen könne, daß nun wirklich der Tod
erfolgt sei, tut er in beiden Fällen noch ein Übriges äußerer Art:
Gismunda trägt man hinaus aiiff eym sessel m it verdecktem an-
gesicht, und ebenso trägt man auch Tristan auf dem Sessel ab
vnd tregt ein verdeckte todtenbar ein.
Bei der Darstellung des Schlafs muß nun außer dem Sitzen
immer noch ein Weiteres zur Kennzeichnung des Schlummerns ge-
tan werden : weil das Sitzen nicht wie das Niederstürzen eindeutig
ist, sondern noch in anderm Sinne verwendet wird. Aber auch
in solcher Beigabe zeigt sich das Streben nach Einfachheit: der
Schlafende neigt sein Haupt — das ist alles, was an Sondervor-
schriften über das gewöhnliche schlefß, entschlefft, natzt hinaus
noch geboten wird (KG. 12, S. 91 ; 207 ; 312). Daß die schlafenden
Jünger auf dem Ölberge in Hans Sachsens Passionsdrama sich auff-
rünstern (KG. 11, S. 269), d. h. räuspern, ist so ganz isoliert, daß
man hier wieder an eine aus der Tradition übernommene Vor-
schrift glauben möchte ; diese Tradition ist diesmal freilich aus dem
überlieferten Material nicht nachzuweisen. Ergänzend und verdeut-
lichend kommt dann öfters noch die Geste des Aufwachens dazu.
Auch hier ist bezeichnenderweise das Wichtigste die einfache,
weithin sichtbare Bewegung des Auffahrens (KG. 10, S.211; 12, S. 312
U.Ö.), neben der noch die Geste des Augenwischens erscheint (KG. 11,
S.189; 270; vgl. 20, S. 83).
1) Von der Statira im Trauerspiel Artaxerxes {1560, KG. 23, S. 207), die zuerst in
einem Zwischenzustand zwischen der Tendenz zu dem gewöhnlichen „traurigen Sitzen" und
dem auch körperlichen Brechen des Herzens auf den Sessel gesunken ist, heißt es im
Moment des Todes: Sie sincket gar nid er sam dot — das heißt doch wohl: auf
die Erde.
Darstellung der Krankheit. 155
Stärker noch muß die Charakterisierung der Krankheit oder Ver-
wundung sein, weil hier jene Hauptkennzeichnung durch Hinstürzen
oder Sitzen vöHig fortfällt. Das für den Zuschauer wie für den
Darsteller einfachste Mittel ist hier die Kennzeichnung durch das
Requisit, das wir ja auch auf dem Gebiet des Kostümwesens eine
so große Rolle spielen sahen. Der Blinde geht mit verhangen
äugen (KG. 1, S. 92, 138), wohl auch dazu an eini stecken ^'Mucius
Scaevola mit seiner verbrannten Hand tregt den arm im bandt {KG. 8,
S. 216); schlimme Verwundung oder Entzündung wird durch zugebun-
den schenckel charakterisiert (KG. 8, S. 67; 11, S. 120), auch geht
der so Verbundene wohl noch an zweien krucken (z. B. KG.
12, S. 148), die gelegenthch auch für sich allein die Verwundung
andeuten (KG. 8., S. 246) oder das Siechtum bezeichnen (KG. 6,
S. 41). Auch das Fortwerfen der Krankheitsrequisiten gehört in
die gleiche Richtung: Tobias, der wieder sehend wird, wirfß sein
Stab und augentüchlein hin (KG. 1, S. 156); hier mag auch erwähnt
werden, wie die Heilung des aussätzigen Hato, dem die Kaiserin
einen wohltätigen Trank gereicht hat, besonders sichtbar gemacht
wird: sie wischt im das angesicht und hend (KG. 8, S. 151: 1551),
die offenbar vorher irgendwie mißfarbig geschminkt worden waren.
Sehr verständlich also flh's Publikum und völlig antinaturahstisch.
Doch scheint dieses ganze etwas grobe Mittel in der zweiten Hälfte
der 50 er Jahre sehr zurückzutreteji.
Eine andere Art der Charakteristik stellt ebenfalls an den Schau-
spieler geringe Aufgaben, läßt dem Zuschauer, auch dem entfernter
sitzenden, kaum einen Zweifel darüber, was gemeint ist und strebt
wieder nach einer mehr symbolisierenden als naturalistischen Ein-
fachheit : der Kranke greifft auff den Körperteil, in dem er das Ge-
fühl des Schmerzes oder auch des Schmerznachlassens spürt: die
Brust oder den Leib; daß er, statt diese nur hinweisende Geste zu
tun, naturalistisch den Leib, in dem das Gift tobt, mit beiden henden
reibt, kommt nur ausnahmsweise vor: im Alexander d. J. 1558
(KG. 13, S. 524).
Daneben erscheint endlich der Versuch, durch den Gesamt-
habitus des Schauspielers die Krankheit der dargestellten Person
zu charakterisieren, zumal dort, wo eine bestimmte Lokalisation der
Krankheit nicht wohl vorgenommen werden kann. Häufiger wird
dieser Versuch erst gegen Ende der Hans Sachsischen Dramatiker-
zeit, als jene grobe Kennzeichnung durch das Requisit fast ganz
aufgehört hat. Die Charakteristik der Krankheit erfolgt mit der
Summe: spricht krencklich und mit dem Gang: kumbt krencklich oder
get krenklich ab; daß es sich dabei vor allem um die Art des
Gehens handelt, wird gelegentlich deutlich, wenn es im Artaxerxes
V. J. 1560 von Ariaspes, der auf der Bühne Gift genommen hat,
heißt: er get ab mit schwancketen dritten (KG. 23, S. 220), so wie
156 Darstellung der Krankheit im ernsten Drama und im Fastnachtspiel.
schon in dem älteren Hiob (KG. 6, S. 37) der vom Feuer geblendete
Knecht Distichus dapt daher wie ein blinder. Auch in der Art des
Sichsetzens oder des Sichanlehnens kann die Schwäche zum Aus-
druck gebracht werden (KG. 10, S. 47: 1558; 20, S. 226: 1560); ganz
selten kommt es auch wohl vor, daß ein Schwerverwundeter im
Stehen sich krüpfft, d. h. schmerzhaft den Körper zusammenzieht
(KG. 13, S. 219: 1556), ein Vergifteter sich ersehnt (KG. 12, S. 428:
1555) oder sich rünp/ft (13, S. 524, in S: sich krnmbt) — in den
beiden letzteren Fällen aber wird aus jener zweiten Zeichenreihe
noch ein Zug hinzugefügt: greuft an die brüst und reibt den leyb,
wohl aus der Besorgnis heraus, der Schauspieler könne versagen
oder sein Zittern und sein Sichwinden könne nicht auffallend und
verständlich genug sein. Das dreimal vorkommende Torckeln des
Betrunkenen (KG. 10, S. 361, 15, S. 80; 20, S. 83) mag im gleichen
Zusammenhang erwähnt und besonders hervorgehoben werden, daß
hier wie bei jenem kränklichen Gehen der charakteristische Habitus
den szenischen Bemerkungen zufolge nur beim Betreten wie beim
Verlassen der Bühne zur Anwendung kommen soll. Am ehesten
kommt einem gewissen Naturalismus noch die Darstellung des
Wahnsinns nahe, des wirklichen wie des fingierten, so daß es statt
des älteren stellt sich grewlich oder grawsam (KG. 7, S. 113, 116:
1548) später 1557 heißt: Saul wird unsinnig, schreyet und tobet
(KG. 15, S. 50), David stellt sich, samb sey er unsinnig und kollert
(ibid. S. 65) und gar von Nebukadnezar: Hie wirdt der könig un-
sinnig, schreyet, tobet, kratzt und krelt (KG. 11, S. 47). Vermutlich
läßt hier der Mangel einer physisch aufzeigbaren Lokalisation der
Erkrankung die starke Verdeutlichung der Symptome besonders
wünschenswert erscheinen.
Manches von dem, was wir so bei der Darstellung des Körper-
lichen im stilisierten Drama beobachtet haben, kehrt auch bei der
Aufführung des Fastnachtspiels wieder; das Sterben resp. das
Sichtotstellen erfolgt auch hier am Boden, nur daß die Gelegenheit
dazu naturgemäß zu selten ist, um Beobachtungen zu ermöghchen,
die den oben angestellten analog wären; ein Schlafen vor den Augen
des Publikums findet überhaupt nicht statt — trotzdem wird der
Kranke auch hier im allgemeinen nicht sitzend, sondern stehend vor-
geführt. Das Mittel, die Krankheit durch Requisit zu charakteri-
sieren, wird auch hier verwendet und sogar noch zu einer Zeit, da es
im großen Drama kaum noch vorkommt, das Greifen nach der
kranken Körperstelle, das kränkhche Sprechen und Gehen, das Augen-
reiben des eben Erwachten ist hier wie dort vorgeschrieben. Nicht
wenige solcher Vorschriften aber sind in einer Weise ergänzt und
erweitert, die einen sehr bezeichnenden Unterschied von dem Stil
des Schauspiels bedeutet: die Darstehung des Fastnachtspiels neigt
viel entschiedener zum Naturalismus. Die Requisitencharakteristik
Körperliches im Fastnachtspiel und in der epischen Diclitunjj;. ■[57
wird gelegentlich (F. 75, v. 298) stärker differenziert als das im
Schauspiel denkbar wäre : Scheuenfrid kümpt auf zweyen kruecken,
Sewfist hat ain pindn vmb den kopff, Engelmayr dregt ein arm
im pandt; neben dem Greifen des kranken Teils spielt das reali-
stische Reiben eine weit größere Rolle, man greift auch nicht nur an
Brust und Leib, sondern auch in die seyten (F. 11, v. 179), und ein
Zug wie der, daß (F. 67, v. 137) der mit einem Kater gesegnete Petrus
den kopff reipt, wäre im Schauspiel nicht möghch. Der Trunkene torkelt
nicht nur, sondern grblczt auch (F. 68, v. 301), die drei Blinden des
einen Eulenspiegelspiels hangen an einander (F. 51, v. 21); beson-
ders naturgetreu aber wird das Erwachen gegeben : der Betreffende
denet sich, gienet auff, kratzt sich im kopff (F. 25, 34, 42, 81), —
nirgends ist es hier mit dem bloßen Reiben der Augen getan wie
im ernsten Drama, wo freilich öfter das Auffahren dazu kommt,
das hier ja (bis auf den besonderen Fall in F. 42, v. 247) nicht in
Betracht kommen kann, da der Erwachende stets die Bühne betritt,
ohne daß man seinen Schlaf gesehen hat.
Auch diese stärkere Neigung zum Naturalismus aber, wie sie
hier zutage tritt, charakterisiert sich noch als Zurückhaltung, so-
bald wir in bezug auf die gleichen Elemente die Beobachtungsgabe
daneben halten, die Hans Sachs in seinen nicht dramatischen Dich-
tungen bekundet; gleichzeitig tritt uns dann auch noch deutlicher
vor Augen, wie stark Hans Sachs als Regisseur nach Einfachheit der
Vorschrift für den Darsteller und nach Erkennbarkeit für den Zu-
schauer strebt. Die Historien, in denen nur die Herausarbeitung
der großen Erzählungszüge beabsichtigt und das Detail fast gar
nicht ausgemalt ist, bieten freilich weniger Material als die Schwanke
und die allegorisch-didaktischen Dichtungen. An eine systematische
Behandlung des sich an diesen Stellen darbietenden Materials kann
hier nicht gedacht werden; es genügt, an einigen prägnanten Bei-
spielen zu zeigen, daß Hans Sachsens Blick ganz andere Symptome
jener körperlichen Vorgänge zu erfassen imstande war, als sie in
seinen szenischen Bemerkungen sich zeigen, wie er denn auch bei
solcher Gelegenheit Züge seiner Quelle ganz anders als für das
Theater sich zunutze machte. Wieviel differenzierender und natur-
getreuer ist etwa die Kleinmalerei, mit der der Dichter in einem
späteren Schwank (312, v. 96) die Sterbenden charakterisiert:
. . . sie lagen all erplichen,
Ir rotte mundlein waren fal, . .
Betten nichs den kreisten vnd gemern,
Achiczen, dief seufzen vnd wemern,
Mancherley angst ain ides lied,
Pis es doch mit dem dot abschied,
Mit prochen awgn vnd offnem mund.
j^58 Körperliches in der epischen Dichtung.
Wie weiß er in einem Göttergespräch v. J. 1544, also auch in
einer Dichtung gehobenen Stils, Kennzeichen der verschiedensten
Krankheiten deutlich gegeneinander zu setzen in einer Schilderung,
die zu lang ist, um hier abgedruckt zu werden (KG. 4, S. 406 f.',
so wie er etwa anderwärts, in einem Schwank d. J. 1558, die
Qualen des Zahnleidenden zu charakterisieren versteht (193, v. 9ff.):
So thet er grisscjramen und geineni . . .
Vnd leget den kopff in sein hent,
Sties ihn zu zelten an die went
oder die Leiden der Schwangerschaft (278, v. 25) :
Echtzet, kreist vnd sich krümmet sehr,
während es von Rebecca im Drama Jacob und Esau v. J. 1550,
jenem theatrahschen Stil gemäß, da die Wehen einsetzen, nur heißt :
Rebecca greifft auf den bauch. Ebenso finden sich ganz andere
Bilder des Schlafenden: z. B. im Schwank 40 v. J. 1543 (v. 15ff.):
Da saß die Magd beym hert vnd schlleff,
Lautschnarchend durch die Nasen pfiff,
Gleich wie ein alter acker Gaul.
Die zollen Mengen jr Ins Maul.
Selbst die wenigstens im Fastnachtspiele ziemlich spezialisierten
Kennzeichen des Erwachens sind hier im Epischen durch andere,
etwa durch das Husten vermehrt, und die Symptome der Trunkenheit:
die zitternden Hände, die triefenden Augen, das Aufstoßen, Speien,
Juchzen und Singen in grotesken Häufungen zu schildern, macht
dem Erzähler besonderes Vergnügen. Daneben kommen natürlich
auch die Charakteristiken der szenischen Bemerkungen allein oder
mit spezifisch epischen Angaben vermischt vor, nirgends aber sind
jene theatralischen Mittel in der oben erwähnten, auffallenden
Reinheit der Durchführung in der Erzählung angewendet. Umge-
kehrt macht Hans Sachs auf dem Theater von der Schärfe seiner Be-
obachtungsgabe keinen Gebrauch: die gekennzeichneten Symptome
sind meist Veränderungen des Gesichtsausdrucks und leise Äuße-
rungen der Stimme, werden also nicht weithin sichtbar oder hörbar;
sie würden im ganzen über das Darstellungsvermögen des nürn-
bergischen Schauspielers weit hinausgehen und sie widersprächen
schließlich auch dem nur andeutenden, symbolisierenden Stil wenig-
stens der Schauspielaufführung gar zu stark. Dort aber, wo nur inner-
halb des Dialogs vom Sterben, Kranksein und dgl. die Rede ist,
da werden ruhig jene, dem Epiker geläufigen Mittel verwendet,
und zwar nicht nur, wo die Personen von Vorfällen berichten, die
hinter der Szene erfolgt sind, sondern auch dort, wo das Publikum
zugegen ist: der Sterbende z. B. wälzt sich in seinem Blut (KG. 8,
S. 51 ; 12, S. 147 u. ö), sein Angesicht erspitzt sich (KG. 8, S. 210),
Körperliches auf dem niitlelalterliclien Theater. j^59
ist erblichen, und seine Hand ligt ellendt (KG. 12, S. 298). Offenbar
ist der Nürnberger Zuschauer also bereit, auf Grund der vorge-
führten symbolischen Andeutungen mit Hilfe seiner willigen Phan-
tasie sich jene körperlichen Vorgänge zur Genüge auszumalen.
Ob diese Regelung der Bewegungen zur Darstellung körperlicher
Hergänge eine völlig selbständige Schöpfung des Nürnberger
Theaters ist, wird sich kaum ausmachen lassen; aber das Eine
läßt sich sagen, daß es sich zum mindesten in bezug auf die Grund-
ausdrucksformen nicht um eine Fortsetzung der mittelalterlichen
Art handelt. Für das Passionsspiel und seinen Kreis war die Not-
wendigkeit einer festen Regelung des Sterbens, Schlafens, Krankseins
schon darum nicht geboten, weil die Gelegenheit zur Vorführung
solcher Körperhergänge nicht eben groß war; die wenigen alt-
testamentlichen Szenen der Fronleichnamspiele und der Präfi-
gurationen brauchen wir nicht zu beachten. Wenn wir von Christi
Kreuzigung und der Hinrichtung des Johannes und der wenigen
dramatisch vorgeführten Heiligen absehen, stirbt eigentlich nur
Lazarus zuweilen vor den Augen des Publikums. Schlafend werden
nur die drei Jünger am Ölberg, die Grabwächter und gelegentlich
die Frau des Pilatus dargestellt; etwas häufiger gibt die biblische
Grundlage Gelegenheit, Ki'anke vorzuführen : die nämlich, die durch
Christi Wunderkraft geheilt werden; von dieser Gelegenheit wird
aber doch nur verhältnismäßig selten Gebrauch gemacht. Dazu
kommt noch Malchus' Verwundung, Christi Mißhandlung und weniges
andere. Die Bibel gibt für diese Hergänge keine oder nicht
charakteristische Vorschriften: die Kranken sitzen oder gehen,
die schlafenden Jünger sitzen — doch braucht das, da sie ja wachen
sollten, keine eigentliche Schlafstellung zu sein. Die Folge ist, wie
erwähnt, auf dem mittelalterlichen Theater der Mangel einer
einheitlichen Regelung der körperlichen Hergänge. Am größten
scheint wohl die Neigung zu sein, jeden ganz vom Normalen ab-
weichenden Körperzustand durch Zubodenstürzen oder Amboden-
liegen zu kennzeichnen : in offenbarer Rücksichtnahme auf die
Raumverhältnisse der Marktbühne, die am liebsten mit den weit-
hin Sichtbaren arbeitete. So ist es im Egerer Fronleichnamspiel,
wo Luzifer vom Engel verwundet zu Boden stürzt gerade so wie
später der des Ohres beraubte Malchus, wie der eine Soldat, der
sich bei der Geißelung Christi überanstrengt hat und wie Christus
selbst, als ihm Malchus einen Backenstreich gibt und dann als
man ihm das Kreuz aufgelegt hat; und von den Grabwächtern heißt
es: milites iacent quasi dormiendo.
Die Schlafenden pflegen auch sonst zu liegen (Redentiner
Osterspiel , Frankfurter Passionsspiel , Tiroler Spiele, Heidel-
berger Passionsspiel, Donaueschinger Passionspiel). Anderseits
müssen die Jünger in der Ölbergszene zuweilen auch sitzen,
160 Körperliches auf dem mittelalterlichen Theater. Das seelische Erleben.
(Donaueschillger Passionsspiel), und besonders bezeichnend
für diesen Widerstreit ist das Heidelberger Passionsspiel, wo es
von den Jüngern zuerst heißt: sie sezenn sich nydder, und dann
als der Schlaf sie überwältigt: sie legenn sich nydder. Das Zu-
bodenstürzen des verwundeten Malchus, des mißhandelten, des
kreuztragenden Christus ist auch in andern Spielen zu finden
(Frankfurter, Heidelberger, Donaueschinger, Tiroler Passionsspiele).
Im Alsfelder Spiel aber wankt er nur unter der Last, und die
vom Geißeln müden Soldaten haben sich im Frankfurter Passions-
spiel nur zu setzen. Die Kranken endhch gehen, sitzen oder
liegen, und der Unsicherheitszustand der Regie wird besonders
deutlich vom Frankfurter Passionspiel beleuchtet, wo es in bezug
auf den kranken Lazarus heißt: sedens vel iacens. Von hier aus
konnte also Hans Sachs für jene prinzipielle Scheidung seiner
Ausdrucksformen nichts lernen ; die mittelalterliche Tradition, soweit
eine solche bestand, bezog sich wohl mehr, in einem hier
nicht zu erörternden Verwandtschaftsverhältnis mit den Leistungen
der bildenden Kunst, auf die Beibehaltung der einmal erfaßten
Darstellung der einzelnen Situation, so z.B. in dem von der
Bibel nicht gegebenen Niederstürzen des Herrn, dem die Kreuzes-
last zu schwer wird; diesen Zug hat noch Hans Sachs, seiner
eigenen Gesamtregulierung zuwider, in seinem Passionsspiel (KG.
11, S. 299) übernommen. Eher mag die sparsame Art, mit der
Hans Sachs naturalistische Körpergebärden verwendet, auf die
Kargheit zurückzuführen sein, die in dieser Beziehung auf der
mittelalterhchen Bühne herrscht: der kranke Lazarus krochtzet
(Heidelberger Passionsspiel), die aus dem Schlaf aufgeschreckte
Grabwache lugt vmb sich und wiisf vff (Donaueschinger Passions-
spiel); allenfalls noch das Sehendwerden des Longinus im Frank-
furter Passionsspiel kommt in Betracht.
Das ist alles und wie man sieht, weniger als wenig. Die
Zurückhaltung des mittelalterlichen Theaters in bezug auf die
eigentlichen Gesten wird uns alsbald auch auf dem bedeutsamsten
Gebiete der schauspielerischen Darstellung wieder begegnen.
Das seelische Erleben.
Und nun endlich die letzte, die wichtigste und schwierigste
Frage : nach dem Ausdruck seelischer Zustände und Hergänge und
der Eigenart, den die nürnbergische Schauspielkunst in dieser Be-
ziehung aufweist. Auch hier interessiert uns vor dem Wie? das
Was? Welche seelischen Dinge sind es überhaupt, die durch Hans
Sachsens Schauspielervorschriften irgend wie akzentuiert werden
und nicht bloß in dem Inhalt der Monologe und Dialoge zum Aus-
druck konnnen ? Welche psychischen Vorkommnisse sind besonders
Inhalte der Darstellung. Grull Leben der Sinne. 'IQ\
häufig durch eine Notiz über Vortrag oder Gestus ausgezeichnet,
so daß man sieht: sie sollen dem Publikum vor allem deutlich ge-
macht werden? welche treten mehr oder ganz und gar zurück?
Die Inhalte der Darstellung.
Nicht recht zuzurechnen ist den eigentlich psychischen Aus-
drucksformen der Gruß — Gruß im weiten Sinne des Wortes, so daß
auch der Abschiedsgruß mit eingeht — : er ist vielfach so starr ge-
worden, daß er beinahe zur Aktion gehört ; anderseits sind seine
Grenzen gegen eigentlich psychische Zustände und Hergänge wie
Liebe, Huldigung, auch Bitte mannigfach fließend. So sei er hier vor-
weggenommen, ehe wir uns dem Rein-Seelischen zuwenden; und
da muß betont werden, daß er auf Hans Sachsens Bühne eine sehr
große Rolle spielt : er kommt in den szenischen Bemerkungen bei-
nahe so oft wie die Anweisung über die charakteristischste seelische
Funktion vor, so oft, daß man annehmen muß : in der Praxis wurde
auf seine Durchführung die peinlichste Sorgfalt verwendet. Und
das gibt der Hans Sachsischen Schauspielkunst jedenfalls von vorn-
herein einen gewissen feierlich-zeremoniellen Charakter.
Daß das naturalistische Element in ihr keine sonderliche Rolle
spielt, zeigt sich auch schon darin, daß dem Leben der Sinne kein
oder doch nur ein ganz bescheidener Ausdruck zukommt. Körper-
liche Schmerzen werden im Zusammenhang mit der oben gekenn-
zeichneten Vorführung körperlichen Übels hie und da durch Ton
oder Bewegung hervorgehoben, Unlust- oder gar Lustempfindungen
anderer Sinnesgebiete dagegen nicht gekennzeichnet, — g anz
steht die szenische Bemerkung halfen all die nasen zu in den
Machabäern (1556, KG. 11, S. 120), an einer Stelle, da ein bei
lebendigem Leibe in Verwesung übergehender Kranker auf die
Bühne getragen wird. Was die scharfe Anspannung der Sinne
betrifft, so wird sie nur auf dem Gebiet des Auges verhältnismäßig
häufig hervorgehoben, und auch die nicht gar zu seltene Vorschrift
des Sichumsehens, Nachsehens oder Aufsehens mag man dahin
rechnen; dagegen ist eine Anweisung über körperlich zu zeigendes
Hinhören so gut wie nie zu finden. Man wird daraus übrigens
einen Schluß auf gleichmäßig lauten Vortrag der dramatischen Rede
ziehen dürfen, wenigstens in dem Sinne, daß die Stimme niemals
gedämpft wurde; wo gelegentlich ein Raunen vorgeschrieben wird,
geschieht es wortlos: so, daß Worte überhaupt nicht gesprochen
werden oder verstanden werden sollen.
Wenden wir uns nun dem psychischen Leben im höheren
Sinne zu, so bemerken wir zunächst, daß das intellektuelle Gebiet
in bezug auf Gestus eigentlich ganz leer ausgeht. Keine Spur etwa
von einem Versuch, das Nachdenken oder den Zweifel körperhch
H e rrm a n n, Theater. U
162 Gefühlsleben. Mehr Unlust als Lust. Mehr Zuneigung als Abneigung.
ZU charakterisieren; selbst so einfache Dinge wie Hinweisen, Zu-
stimmen oder Verneinen durch körperhchen Ausdruck kommen nicht
sehr häufig vor. Alle schauspielerischen Vorschriften des Dichters,
soweit sie das Seelenleben betreffen, beziehen sich viel-
mehr in ihrer überwältigenden Majorität auf das Gefühl, ihre
Zahl ist außerordentlich groß, und so zeigt sich deutlich, daß der
nürnbergischen Schauspielkunst wesentlich ein lyrisch-pathe-
tischer Charakter innewohnt.
Bei dieser allgemeinen Erkenntnis aber brauchen wir nicht
stehen zu bleiben, sondern können auch noch weiter den speziellen
Ausbau dieses immer noch sehr großen Gesamtgebietes charak-
terisieren ; daß es sich dabei nicht etwa um willkürliche Auf-
stellungen handelt, die durch eine unzulässige Addition eines großen,
durch eine lange Zeit hindurchreichenden Materials zustande ge-
bracht wären, zeigt sich darin, daß wir zu ziemlich gleich bleibenden
Verhältniszahlen kommen, wenn wir statt der Gesamtzeit von
1550 — 1564 die szenischen Bemerkungen einzelner Jahrgruppen
(1550—54, 1555—57, 1558 ff.) den Berechnungen zugrunde legen, i)
Den dritten Teil aller Vorschriften umfassen die, welche Trauer,
seelische Unlust im weitesten Sinne des Wortes (Klage, Verzweif-
lung, Schreck, Entsetzen, Angst, Ärger) durch Gestus oder Stimm-
ton besonders hervorgehoben haben wollen, während daneben der
Ausdruck der seelischen Lust nur eine ganze verschwindende Rolle
spielt (3:34). Ziemhch ebenso stark wie die Gesten der Trauer
sind die der Zuneigung im weiten Wortverstande (Liebe, Freund-
schaft, Huldigung, Ergebung, Glückwunsch, Dank, Verzeihung) her-
vorgehoben, während die der Abneigung (Zorn, Drohung, Verachtung,
Trotz) zwar nicht so selten sind wie die Korrelate der Trauer, aber
hinter denen der Zuneigung jedenfalls auch weit zurückbleiben
(9 : 30). Schließlich pflegt die Anrufung Gottes, das Gebet mit
seinen verschiedenen Inhalten, durch eine Geste betont zu werden;
das gleiche gilt von der Bitte, die an Menschen gerichtet wird (14
bzw. 10 Prozent aller psychologischen Vorschriften). Andere Ge-
mütshergänge aber spielen eine so geringe Rolle für die Schauspiel-
kunst, daß im ganzen auf sie nur etwa 3 Prozent aller auf das
Seelische bezüglichen Vorschriften entfallen.
Daß in diesen Verhältnissen ein dem großen Drama eigentüm-
licher Schauspielstil sich offenbart, tritt auch darin zutage, daß
keine vollständige Übereinstimmung mit dem Inhalt der entspre-
chenden Bemerkungen im Fastnachtspiel besteht. Zwar ist trotz
des heiteren Charakters der kleinen Spiele das Verhältnis der Trauer-
1) „Berechnungen" : alle Angaben dieses Abschnittes beruhen auf genau durchgeführten
Zälilungen, deren Ergebnisse aber im allgemeinen nicht zifferngetreu, sondern mehr eindruck-
artig mitgeteilt werden.
Fastnachtspiel. Lyrisch-pathetischer Stil im ernsten Drama. ^gg
gesten zu den Freudegesten i) in ihnen das gleiche wie im großen
Drama (38 : 2), und auch die Bitte ist ungefähr ebenso häufig hier
wie dort vom besonders vorgeschriebenen Gestus begleitet; aber
es treten nicht nur die Bemerkungen bei der Anrufung Gottes ganz
auffallend zurück, sondern es ist vor allem das Verhältnis der
Sympathie- und Antipathiegesten beinahe umgekehrt (15 : 26)
wie im Trauerspiel und Lustspiel: die Antipathie überwiegt ent-
schieden.
Man wäre demnach also vielleicht geneigt, die Schauspielkunst
im großen Drama als lyrisch-sentimental zu bezeichnen und etwa
an das VolksHed zu denken, in dem auch Liebe und Trauer, Bitte
und Gottesfurcht besonders akzentuiert sind. Diese Gesamtcharak-
teristik aber muß doch eine wesentliche Einschränkung oder rich-
tiger Erweiterung erfahren; man erkennt ihre Notwendigkeit, wenn
man das wichtigste Gestengebiet, das der Trauer, für die Höhezeit
des Hans Sachsischen Dramas genauer zu spezialisieren sucht. Im
Gegensatz zur Frühzeit, im Gegensatz auch zum Fastnachtspiel,
wo es sich fast durchweg 2j um einfache Klage, ruhige Trauer
handelt, wird nun auf ihre Kosten der gesteigerte Grad: die Ver-
zweiflung und namentlich der Affekt, das plötzliche Eintreten: der
Schreck und vor allen Dingen das Entsetzen zu lebhaftem Ausdruck
gebracht^). Dem lyrischen gesellt sich also sehr stark das pathe-
tische Element ; und wenn wir bei einer Kontrastierung der Ab-
neigungsgebärden im Fastnachtspiel und im Drama dort Spott und
Ärger auch hervortreten sehen, während hier eigentlich nur Zorn
und Trotz ihre, immerhin auch bescheidene Rolle spielten, so führt
diese Beobachtung in die gleiche Richtung. Und so ergibt sich
zum Schluß dieser Betrachtung die Bestätigung der Behauptung,
die wir schon bei ihrem Eingang aufgestellt haben : lyrisch-pathetisch,
das ist der Grundcharakter der Hans Sachsischen Schauspielkunst;
die Nuance zeremonieller Feierlichkeit, die wir vorhin feststellten,
darf ebenfalls nicht vergessen werden. Mit jener weiter oben her-
vorgehobenen antinaturalistischen, mehr dem Symbohschen zu-
strebenden Haltung der Aktion stimmt das zu einem recht einheit-
lichen Gesamtbilde zusammen.
Schon der Aktion und dem rein Körperlichen gegenüber hatten
wir die Frage nach den entsprechenden Zuständen der mittelalter-
lichen Bühnenkunst berührt ; hier wo es sich um den Gestus handelt,
wird sie mit größerer Entschiedenheit aufgenommen. Denn während
1) Es sei wieder einmal daran erinnert, daß unter „Gesten" auch besonders vorge-
schriebener Stimraton mitverstanden wird.
2) Wenn schon vor 1540 im großen Drama dreimal der Ausdruck der Verzweiflung
vorkommt, so darf man wohl auch daran erinnern, daß uns des Dichters älteste Stücke
nur in der Redaktion der Blütezeit vorliegen.
3) Einfache Trauer 58, Verzweiflung, Schreck, Entsetzen 42 Prozent.
11*
\Q4: Dramentexte des Mittelalters als Untersuchungsmaterial.
sie sich mit alleiniger Ausnahme des Kostüms den früher be-
handelten Elementen des Hans Sachsischen Theaters gegenüber
erübrigte, weil die von Grund auf veränderten Bühnenverhältnisse
eine Übernahme mittelalterlicherEinrichtungen beinahe ausschlössen,
könnte auf dem jetzt behandelten Gebiet, auf dem die Umgestal-
tung der Bühne zunächst keine entscheidende Rolle zu spielen
scheint, der urkonservative Grundzug alles Theaterlebens recht
wohl mittelalterliche Kunst bis tief ins sechzehnte Jahrhundert
fortgeführt, könnte die Darstellung des psychischen Habitus
der einzelnen Personen den mittelalterlichen Grundcharakter be-
wahrt haben.
Die mittelalterliche Kunstübung festzustellen und kurz zu charak-
terisieren, ist auch abgesehen von dem vollständigen Mangel aller
Vorarbeiten 1) nicht ganz leicht, und zumal ein Vergleich mit der
Art der Nürnberger Meistersinger begegnet den größten Schwierig-
keiten. An den unerschöpflichen Reichtum des Hans Sachsischen
Dramencorpus und seiner szenischen Bemerkungen reicht das mittel-
alterliche Material bei weitem nicht heran, und vor allem: wir stehen
hinsichtlich seiner Ausbeutung nicht auf so sicherem Boden. Es
fehlt die so wichtige Gleichartigkeit, die uns ermöglicht, alles ein-
fach zu addieren und aus dem seltenen Vorkommen gewisser Aus-
drucksvorschriften einen sichern Schluß auf die Vernachlässigung
der entsprechenden psychischen Kategorien in der Nürnberger Schau-
spielkunst zu ziehen. Die mittelalterlichen Dramenmanuskripte sind
zwar zum größten Teile geradezu als Regiebücher zu bezeichnen,
aber sie sind in bezug auf Ort, Zeit und die Person des Regisseurs
untereinander sehr verschieden, ja wir haben angesichts der Kom-
pilations-, man möchte sagen Klebearbeit, durch die so viele der
mittelalterhchen Dramen zustande gekommen sind, nicht einmal dem
einzelnen Manuskript gegenüber die Sicherheit, daß es sich in den
szenischen Bemerkungen um das Residuum einer einheitlichen Auf-
führung handelt. So ist hier jenes allgemeine Additionssystem und
die methodisch durchgeführte statistische Ausbeutung des Materials
wohl nicht möglich. Ein anderer Hauptunterschied ist der : während
uns Hans Sachsens Drama durch die Erlebnisse aller Länder und
Zeiten führt und so für die Vorführung aller Seelenregungen den
mannigfachsten Anlaß bietet, ist der Gegenstand des mittelalterlichen
Dramas sehr beschränkt : in der Hauptsache immer wieder Christi
Lebens- und Leidensgeschichte und dazu verhältnismäßig wenig
Erweiterungen, zumal aus den Begebenheiten des alten Testamentes.
Jedenfalls wird man also hier eigenthch nur jedes Drama für sich
betrachten und strenge Ergebnisse des Gesetzes der großen Zahl
1) Mit Heinzeis schematisiereuden Zusammenstellungen vermag ich nicht viel anzu-
fangen.
Besonderheiten der mittelalterlichen Schauspielkimst. 165
nicht erwarten dürfen ; manche Texte zumal bieten so geringes
Material, daß ein Zählen und Rechnen sich beinahe verbietet.
Und dennoch zeigt sich eine nicht verkennbare, zuweilen so-
gar auffallende Gleichförmigkeit, zumal für die allerletzte Zeit des
Mittelalters, und so darf hier wohl versucht werden, die psycholo-
gische Akzentuierung der mittelalterlichen Schauspielkunst mit
der des Hans Sachsischen Dramas zu vergleichen.
Eines muß freilich noch vorweg festgestellt werden : jene psy-
chologische Akzentuierung bezieht sich im Mittelalter auf eine wesent-
lich andere Gesamtschauspielkunst als bei den Nürnberger Meister-
singern. Letztere schließt, wie wir sahen, im großen Drama alles
Individualisieren aus, während das mittelalterliche Drama dem Ziel
individueller Charakteristik entschieden mehr zustrebt. Eine szenische
Vorschrift wie sie z. B. das Benediktbeurer Weihnachtspiel für
den Archisynagogus bietet: imitando gestus Judei in omnibus
wäre bei Hans Sachs unmöglich. Es hängt ferner zum Teil damit
zusammen, daß im Gegensatz zu der stark symbolisierenden Art, die
auf der Nürnberger Bühne auch die eigentliche Aktion hat, das mittel-
alterliche Spiel hierin doch mehr auf Naturalismus gestimmt ist.
Wir werden also wohl sagen dürfen — freilich ohne an mittel-
alterlichen Fastnachtspieltexten eine direkte Gegenprobe machen zu
können, da diese ja ausnutzbare Bühnenanweisungen kaum auf-
weisen — , daß die nürnbergische Scheidung in zwei Schauspielkunst-
stile, einen dramatischen und einen fastnachtspielmäßigen, für das
Mittelalter nicht in Betracht kommt. Solcher minderen Stilgebunden-
heit der älteren Art steht anderseits im Mittelalter eine mindere
Freiheit von den Angaben der biblischen Vorlage gegenüber.
Ein weiterer höchst wichtiger Unterschied muß ferner noch be-
tont werden. Die besondere Nuancierung seelischer Hergänge über
die bloße Mitteilung durch das Wort hinaus scheint im Mittelalter
nicht ganz die Rolle zu spielen wie bei Hans Sachsens Darstellern ;
auf die Gründe dieser Erscheinung kommen wir später noch zu
sprechen : sie hangen zum Teil mit den Verhältnissen der zur Ver-
fügung stehenden Ausdrucksmittel zusammen. Namentlich in den
früheren Jahrhunderten scheint das Psychologische in der Dar-
stellung sehr zurückzutreten ; allmählich entwickelt es sich und
zwar, wie man vielleicht wird annehmen können, besonders inner-
halb des Passionsspiels und nimmt in der letzten Zeit des Mittelalters,
da eben dieses Spiel die eigentlich typische und normgebende
Theaterkunst bedeutet: in der zweiten Hälfte des fünfzehnten und
im beginnenden sechzehnten Jahrhundert schon eine beträchtliche
Stelle ein. Die quantitative Verschiedenheit aber auch dieser spät-
mittelalterlichen Art von den entsprechenden Verhältnissen bei den
Nürnberger Meistersingern wird besonders deutlich, wenn wir dazu
noch eine letzte Differenz herausheben : in den alten Spielen handelt
166 Seelische Inhalte der mittelalterlichen Schauspielkunst.
es sich häufig um wortlose psychische Geste, während diese
in Hans Sachsens Theater nur eine ganz geringe Rolle spielt, —
im Zeitalter des demokratisch gewordenen Humanismus ist das ge-
hörte Wort eben doch von zu großer Wichtigkeit, als daß man sich
mit einem bloßen Zeichen begnügt hätte, das das Fortschreiten der be-
wegten Handlung dem Auge verständlich machte. Dadurch schrumpfen
die Ziffern für das unmittelbar Vergleichbare: die psychische Ak-
zentuierung der Rede durch Geste und Ausdruck für das alte geist-
liche Stadttheater noch mehr zusammen.
Wenn man dann aber unter Berücksichtigung all dieser Unter-
schiede schheßlich doch zu vergleichen wagt und nun jene Frage
stellt : welche seehschen Inhalte der Rede werden im mittelalter-
lichen Drama durch Geste oder Ausdruck betont und wie stellen
sich die Verhältnisse zu den entsprechenden im Nürnberger
Theater?, so wird sich etwa folgendes sagen lassen. Jener Grund-
charakter: die fast ausschließliche Charakterisierung des Gefühls-
mäßigen findet sich auch schon im Mittelalter; das Intellektuelle
ist auch hier fast vollständig ungekennzeichnet — in den Spielen
seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fehlen auch die ein-
fachsten Gebärden der Art, wie Winken und Hinweisen, so gut wie
ganz, während sie in der noch dem 14. Jahrhundert angehörigen
Frankfurter Dirigierolle etwas häufiger erschienen. Die Anspannung
der Sinne ist auch auf einige wenige Fälle und durchaus aufs
visuelle Gebiet beschränkt.
Ferner innerhalb des Gefühlsgebietes: die starke Betonung der
Unlustgefühle, das ganz auffallende Zurücktreten der Lustbetonung
ist auch im Mittelalter zu finden, allerdings so völlig entschieden
wie dann bei Hans Sachs wohl erst nach 1450 (Egerer Fronleich-
namspiel, Alsfelder, Heidelberger, Donaueschinger, Frankfurter Passi-
onsspiele), während vorher (Frankfurter Dirigierrolle) doch auch
das Lustgefühl stärker akzentuiert scheint. Haben wir im Hans
Sachsischen Theater somit noch einen deutlichen Nachhall der
Sentimentalität, die die Generationen seit der Mitte des 15. Jahr-
hunderts ausgebildet haben, so ist dagegen das Verhältnis zwischen
Sympathie- und Antipathiekennzeichnung im großen Nürnberger
Drama gerade umgekehrt wie im Mittelalter. Während bei Hans
Sachs die Sympathie stark hervor-, die Antipathie sehr zurücktritt, ist
im mittelalterhchen Spiel die Geste der Antipathie meist geradezu
vorwiegend. In bezug auf die Anrufung Gottes ist eine rechte
Einheitlichkeit nicht zu beobachten, doch spielt die Geste des
Gebets in den meisten Spielen etwa dieselbe Rolle wie bei Hans
Sachs; ungefähr ebenso steht es mit der im ganzen vielleicht ein
wenig mehr zurücktretenden Gebärde der nicht an Gott gerichteten
Bitte. Übereinstimmung endlich auch darin, daß alles Übrige fast
völlig verschwindet, ganz und gar vereinzelt bleibt.
Die Mittel der Darstellung auf Hans Sachsens Bühne. Akustisches. 167
Untersuchen wir endlich im besondern jene Gruppe der wich-
tigsten Kongruenz : die Unlustbezeichnung auf ihre Besonderheiten.
Indem wir zunächst feststellen, daß im Mittelalter wie in Hans
Sachsens Drama Arger und Angst fast ganz unbetont bleiben, er-
kennen wir als Hauptunterschied diesen: das ältere, auch das
spätmittelalterliche Spiel charakterisiert nur die Trauer und da-
neben Schreck im allgemeinen, — die gesteigerten Grade: Ver-
zweiflung und Entsetzen, deren äußere Bezeichnung bei Hans Sachs
so bedeutende Ziffern aufweist, sind im Mittelalter nur ganz selten
besonders gekennzeichnet.
Das Ganze überschauend werden wir sagen : gewisse Zusammen-
hänge mit dem alten Spiel in der Gesamtanlage und im einzelnen
sind noch vorhanden, ein paar gewichtige Unterschiede aber sind
nicht zu übersehen. Viel näher steht dem mittelalterlichen Theater
der Stil der Hans Sachsischen Fastnachtspielaufführung : hier er-
scheinen zwar ein paar Besonderheiten : das starke Auftreten der
Bittgeste und das häufige Vorkommen von Angst und Ärger unter
den betonten Unlustzuständen recht eigentümlich, im übrigen aber
sind zwei entscheidende Züge des alten Spiels : das starke Hervor-
treten des Antipathieausdrucks und der Mangel an besonderer
Betonung der Verzweiflung und des Entsetzens hier bewahrt. Das
Überwiegen des Sympathieausdrucks und der stark pathetische Ein-
schlag ins lyrische Grundelement sind wesentliche Neuerscheinungen
des Nürnberger Dramentheaters. Woher stammen sie ? Diese
Frage bleibt noch offen.
Die Mittel der Darstellung.
Wir treten endlich an die Betrachtung der Mittel heran, mit
denen die von der Nürnberger Theaterkunst vorzugsweise beach-
teten Seelenzustände zum Ausdruck gebracht werden.
Es sind zunächst die akustischen Mittel zu behandeln.
Unzählige Male haben Hans Sachsens Schauspieler weinen
müssen. Nun muß freilich zunächst bewiesen werden, daß es sich
dabei auch um eine bloße Aktion der Stimme, nicht um etwas dem
Zuschauer Sichtbares gehandelt hat; aber dieser Beweis ist leicht
zu führen. Von vornherein wird niemand daran denken, daß die
Nürnberger Handwerker auf der Bühne wirkliche Tränen geweint
haben, ja: bei dem bald zu erörternden Zurücktreten fast aller
Gesichtsmimik wäre das Hervorpressen von Tränen nicht einmal
darstellerisches Ideal gewesen. Aber man könnte doch sich vor-
stellen, daß das Weinen statt durch lautes Schluchzen der Stimme
durch eine Handbewegung: durch Tränenwischen hätte vorgeführt
werden können. Daß das im allgemeinen nicht der Fall ist, wird
bald deutlich. Die mutier vmbfecht den sun weynend (Tobias 1533,
\Q§ Weinen, Seufzen, Lachen.
KG. 1, S. 157): sie hat also die Hände nicht frei, um sie an die
Augen zu führen; Die gräfln gehet hinach viind weynei (Falsch
Kaiserin, 1551, KG. 8, S. 120, ebenso 127): sie dreht dem Zu-
schauer den Rücken zu, man würde also ihr Gesicht gar nicht
sehen ; Sie (Gismonda) weynet ob der schewren, von der sie sich
nachher aufrichtet (Concretus, 1546, KG. 2, S. 36) und das kebs-
weib kombt weinendt und hat sich verhält (Leviten Kebsweib,
1555, KG. 10, S. 218; vgl. auch 16, S. 38) — auch in diesen beiden
Fällen kann das Publikum nur durch den Ton des Schluchzens
orientiert worden sein. An der Concretusstelle heißt es allerdings
hinterher : Gismonda rieht sich auff\ trücknet die äugen vnd spricht,
aber hier handelt es sich — in genauem Anschluß an die Quelle
— darum, nicht das Weinen selbst, sondern das Nichtmehrweinen
hervorzuheben: diese Stelle beweist gerade, daß das eigent-
liche Weinen nicht mit solchem visuellen Mittel markiert wird. Be-
stätigt wird der so auf indirektem Wege festgestellte akustische
Charakter durch zwei direkte Vorschriften: Esaw weint laut
{Jacob mit Esaw, 1550, KG. 1, S. 99, erst in A) und sie fecht
laut an zu weinen (Abraham, 1558, KG. 10, S. 48). Vielfach
wird nur geweint, ohne daß Worte gesprochen werden, oder das
Weinen setzt erst nach der Rede ein; sehr oft aber geht die be-
treffende Anweisung den Worten voran. Die gewöhnliche Vor-
schrift lautet dann : weint vnd spricht; schwerlich wird das bedeu-
ten, daß das Weinen eine der Rede voraufgehende Sonderaktion
ist, vielmehr wird die ganze Rede in weinerlichem Ton vorgetragen
sein. So heißt es denn auch einmal am Schluß eines längeren
Dialogstücks der Beritola (Beritola, 1559, KG. 16, S. 131): Sie
durchbricht mit weinen : das schon vorher zum Ausdruck gebrachte
Schluchzen steigert sich so, daß es ihr unmöglich ist weiter zu sprechen,
oder, wie die Quelle Hans Sachsens sagt (Decam., deutsch, S. 101) :
vnd von grossem weynen nicht mer reden mocht, stille schweige.
Neben dem Weinen kommt ganz gelegentlich (ein halbes
Dutzend Male) auch das Seufzen vor, einmal (KG. 8, S. 134) als
Zeichen der Liebe, auch sonst aber in richtiger Differenzierung
vom Weinen: wenn dem bloßem Schmerzgefühl noch ein anderes
sich beimischt u. dgl. und offenbar nur vor kurzen Ausrufen, nie
vor längeren Reden.
Sehr bezeichnend für die oben betonte Abneigung gegen die
Darstellung seelischer Freude ist es, daß in Hans Sachsens sämt-
lichen großen Dramen nur an fünf Stellen Lachen vorgeschrieben ist;
in dreien dieser Fälle scheint das Lachen einen gewissen tragischen
Charakter zu haben. Daß für den Darsteller die phonetische Wieder-
gabe des Lachens, nicht die Muskelbewegung im Gesicht das
Wesentliche war, geht wohl aus dem analogen Verhalten beim
Weinen und aus dem dort schon betonten Umstand hervor, daß
Lachen, Schreien. -[QQ
auf Hans Sachsens Bühne das Mienenspiel überhaupt eine ver-
schwindend kleine Rolle spielt. Man mag auch eine jener fünf
Stellen heranziehen, an der es heißt (Tristant und Isolde, 1553,
KG. 12, S. 153): Sie setzen Tristant in ein sessel und salben in; er
lacht vnd spricht: Diß wird das weibßbild sein fürwar, Von der
kumbt das lang frawen-har. Es ist kaum begreiflich, warum
Tristan hier lacht; ganz dem Sinn gemäß heißt es aber in Hans
Sachsens Quelle •) . . gedacht er bey dem har, das er mit gm
gefürt het, das sy die fraw wer, die er suchte, und ward in ym
selbs schmollen. Dieses Lächeln aber kann Hans Sachs nicht
brauchen, und so hat er an seine Stelle das — laute — Lachen
gesetzt.
Endlich das Schreien 2), bei dem ja nun an eine visuelle Dar-
stellung überhaupt nicht zu denken ist. Ein bloßes lautes Tönen-
lassen der Stimme, ohne Worte, kommt nur ganz gelegentlich vor,
fast immer handelt es sich vielmehr um eine Verstärkung der
Stimmquantität beim Vortrag der Rede. Die wichtigste Verwendung
dieses Schreiens liegt — auch abgesehen von der Neigung, eine
Menschenmenge, ein Heer z. B., schreien zu lassen und dadurch
die Phantasie bereitwillig zu machen, daß sie sich der Zahl der
Schauspieler größer vorstelle als sie ist — nicht auf psychologischem
Gebiete: es wird durch sehr lautes Sprechen angedeutet, daß der
Redende von dem, dem seine Rede gilt, weit entfernt ist; man
schreit einem Abgegangenen oder Abgehenden nach — lauter als
es die Bühnenmaße an sich nötig machen, und auch ein Auf-
tretender schreit schon von hinten. Eine besondere Nuance dieses
Rufens in die Ferne ist der Hilferuf, der ziemlich häufig vorkommt,
und offenbar aus ihm entwickelt sich dann auch eine psychologische
Verwertung des Schreiens: es ist der Ausdruck von Todesangst,
auch wenn kein Hilferuf mit ihm verbunden ist, und gelegentlich
der Verzweiflung im allgemeinen, — so z. B. Judas laufft auß
mit geschrey (Passio Christi, 1558, KG. 11, S. 284): zugleich einer
jener Fälle, in denen ein Schreien ohne Worte erfolgt. Daß
Schreckensnachrichten nicht selten in schreiendem Ton vorgetragen
werden, hängt im besondern wieder damit zusammen, daß das
Auftreten der Boten immer hinten oder hinten rechts erfolgt.
Immer also einigermaßen die ursprüngliche Erklärung aus dem
Räumhchen; rein psychologisch — als naturalistischer Ausdruck
also besonders des Zorns und der Wut wird das Schreien in Hans
Sachsens großen Dramen nicht verwendet.
Und nun endlich die Bühnenvorschriften, die direkt auf eine
gefühlsmäßige Färbung des Vortrags hinweisen. Die Gesamtzahl
1) Tristant und Isolde her. v. F. Pfaft (Tübingen 1881) S. 32.
2) Nur zweimal steht rufft statt schreit: KG. 1, S. 139; 10, S. 72.
170 Gefühlsmäßige Färbung des Vortrags im ernsten Drama und im Fastnachtspiel.
solcher Vorschriften ist sehr groß — die Zahl der vorgeschriebenen
Vortragsnuancen stellt sich als sehr klein heraus: es sind eigenthch
nur vier oder fünf. Geradezu erdrückt werden alle andern von
der Häufigkeit, mit der das spricht trawrig erscheint; nicht ganz
selten findet sich eine Abart dieser Vortragsart in der Anweisung
spricht cleglich: sie ist immerhin etwa 30 Male zu belegen. Jenes
Überwiegen der Unlust zeigt sich also auch hier, und drei ver-
schiedene Nuancen der Trauer sind allein schon mit phonetischen
Mitteln herbeizuführen : spricht trawrig, spricht cleglich, weint und
spricht. Redt frölich ist dagegen nur ganz wenige Male zu finden.
Im Gegensatz zu solcher Übereinstimmung des Akustisch-Phone-
tischen mit den für die allgemeine Betonung des psychischen Aus-
drucks ermittelten Verhältnissen stehen die Zustände in bezug auf
das Gebiet der Sympathie und der Antipathie — freundhche, hebe-
volle Tonfärbung wird überhaupt nicht erwähnt; wohl aber kommt
die Vorschrift spricht zornig recht häufig vor. Endlich ist auch
spricht trutzig oder trutzlich verschiedene Male zu belegen. Mit
diesen fünf Unterscheidungen aber: trawrig, cleglich, frölich, zornig,
trutzig ist die Reihe der Hans Sachsischen Tonvorschriften eigent-
lich auch am Ende. Ein paar andere Angaben: spötlich, verzagt,
ernstlich, verdrossen sind vollständig isoliert und nichts als gelegent-
hche Entgleisungen aus dem Theaterstil heraus; erst ganz gegen
Ende der Hans Sachsischen Tätigkeit häufen sie sich immerhin so
igrawsamlich^), stolczmutig, hochmütig^), verächtlich, hart er-
schrocken, entsetzt, unerschrocken), daß man sich fragen könnte, ob
darin sich erst recht nur die zunehmende Unsicherheit des greisen
Dichters dokumentiert oder ob Hans Sachs tatsächlich um 1560
seinen Schauspielern eine größere Mannigfaltigkeit der Tonfärbung
zuzumuten beginnen wollte.
Überschauen wir nun dieses phonetisch-akustische Gesamtge-
biet noch einmal, um es mit den entsprechenden Verhältnissen in
der Darstellung der Hans Sachsischen Fastnachtspiele zu vergleichen,
so ergeben sich charakteristische Übereinstimmungen und Unter-
schiede. Auch hier ist das Weinen weit häufiger vorgeschrieben
als das Lachen, und die Darstellungsart ist im ganzen gewiß ähn-
lich gewesen. Allerdings finden wir für das Lachen eine Stelle
(Esopus 1560, F. 85, v. 196, vgl. 228), aus der hervorgeht, daß hier
neben dem Phonetischen auch die Gesichtsmimik vom Darsteller
verwendet wurde: Esopus thut mit aufgespertem mund ain lawten
lachen Aber einmal kann uns das im Fastnachtspiel so sehr nicht
befremden, wo, wie sich noch zeigen wird, die Aktion der Gesichts-
muskeln nicht ganz so undenkbar ist, wie im großen Drama;
1) U, S. 408, fehlt in S.
2) 13, S. 572, fehlt in S.
Gefühlsmäßige Färbung des Vortrags im ernsten Drama und im Fastnachtspiel. \'^\
ferner wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers durch die nun
folgende Rede einer andern Person auf die ganz ungewöhnhche
Art dieses absichthch ins Groteske outrierten Lachens hingewiesen,
indem in sechs Versen der weit aufgerissene Rachen des Esopus
geradezu demonstriert wird. Diese Art, das Lachen darzustellen,
ist also offenbar auch für das Fastnachtspiel eine Ausnahme.
Während aber das mehr lyrische Seufzen dem Fastnachtspiel
fehlt, kommen hier naturalistische Laute vor, die im stilisierten
Drama undenkbar sind. F. 65, v. 105 reispert sich der Pfaff, ehe er
seine Rede beginnt; F. 76, v. 138 heißt es von dem alten Weib, das
den Teufel zu überlisten unternimmt: sie thuei im ain schnelzlein
nach, u. dgl. mehr. Das Schreien spielt auch hier eine wichtige
Rolle, auch hier handelt es sich hauptsächlich um überlauten Vor-
trag der Worte, selten um wortloses Erheben der Stimme. Auch hier
ist das nichtpsychologische Schreien : das Rufen zur Kennzeichnung
des Abstandes von großer Bedeutung, auch hier kommt Hilferufen,
Angst und Verzweiflungsschreien gerade wie im großen Drama
vor. Ein paar charakteristische Unterschiede aber sind: einmal nach
der Seite der Ausdrucksform die mehr naturalistische Verbindung
waint und schreit, die im Drama völlig fehlt, und ferner nach der
Seite der psychologischen Bedeutung die sehr häufig Benutzung
des Schreiens zur Kennzeichnung des Zorns, die wir dort streng
gemieden sahen. Schreit zornig, so heißt es sogar geradezu (F.
82, V. 128).
Und endlich die direkten Gefühlstonvorschriften im Fast-
nachtspiel ? Sie stimmen genau mit denen im großen Drama überein,
wenn auch natürlich die Zahlen ihres Auftretens viel kleiner sind:
zornig, das hier am häufigsten vorkommt, und trutzig, trawrig und
cleglich; auf frölich kommt hier nur eine einzige Stelle. Daneben
sind freundtlich und spötlich noch je einmal und zwar in den
ältesten Stücken (F. 1 und 4) vertreten. Man sieht also: zornig,
trotzig, traurig, kläglich und fröhlich zu sprechen, das sind die
einzigen Anforderungen, die Hans Sachs in bezug auf den beseelten
Vortrag seiner Verse an sein Personal stellen konnte. Wer aber
noch meint, daß es sich hier nicht um spezifisch-theatralische Vor-
schriften, sondern um die einzigen Vortragsnuancen handelt, die
Hans Sachs überhaupt — auch in der Wirklichkeit — bekannt
waren, der möge sich überzeugen, daß in Hans Sachsens erzäh-
lenden Dichtungen das traurige, zornige Sprechen usw. nicht so
sehr im Vordergrund steht und daß die Leute dort auch mit sen-
licher, senfter, hoffertiger stimb, vngstum und wild usw. reden und
daß er auch in seinen Quellen eine stärkere Individualisierung des
Redetons vorfand — z. B. im deutschen Decamerone: züchtiglich,
erschrocken, grawsam, diemütiglichen, schnelle u. a. m.
Und nun nach solcher Feststellung die historische Frage : woher
172 Gefühlsmäßige Färbung des Vortrags im mittelalterlichen Schauspiel.
kommt diese bemerkenswert enge Beschränkung der Vortragstöne?
Ist sie erst eine Festsetzung des Regisseurs Hans Sachs oder über-
nimmt er sie schon von seinen mittelalterhchen Kollegen? Durch-
mustern wir die szenischen Bemerkungen der Passionsspiele und
der andern geistlichen Dramen aus dem ausgehenden Mittelalter
immer in dem oben begründeten Bewußtsein, daß ein Vergleich
nur vorsichtig durchgeführt werden kann und daß eine so völlige
Einheithchkeit der Terminologie wie bei Hans Sachs sich weder
für das Gesamtcorpus des geistlichen Dramas noch auch für das
einzelne Werk erwarten läßt — , so erkennen wir: die Nürnberger
stehen hier im wesenthchen durchaus in der Tradition. Die ent-
sprechenden Bühnenanweisungen des späten Mittelalters lassen
sich im ganzen auch auf einige wenige Vortragstypen zurückführen.
Einmal Trauer, wobei es nicht sicher auszumachen ist, ob wir hier
auch schon zwei verschiedene Nuancen, entsprechend dem trawrig
und cleglich unterscheiden dürfen: cum trisütia, tristi animo (dicit
cantat), plangit, tristetiir — lamentabiliter, lamentando, dolenter
(dicit, cantat), (spricht) weklagemle, cleglich, mit cleglicher stim.
Ferner wird der Zorn durch die Stimme zum Ausdruck gebracht:
indignanter, furiose, iratus (dicet), irascitur, spricht zornig u. dgl.
und die Freude : gaudens, gauisus, cum magno gaudio, jubilanter,
letabundo animo, mit frölichem hertzen und so fort. Nur gelegentlich
begegnet etwas, was dem Hans Sachsischen spricht trutzig ent-
spricht: dicit ferociter, antwurt fravenlich, während der spöttische
Ton {irrisorie, deridendo u. dgl.) und die furchtsame Stimme (sub
timore, erschrockenlich, mit forchtsamlicher stim) wohl ein klein
wenig häufiger als bei ihm erscheinen. Im ganzen aber ist die
Übereinstimmung klar: auch schon den kleinbürgerlichen Schau-
spielern des späteren Mittelalters werden nur sehr wenige Vortrags-
nuancen zugemutet, und eine ziemlich getreue Tradition hat die
wesentüchsten Töne bis in die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts
beibehalten. So feine Stimmschattierungen, wie sie das wohl dem
Anfang des vierzehnten Jahrhundert angehörige Benediktbeurer
Weihnachtspiel von den Darstellern verlangt : voce sobria et discreta,
cum magna sapientia et eloquentia sind später nicht mehr denkbar:
damals sind Geistliche die Träger der Rollen gewesen, und die waren
denn doch andern Aufgaben gewachsen als die Handwerker des
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts.
Wo die geistlichen Regisseure der Spätzeit über jene wenigen
Möglichkeiten hinaus andere Seelenerregungen durch die Stimme
der Darsteller zum Ausdruck kommen lassen wollten, da
brauchten sie anscheinend ein sehr einfaches Mittel, angeregt viel-
leicht durch einige biblische Andeutungen: sie ließen sie schreien.
Das Weinen wird bei weitem nicht so oft vorgeschrieben wie bei
Hans Sachs, kommt eigentlich nur vor, wenn es die biblische Quelle
Stärke der Stimme auf dem mittelalterlichen Schauplatz. 173
verlangt, und man wird nicht einmal mit Sicherheit behaupten
können, daß es sich bei der Ausführung um phonetische Mittel
handelt (im Gegenteil: Jecz tut der Salvator glich als ob er weine,
und Luiist die oiigen heißt es im Donaueschinger Passionsspiel).
Seufzen ist auch im geistUchen Spiel hie und da verlangt, Lachen
läßt sich nur ein einziges Mal belegen; das biblische Heulen und
Murmeln fehlt nicht ganz. Das Schreien aber spielt eine verhältnis-
mäßig größere Rolle als bei Hans Sachs. Nicht nur Schreien der
Menge, Ruf in die Ferne, Hilferuf, Angst, höchste Trauer kommen
so vor, sondern alle möglichen Seelenzustände werden durch
Schreien charakterisiert; außer dem Zorn, der bei Hans Sachs
wenigstens im Fastnachtspiel der stärksten Stimmanstrengung sich be-
dient, Neid, Reue, innige Bitte, — ja, starke Seelenerregung über-
haupt kann sich durch Schreien äußern i). Ganz wohl begreiflich
auf der Marktplatzbühne, auf der durch dieses Mittel psychisch
stark betonte Stellen wenigstens allvernehmlich wan-den, zugleich
vielleicht ein Analogon zu dem Fortissimo in der Musik, in dem
solche Erregungsworte, in den ja noch immer nicht ganz abge-
storbenen Oratorienhaften Partien des einstigen Musikdramas, vorge-
tragen sein mochten. Bei Hans Sachs hegt alles Musikalische ganz fern,
hier handelt es sich um reines Sprechdrama; vor allem aber hätten
die neuen räumlichen Verhältnisse : der Vortrag in einem verhältnis-
mäßig kleinen, geschlossenen Raum jenen ausgedehnten Gebrauch
des Schreiens ganz unsinnig erscheinen lassen.
Wenn somit wenigstens in negativer Beziehung hinsichtlich
der Stimmtonstärke den veränderten Lokalverhältnissen Rechnung
getragen ist, so ist in positiver Beziehung davon noch ganz und
gar nicht die Rede. Daß auf der Marktplatzbühne leiseres Sprechen
vermieden werden muß, ist durchaus verständlich: die Worte des
Darstellers wären sonst ungehört verklungen; so findet sich denn
im ausgehenden Mittelalter nur ein einziges siibmissa voce (Als-
felder P.) und noch dazu bei musikalischem Vortrag. Hans Sachs
dagegen hätte in seinem kleinen geschlossenen Raum sehr wohl
ein Sinkenlassen der Stimme vorschreiben können, ohne den Schau-
spieler zur Unverständlichkeit zu verurteilen ; aber er bleibt bei der
nun sinnlos gewordenen Gleichmäßigkeit des Normalvortrags. Ein
einziges Mal in seinen sämtlichen Dramen (Hürnen Seufrit T 1557
KG. 13, S. 370) heißt es: Hilteprandt . . spricht gemach, um ein Zu-
flüstern zu charakterisieren. — Könnte man aber nicht annehmen,
daß das oft vorgeschriebene klägliche Sprechen mit gedämpfter
Stimme erfolgt sei? Für die Bejahung dieser Frage möchte man
sich auf eine Stelle in der Tragödie Concretus (1545) berufen, wo
1) Vielleicht ist jenes bei Hans Sachs etwas herausfallende Schreien des Judas (s.
o. S. 169) ein Rest schauspielerischer Tradition, der sich im Passionsspiel so lange
erhalten hat.
174 Körperhaltung bei GefüMserregiingen auf Hans Sachsens Bühne.
es heißt (KG. 2, S. 37): Gismonda antwort mit kleglich nlderer
stim. Daß „nieder" nicht nur die Stimmlage, sondern auch die
Stimmstärke charakterisiert, wird zuzugeben sein. Erstens aber
hat die ganze Vorschrift eigenthch mit dem Seelischen nichts zu
schaffen, sondern bezieht sich aufs Körperliche, denn Gismonda
hat vorher Gift getrunken, und in der Handschrift steht statt der
oben wiedergegebenen Stelle des Drucks: mit nider dotlicher
stim. Zweitens ist diese szenische Anweisung eine der wenigen,
bei denen Hans Sachs, statt im Theaterjargon zu bleiben, sich an
die epische Vorlage hält (mit nyder tätlicher stim heißt es auch
dort). Daß das „Niedere" ein Charakteristikum des Kläglichen nicht ist,
geht endlich aus einer andern Stelle (Simson, 1556, KG. 10, S.
213) deutlich hervor, an der Hans Sachs — wenn auch noch nicht
in der Handschrift, so doch im Druck — vorschreibt: Derknab....
schreit kläglich.
Welches waren denn nun aber die Vortragsnuancen des Kläg-
lichen und Traurigen, des Zornigen, Trotzigen und Fröhlichen und
wie haben Hans Sachs Darsteller sie gelernt ? Diese Frage wird
nur zu beantworten sein, wenn wir das lediglich phonetisch-akustische
Ausdrucksgebiet verlassen und auf das visuelle übergehen. Und
zwar müssen wir im besonderen die Vorschriften ins Auge fassen,
die seelische Dinge durch die gesamte Körperhaltung zum Aus-
druck bringen lassen wollen : wo das Auftreten, Abgehen, Sich-
setzen, Aufstehen u. dgl. durch ein Gefühlsadverbium charakterisiert
wird. Auch hier sind es wieder nur einige wenige Typen, auf die
sich alles zurückführen läßt. Weitaus am häufigsten begegnet uns
der Ausdruck der Trauer : gehen ein trawrig, geht trawrig aiiß, setzt
sich trawrig, volgt trawrig nach; neben trawrig kommt ein paar-
mal auch betrübt vor. Ferner der Zorn : geht zornig ab, u. dgl.,
einmal auch geht unmutig ein. Und der Trotz : geet drutzig auß,
wozu man vielleicht auch das zweimalige stöltzlich und das eben-
falls zweimalige branget hinein rechnen darf. Endlich Freude:
gent frölich ab, get ein frölicher gestalt usw. Damit ist alles erwähnt;
isoliert bleibt nur ein spätes geht dueckisch ab (Romulus und Re-
mus, 1560, KG. 20, S. 143), das in der Handschrift steht, während
es im gedruckten Texte in das übliche trotzig verwandelt ist. Im
Fastnachtspiel steht es genau ebenso wie im großen Drama. Trawrig,
zornig, drutzig und frölich — genau dieselben Charakteristika für
die Gesamtkörperhaltung wie für die Stimme : kein neues daneben,
und von den Stimmvorschriften fehlt nur kleglich, das schließlich
doch nur eine Nuance des trawrig vorstellt ; übrigens findet sich
wenigstens einmal (Beritola, 1559, KG. 16, S. 123): stellt sich
kläglich.
Nun läßt sich aber leicht sehen, daß mit solchem Traurig-, Zor-
nig-, Trotziggehen usw. nicht bestimmte, gleichförmige, äußer-
Schauspielerische Autosuggestion im Mittehilter und im Kl. .Jahrhundert. 17^
lieh zu erlernende Gangweisen gemeint sein können. Tristant geht
trawrig ab, dergleich schleicht Isold aö heißt es allerdings einmal
(Tristant mit Isolden, 1553, KG. 12, S. 163) ; aber man darf nicht
daraus schließen, daß nun der langsame Gang ein typisches Zeichen
der Trauer sein müßte, denn ein andermal (Tobias, 1533, KG. 1,
S. 137) wird verlangt Der jung Thobias laiifft eylend hinein,
trawrig — ja, daß überhaupt im Gehen nicht das Spezifische
solcher allgemeinen Gefühlsäußerung durch den Körper gefunden
zu werden braucht, zeigt die Stelle : die folgen im mit geneijgten
häuptern samb trawrig auß dem saal (Zwölf arge Königinnen,
1562, KG. 16, S. 21). Es scheint also nur eine Erklärung zu bleiben:
für solche allen Darstellern zugemuteten Gefühlsdarstellungen gibt
es im allgemeinen keine äußerlich vorgeschriebenen Ausdrucks-
formen, sondern es wird von dem Schauspieler verlangt, daß er
das betreffende Gefühl in seiner Seele innerlich lebendig werden
und von innen heraus in Haltung und Stimme zum Aus-
druck kommen lasse, wie es der Moment eingibt. Der könig
w i rd gar bell übet heißt es denn auch geradezu einmal: und
der so betrübt gewordene spricht trawrig und geet trawrig auß,
ohne daß es im großen und ganzen besonderer Einzelanordnungen
bedürfte. Ebenso verrät sich das Darstellungsprinzip einmal im
Fastnachtspiel (F. 28, v. 75), wo statt spricht zornig direkt ist zornig
den Worten des Mannes vorangesiellt ist. Auch dieses Prinzip
aber scheint Hans Sachs ebenso wie im wesentlichen die Auswahl
der auf solche Art zum Ausdruck kommenden Gefühle vom spät-
mittelalterlichen Theater übernommen zu haben : daß es hier be-
standen hat, darauf deuten manche Anweisungen direkt hin: leta-
bundo animo, furioso animo, tristi animo, mit frölichem her-
tzen soll der Vortrag erfolgen; mit cleglicher stim und ge-
perd soll Judas sprechen : das Wie bleibt also ihm über-
lassen ; ja, jene ganze oben betonte Unbestimmtheit der sze-
nischen Terminologie des Mittelalters, die uns oft schwanken
läßt, ob Innenzustand oder schauspielerischer Ausdruck vorliegt,
weist ihrem letzten Sinne nach in die gleiche Richtung. Die mittel-
alterliche Theaterkunst verlangt in bezug auf die wenigen Gefühls-
zustände, die die vorgeführten Gestalten ihren Zuschauern durch
Haltung und Stimme immer wieder deutlich zu machen haben, von
ihren kleinbürgerlichen Dilettantenspielern eine förmliche Autosug-
gestion: nicht die moderne, bei der der Schauspieler sich ganz und gar
in die darzustellende Gestalt seelisch zu verwandeln trachtet, wohl
aber eine partielle: eine innere Anfüllung mit dem Gefühl, dessen
die Gestalt voll ist. Die Nürnberger Meistersinger behalten dieses
System bei; während es aber im Mittelalter die eigentliche Haupt-
sache des psychischen Ausdrucks liefert, kommt bei ihnen noch
eine ganze Fülle einzelner körperhcher Ausdrucksformen hinzu.
j^76 Die mittelalterliche Schauspielkunst in Deutschland.
die nicht einem seelischen Gesamtzustand entspringen, sondern
einzehi gelernt und von außen angefügt werden müssen.
Von diesen einzelnen Ausdrucksformen soll nun noch die Rede
sein. Und zwar werden wir diesmal, statt die vorsachsischen,
mittelalterlichen Verhältnisse wie bisher erst nachträglich zum Ver-
gleich heranzuziehen, mit ihnen beginnen — schon um so durch
den unmittelbaren Anschluß an die eben zu Ende geführten Er-
örterungen eine in sich zusammenhängende Gesamtcharakteristik
der mittelalterlichen Schauspielkunst in Deutschland zu bieten.
Die mittelalterliche Schauspielkunst in Deutschland.
Das Wesen dieser theatralischen Körperberedsamkeit ist ge-
kennzeichnet zunächst durch die große Sparsamkeit in der Anwen-
dung von Ausdrucksbewegungen und Stimmvariationen, die zu
gleichmäßig in allen Texten uns entgegentritt, als daß sie nur auf
die gewiß hie und da nicht fortzuleugnende Dürftigkeit der szeni-
schen Bemerkungen zurückgeführt werden kann, gekennzeichnet
ferner durch den einförmigen, jeder Veränderungs- und Individu-
ahsierungsmöghchkeit baren Charakter des tatsächhch Gebotenen.
Dieses Wesen und seinen Grund aber kann man nur richtig er-
fassen, wenn man einmal von der Tatsache ausgeht, daß alle
ernsten dramatischen Aufführungen der vorreformatorischen Jahr-
hunderte ursprünglich Teile einer gottesdienstlichen Handlung
gewesen sind und einen Rest des dadurch gegebenen Charakters
trotz aller Verweltlichung und Entartung bis zuletzt festhalten ; von
der Erwägung ferner, daß bis auf die sekundären und sehr zurück-
tretenden Heiligenspiele, die ersten Szenen der Fronleichnam spiele
und die gelegentlich auftretenden Präfigurationsszenen aus dem
alten Testament immer wieder nur das neue Testament den Stoff
für die dramatischen Darbietungen hergibt.
Wenig mannigfaltig sind die optischen und akustischen Aus-
drucksformen, die in den kanonischen Berichten über Christi Lebens-
und Leidensgeschichte angeführt werden, und in ein irgendwie
regelrechtes System lassen sie sich kaum bringen : weder wenn
man von den psychischen Hergängen noch wenn man von den
Ausdrucksmitteln ausgeht. Das Gebiet der stimmlichen Charakte-
ristik umfaßt: Lautrufen, Schreien; Murmeln; Seufzen, Weh-
klagen, Weinen, Heulen. Innerhalb der für das Auge wahrnehm-
baren Ausdrucksarten tritt das Mienenspiel fast vollständig zurück:
höchstens beim Weinen wird der Leser auch an die Tränen denken,
und das Anspeien als Zeichen des Absehens könnte man hierher-
rechnen und den blutigen Schweiß als Zeichen der bitteren Angst des
Herrn ; wo den Augen ein bestimmter Blick vorgeschrieben wird,
ist damit zugleich eine Bewegung des ganzen Körpers oder doch
Gesten der biblischen Vorlage. Das mittelalterliche Theater: labile u. stabile Gesten. '["'J
des Kopfes verbunden : Sichumsehen nach jemanden, Ringsumsich-
sehen, Emporsehen 7A\m Himmel. Kopfbewegung allein kommt
einmal (Matth. 27, 39; vgl. Marc. 15, 29) vor: Kopf schütteln als
Zeichen spottender Ablehnung. Arme und Hände allein kommen
etwas öfter in Bewegung : Zeigen als Hindeutung, Handausstrecken
bei der Wundertat, Andiebrustschlagen zum Zeichen der Reue ;
niemals wird — das sei hier schon betont — mit Armen und
Händen zur Verlebendigung von Trauer und Verzweiflung agiert.
Am häufigsten aber tritt der ganze Körper in Aktion — abge-
sehen von dem gelegentlich erwähnten Zittern der Geängstigten
besonders in den verschiedenartigen Formen der Verehrung und An-
betung : man fällt zur Erde, aufs Angesicht, auf die Knie, umklam-
mert die Füße des andern, beugt die Knie ; dazu kommt endlich
eine kleine Anzahl prägnanter Formen : der Kuß der Liebe, das
Kleidzerreißen bei der Lästerung, das Rückwärtsfallen vor Ent-
setzen, das eigenartige Schreiben Christi im Sande.
Und nun vergleichen wir mit diesem Gesamtbild das Bild, das
uns mit Ausnahme eines einzigen späten Spiels und einiger ganz
weniger Stellen in ein paar andern späteren Stücken das mittel-
alterliche Theater in Deutschland bis in den Anfang des sechzehnten
Jahrhunderts hinein bietet. Im Grunde finden wir hier völlig
das Gleiche wie dort. Fortgelassen sind von den Ausdrucksbe-
wegungen und Stimmfärbungen der Evangelien nur ganz wenige: das
Kopfschütteln, das an jener Stelle mit der Situation und den Worten
nicht recht in Einklang zu bringen ist ; das Schlagen der Brust (zu
Luc. 23, 48), weil die mittelalterlichen Dramatiker in ihrer Abneigung
gegen die Juden die Reue des noch am Kreuz stehenden Volkes über-
haupt undargestellt lassen; das Zittern, weil das den Zuschauern der
Marktplatzbühne doch entgangen sein wiu'de; der blutige Schweiß,
weil er kaum darstellbar ist. Umgekehrt finden sich Erweiterungen,
Einführungen neuer Gesten gegen den Evangelientext beinahe gar
nicht ; am ehesten noch auf akustischem Gebiet, wo jene vorher
in anderm Zusammenhang behandelten Stimmnuancierungen frei-
lich auch mehr psychologisch angedeutet als durch die Vorschrift
eines besonderen Tons verlangt werden. Im übrigen aber macht
der mittelalterliche Regisseur als Anordner der Gebärden- und Ton-
sprache seines Personals von allen Vorschriften der Evangelien Ge-
brauch und kommt anderseits mit ihnen aus. Nicht in dem Sinne
jedoch, daß die szenischen Bemerkungen eine sklavische Anlehnung
an die epischen Vorlagen darstellten. Man muß vielmehr offenbar
scheiden zwischen labilen und stabilen Gesten. Jene: die minder
prägnanten, minder bezeichnenden, auch wohl häufiger erscheinen-
den Ausdrucksformen, wie eben das Lautsprechen, das Weinen, das
Hinweisen, das Niederknien usw., haften nicht fest an den Stellen,
an denen die Evangelien sie hervortreten lassen : sie können ge-
Herrmann, Theater. ^2
j^78 Mittelalterliches Theater: labile und stabile Gesten.
rade an diesen Stellen fehlen, dagegen an andern erscheinen, an
denen die kanonischen Vorlagen keine Angaben machen ; und in
bezug auf diese labilen Gesten ist die Übereinstimmung zwischen
den einzelnen Dramentexten gering. Um so größer ist sie in bezug
auf die stabilen Gesten — in einer kleinen Anzahl besonders
eigentümlicher oder besonders betonter Körperbewegungen in be-
sonders prägnanten Szenen stimmen die Dramen nahezu ausnahms-
los überein. Außer der wenigstens sehr häufig gegebenen Szene
(Joh. 8, 6), da Christus während der Darstellung der Ehebrecherin
sich neigt und mit dem Finger auf die Erde schreibt, sind es be-
sonders : Christi Niederknien in brünstigem Gebet auf dem Ölberg,
das Zurückfallen der Juden bei Jesu machtvollem Wort Ich bin's,
der Judaskuß, des Hohepriesters Kleidzerreißung bei den vermeint-
lichen Lästerworten des Herrn, Christi Umsehen nach dem ihn ver-
leugnenden Jünger und Petri bittere Reuetränen. Hier wird auf
den mittelalterlichen Bühnen aus der theatralischen Not eine drama-
tische Tugend gemacht : bei dem Mangel an individuellen, eigen-
artigen, prägnanten Gesten werden die wenigen vorhandenen
bereitwillig benutzt, um dem Zuschauer, der bei der ganzen Art
der mittelalterlichen Marktplatzbühne mehr aufs Sehen als aufs
Hören angewiesen ist, den seelisch-dramatischen Sinn wenigstens
einiger wichtigster Szenen, richtiger einer zusammenhängenden
Szenenfolge : der eigentlichen Peripetie in Christi Leben zum Be-
wußtsein zu bringen.
Wir fragen nach dem Grunde solcher starren Gleichförmigkeit,
Unfreiheit und nur in jenem einen Szenenkomplex aufgegebenen Dürf-
tigkeit des seelischen Ausdrucks. Unmöglich dürfen wir annehmen,
daß die Deutschen des Mittelalters keine eigentliche Gestikulation,
kein Mienenspiel, keine Stimmdifferenzierungen besessen hätten —
das Gegenteil braucht nicht erst bewiesen zu werden. Wohl aber
könnte man zunächst auf die Vermutung kommen, daß den mittel-
alterlichen Menschen der Blick für die Beobachtung solcher Lebens-
äußerungen gefehlt habe und daß von hier aus jene Gleichförmig-
keit, Unfreiheit und Dürftigkeit der Schauspielkunst zu begreifen
sei. So schlagen wir zum Vergleich die großen epischen Dich-
tungen des deutschen Mittelalters auf und fragen danach, wie
sich ihre Verfasser hinsichtlich der Darstellung des Seelischen durch
das Körperliche verhalten.
Die Gesten des weltlichen Epos in Deutschland i).
Und da sehen wir nun : eine ganz kleine Rolle spielen die Aus-
drucksbewegungen für Seelenvorgänge in der weltlichen Verserzählung
1) Die Lösung dieser Aufgabt; ist, soweit ich sehen kann, bisher noch nirgends im Zu-
sammenhang für die deutsche Literatur oder einen ihrer Zweige in Angriff genonnnen.
Auch für die französische Dichtung nicht, denn die neue, während der Vollendung der
Die Gesten des weltlichen Epos in Deutschland. 179
des deutschen Mittelalters nicht, mag auch — je später je mehr —
ihre Zahl verglichen mit den ungeheuren Versmassen nur gering
erscheinen. In der ritterlichen Epik bildet der körperliche Ausdruck
seelischer Hergänge eine bald mehr bald weniger reich instrumen-
tierte Begleitung des ganzen dargestellten Lebens. Etwas anders
steht es offenbar von Haus aus mit der Epik, die noch mit alter
Heldendichtung zusammenhängt. Hier möchte man noch zuweilen,
eingedenk der sparsamen und eindrucksvollen Verwendung, die die
oben gegebenen Auseinandersetzungen gedruckte Arbeit von Lommatzsch „System der
Gebärden, dargestellt auf Grund der mittelalterlichen Literatur Frankreichs" (bisher ist
nur der erste Teil als Berliner Disseration 1910 erschienen) unternimmt jenen Versuch
keineswegs, sondern stellt sich die andersartige, weit umfassendere Aufgabe, die wirk-
liche Gebärdensprache des Mittelalters zu ermitteln. Diese Aufgabe ist vielleicht über-
haupt imlösbar, und jedenfalls kann das Ziel auf dem von Lommatzsch eingeschlagenen
Wege trotz alles aufgebotenen Fleißes und Scharfsinnes nicht erreicht werden. Der in
den verschiedenen Abschnitten unseres Kapitels gegebene Versuch, in bezug auf einen
nicht unwichtigen Punkt vergleichende Künstegeschichte zu treiben, sucht, abgesehen von
seiner besonderen theatergeschichtlichen Aufgabe, dies deutlich zu machen: es geht
nicht an, in der Art der L. sehen Untersuchung das Material aus den verschiedenen
Jahrhunderten zu mischen, Beobachtungen aus der Sphäre der französischen Literatur
durch Hinweise auf ähnliche Einzelzüge in deutschen und italienischen Dichtungen zu
stützen. Geistliches und Weltliches durcheinander zu beobachten, Gesten der Lyrik, der
Epik, der bildenden Künste, des Theaters ohne Rücksicht auf ihre besonderen künst-
lerischen Daseinsbedingungen nebeneinander zu stellen. Die Grundlage für die Ermitt-
lung der wirklichen Gesten einer Periode wird nur eine chronologisch geordnete Sammlung
von Gebärdenanführungen aus zeitgenössischen Werken sein können, die völlig außerhalb
der künstlerischen, ja womöglich irgend welcher schriftstellerischen Tradition stehen. Erst
zur Ergänzung dieses gewiß sehr kärglichen Materials dürften dann auch die Gebärden
aus der Kunstsphäre dienen, soweit sie unter Berücksichtigung aller durch die Eigenheit
des jeweiligen Kunstzweiges und seiner Entwicklung gegebenen Gebundenheit als Er-
gebnisse lebendiger Gegenwartsbeobachtungen betrachtet werden können. An den gleichen
methodischen Grundgebrechen wie die L.sche Arbeit leidet die einzige Vorgängerin, die
sie gehabt hat: C. Sittls Buch „Die Gebärden der Griechen und Römer" (Leipzig 1890),
das sich die Aufgabe stellt, die tatsächliche Gestik des Altertums besonders durch eine
auf jede Scheidung verzichtende Behandlung des aus den verschiedenartigsten Werken
geholten Materials lebendig zu machen. Einem entsprechenden Ziel für das germa-
nische Mittelalter streben die oben gegebenen Auseinandersetzungen in keiner Weise
zu; sie bleiben durchaus in der Sphäre der Kunst; hier aber bemühen sie sich um jene
reinliche Scheidung, so daß z. B. in dem zunächst gebotenen Abschnitt über die Gestik
der weltlichen Erzählung des deutschen Mittelalters jeder Versuchung aus dem Wege
gegangen ist, auch nur die Gebärden der mhd. Lyrik mit einzubeziehen. — Es darf
hier ferner- wohl betont werden, daß der Zweck der Darstellung nur der ist, die Ent-
wicklung des Gebärdenlebens zu zeigen, so wie es in der mhd. Epik in die Er-
scheinung tritt, unter Verzicht darauf, die nicht ganz unterlassenen Bemühungen
um Erkenntnis des Verhältnisses einiger Dichter zur Gestik ihrer Vorlage bis zu einer
wirklich systematischen Beräcksichtigung der Quellenfrage auszudehnen. Unser Material
ist natürlich nicht absolut vollständig, aber der größte TeU der leicht zugänglichen Texte
ist, zumal für die ältere Zeit, in bezug auf die Gestik durchgearbeitet. Einige Angaben
über die Gesten des Zeremonialgebietes bei Alwin Schulz: „Das höfische Leben zur
Zeit der Minnesinger" I, S. 425, 460, 521, 578, 638; gelegentliche Bemerkungen auch
sonst in Einleitungen und andern Einzelarbeiten.
12*
;[§Q Die Gesten der weltlichen Epos in Deutsehland.
Gebärde in Gipfelmomenten des alten Heldenliedes findet, so etwas
wie eine Tendenz erkennen, die Geste in großen entscheidenden
Situationen eher als sonst erscheinen zu lassen. Aber der spiel-
männisch-epische Stil und späterhin der Einfluß des höfischen
Erzählertons verwischen diesen Unterschied sehr bald. Es bildet
sich nun innerhalb der epischen Tradition allmählich eine feste
Typik des Seelenausdrucks. Diese umfaßt vor allem das große
Gebiet der zeremoniellen Bewegung: Gruß, Bewillkommnung,
Abschied, Ehrerbietung, Höflichkeit, gesellschaftliche Liebenswürdig-
keit, Galanterie, — alles was zum äußeren Bilde des höfischen
Lebens gehört, hat seinen bestimmten körperlichen Ausdruck.
Typisch sind von Anfang an auch die Gebärden gottesdiensthchen
Charakters und ebenso die, die zur Sphäre des Rechtslebens ge-
hören und nicht mehr unmittelbaren Seelenausdruck bieten: z. B. Ge-
bärden des Versprechens, der Sühne, des Eides ; ähnlich fest ge-
ordnet die Gebärden ritterlicher Kampfsitte. Beinahe formelhaft
in diesem Sinn ist auch eine Gebärde, die in der Darstellung großer
Erregung als Geste der Fürbitte und des Dankes (besonders etwa
für Rettung aus Lebensgefahr) immer wiederkehrt : das ze viioze
valn, sich ze viiozen bieten^ das freilich auch als Zeichen der Unter-
werfung vorhanden ist i).
Aber auch für eine Reihe von Gesten des unmittelbaren Seelen-
ausdrucks hat sich in der epischen Tradition ein Bestand ausgebildet.
Freude, Schmerz, Trauer (eine besondere Rolle spielt hier der Ge-
bärdenausdruck der Totenklage), Spott, Mitleid, Staunen, Neugier,
Zorn, Angst, Sehnsucht, Begehren, Liebe u. a. haben immer wieder-
kehrende Gesten zu Begleitern. Man kann wohl sagen : die Ge-
bärdensprache der Epik als Ganzes genommen hat eine Neigung
zum Typischen, so wenig man wird behaupten dürfen, daß eine
so vielseitig ausgebildete, durch so lange Zeit sich erstreckende,
von so verschiedenen Individualitäten und Schulen gehandhabte
Kunst in einem ihrer Ausdrucksmittel sich völlig im Typischen er-
schöpfe ; jedenfalls ist der Zug zum Typisieren in seiner Gesamt-
heit stärker als alle individualisierenden Regungen. Und unserer
Betrachtung muß es notwendigerweise mehr darauf ankommen, das
Bild dieses typischen Bestandes und seiner Entwicklung in den
Hauptzügen zu erkennen als daran, dem Individuellen nachzuspüren,
1) In der späteren höfischen Epik knüpfen die Dichter hieran gern ein Motiv, das
die hövescheit des Helden ins Licht setzt : eine Frau will so dem Ritter danken, wird aber
von ihm daran gehindert. Wie sehr diese Gebärde eben als t\n)ische Bittgeste empfunden
wird, mag eine Stelle aus dem Iwein dartun (beim Wiedersehen zwischen Iwein und
Laudine, v. 8041 ff.) :
vnd In dem ersten f/riioze
viel er ir ze vuoze
und e n h e t e doch de he i ne bete.
Der Gebärdenstil der vorritterlichen welllichen Erzählung. löl
das neben dem Typischen und zwar besonders in bedeutenden und
selbständigen Werken vorhanden ist.
Wir müssen versuchen, das Material in zeitlicher Folge zu
überblicken. Die vorhöfische Epik gibt ein anderes Bild als die
Epik der klassischen Zeit und die von ihren Werken abhängige
ritterliche Epigonendichtung. Diespielmännische Erzählung wiederum
ist auch was die Gestik anlangt von der ritterlichen in gewisser
Hinsicht zu trennen und bietet auch ihrerseits im 12. Jahrhundert
ein etwas anderes Bild als nach ihrer Beeinflussung durch das
ritterliche Epos. Nach der Zeichnung dieses Bildes sollen das späteste
Nachleben der ritterlichen Erzählung in den Prosaauflösungen des
15. Jahrhunderts und die im Äußerlichen noch so vielfach von der
höfischen Motiv- und Formtradition abhängige allegorische Epik
hinsichtlich ihrer Gebärdensprache herangezogen werden , und den
Schluß macht die neue bürgerliche Verserzählung, die sich an das
städtische Publikum wendet und auf den tieferen geistigen Zu-
sammenhang mit der Tradition des ritterlichen Epos im allgemeinen
ganz verzichtet.
Den Gebärdenstil der vorritterlichen weltlichen Erzählung als
Einheit zusammenzufassen, läßt sich nur rechtfertigen, wenn man
ihn gegen den Stil des ritterlichen Epos der klassischen Jahrzehnte
halten will. Wohl erscheint auch sonst allerlei den verschiedenen
Denkmälern Gemeinsames, das die spielmännische Erzählweise, die
geistliche Haltung oder die mehr chronistenmäßige Tendenz jedes-
mal in die Gebärdenschilderung hineinbringen. Von der vereinheit-
hchenden Gewalt des ritterlich-höfischen Ideals ist aber nicht die
Rede. Man kann das Rolandslied mit seiner vielfältigen Geberdung '),
in der die hie und da noch gesteigerte Lebhaftigkeit altfranzösischer
Heldendichtung mit dem stark aufgetragenen geistlichen Element der
Bearbeitung sich mischt, wohl scheiden von dem gebärdenarmen
xVlexanderlied ; der Rother steht in der Mitte, was die Anzahl der
Gebärden betrifft, er betont einzelne bedeutende Szenen durch ein-
prägsame Gebärden und zeigt im übrigen neben einem etwas
1) Viele Beispiele für das vorhandene Streben nach lebhaftem, eindringlichem, detail-
iertem Ausdruck der Affekte ließen sich anführen. Wie individuell etwa geben sich Rolands
zorniger Schmerz um Olivier imd Geneluns Wut und Angst bei der Entsendung ; besonders
gebärden sich die Heidenfürsten in Freude und Angst fast grotesk lebendig, so Blanscandiz
in der Stimmung befriedigter Rache (v. 1898 ff.) und Marsilie (v. 2052 ff.):
Marsilies al umbe warte.
er erbleih te harte.
er wan manegen angestlichen geihanc.
er gesaz käme üf thie banc.
ime wart kalt iinde heiz,
harte miiote in ther sweiz.
thaz hoiibet wegete er.
er spranc hine unde here.
^g2 t)ei' Gebärdenstil der vorritterlichen weltliclien Erzählung.
stärkeren Anteil an der Zeremonialgebärde Gesten, die die ein-
fachen, in den Brautwerbungsgedichten spielmännischen Charakters
typischen Seelenregungen begleiten i). Sieht man von solchen und
ähnlichen Unterschieden aber ab, so läßt sich behaupten : trotz der
verschiedenen Gesamthaltung ist ein nicht kleiner Teil des Gesten-
bestandes, mit dem später das klassische Epos schaltet, in der vor-
ritterlichen Dichtung schon vorhanden.
Eine besondere Rolle spielen von Anfang an die Totenklagen,
und sie sollen deshalb — während wir sonst von der Art der Ge-
bärden, nicht von der Gelegenheit ihrer Anwendung ausgehen —
mit ahen in ihnen gebräuchlichen Gesten eine gesonderte Behand-
lung finden. In diesen Szenen entwickeln sich die Schmerzgebärden,
an sie bleiben sie in ihrer energischen Entfaltung bis zu einem ge-
wissen Grad gebunden. Gebräuchlich sind heftiges Weinen und
lautes Klagen und Schreien : michel imiofen — weinen iinde
niofen. Man windet die Hände, schlägt die Hände zusammen,
schlägt die Brust, rauft das Haar und den Bart, wirft sich
bei der Leiche zur Erde oder über den Toten und liebkost ihn.
Beim Tode des edeln Gefährten geziemt auch den fürstlichen
Recken der laute, heftige Jammer, so wenig wehleidig sie im
ganzen sind. Neben den Totenklagen kommen für die lauten, ent-
schiedenen Ausbrüche der Trauer in zweiter Reihe die Abschieds-
szenen in Betracht. Die Mannen Geneluns (um aus dem Rolandslied
nur eine Stelle anzuführen, die alle Register zieht) gebaren sich
beim Abschied ähnlich wie bei der Totenklage : sie vielen zuo there
eithen, thaz här brächen sie üz there swarte, sie imioften alle harte
(v. 1733 ff.).
Aber auch sonst fehlt es nicht an heftigem Ausdruck des Affekts.
Mit weinin iinde hantslagin begleiten die Frauen im Rother die
Entführung der Königstochter ; ausführlich zählt das Alexanderlied
das Weinen und Klagen der Perser bei der Nachricht von der
Niederlage auf. Das Gefolge und das Volk sind im allgemeinen
viel klagereicher als der Fürst, der, wie König Rother, sogar in der
Sorge um seine Dienstmannen durch stumme Gehaltenheit charak-
terisiert wird ; aber bei großer Gelegenheit, vor allem eben in der
Sorge um die Getreuen, darf auch er fassungslos sein, so wie Ro-
land mitten in der Schlacht, wenn auch die Stärke der Klage immer
nur die Kraft der Rache verkündet. König Constantin, der freilich
nicht gerade auf besondere Würde Anspruch hat, weint beim Ver-
lust der Tochter und fällt in lange dauernde Ohnmacht ; aber auch
König Karl sitzt in der Sorge, die dem rfche geziemt, in der typi-
1) Oswald und Grendel, die bei größerer Neigung zur Formel und kunstloseren Er-
zählung dem Rothertypus nahestehen, wurden verglichen, aber wegen der schwierigen
Überlieferungsverhältnisse zu Beispielen nicht herangezogen. In den Teilen geistlichen
Charakters hat auch in diesen Gedichten die Gebärde den Typus der geistlichen Poesie.
Der Gebänlenslil der vorritterlichen weltlichen Erzählung. |83
sehen Position des Sinnenden und Sorgenvollen : eine üf eineme
marmelsteine, er thähte in manigem ende, zesamene sluoc er thie hende.
Er, der bei anderer Gelegenheit als der Beherrschte charakterisiert
wird '), benimmt sich in der Sorge um Roland und die Paladine
unbändig (v. 6075 ff.) und muß sich von Genelun zurechtweisen lassen
(thise ungebäre gezimet niht theme riche). Bei der Kunde von
Rolands Tod weint er Blut. Darius wirft sich in der Verzweiflung
klagend üf sinen estrich : diese ältere Gebärde, die auch Angst kund
tun kann, ist in der früheren Dichtung neben dem passiven Hin-
sinken in die Ohnmacht häufiger als in der späteren. Die heftigen
Bewegungen des ganzen Körpers begleiten nicht nur Schmerz und
Angst, sondern auch Zorn, Freude, Erregung : man springt vom
Sitz auf, dringt lebhaft vorwärts, bewegt sich in Unruhe. Die Mannen
König Rothers überspringen in der Wiedersehensfreude die Bänke
(wohl ein alter Sagenzug), heftig erschrocken zuckt die Königs-
tochter ihren Fuß von den Knien des Königs. Das Aufstehen
ist wohl auch schon zeremonielle Gebärde (der Redende in der
Versammlung erhebt sich, der Wirt ehrt nicht nur durch Auf-
stehen, sondern auch durch Entgegengehen die Gäste), aber stärker
ist doch der emotionelle Charakter. Häufig läßt der Freudige sein
Roß in Sprüngen gehen, wobei die Reimformeln wie springen:
singen verstärkend mitwirken.
Niederknien ist gebräuchlich als Bitt- und Betgebärde, wo
nicht, wie sehr häufig, als stärkste Geste des Gebets das Zuboden-
fallen oder im christlichen Ritus das in criuzestal valn erfolgt, —
namentlich im Rolandslied wird in jeder Lebenssituation auf den
Knien und unter Tränen gebetet; aber auch vor dem Fürsten kniet
der fremde Gast, der ein Anliegen hat, kniet der Bote. Nicht immer:
das nigen ist bereits für solche Fälle, auch als Dankgeste im Ge-
brauch, hat aber die stärkere Gruß- und Ehrfurchtsgebärde noch
bei weitem nicht so verdrängt wie in der klassischen Ritterdichtung,
da der König primus inter pares ist. Dasitzen ist und bleibt Pose
des Sinnens, Nachdenkens und besonders der Trauer; häufig aber
(noch häufiger als später) begegnet auch das nidersitzen in Schmerz
und Unmut als heftige momentane Geste. Sich-Umwenden ist Gebärde
des Unmuts, des Ärgers; zum Zeichen der Verachtung wirft man
Dinge auf den Boden und tritt auf sie. In der Wut stampft Riese
Asprian die Füße tief in den Boden, Riese Widolt beißt in die
Stange — das sind freilich vereinzelte Züge.
1) Getruobet was thaz sin gemuote: iethoh vertniocjen iz sine michele guote, thazersih
niht erzeigete. thaz houbet er nither neigete (v. 1049 ff.). Das hier und sonst öfter in
der Dichtung des 12. Jahrhunderts gezeichnete Sitzen mit geneigtem Haupt deutet nicht
nur die Selbstbeherrschung, sondern auch das Sinnen vor dem Entschluß an; vgl. auch
Lommatzsch S. 51 ff. Nach gefaßtem Entschluß wird dann das Haupt aufgerichtet.
;[§4 Der Gebärdenstil der vorritterlichen weltlichen Erzählung.
Händewinden und Handschlagen erwähnten wir als Schmerz-
gebärde. Das Umarmen, meist mit dem Kuß zugleich genannt,
hat vielfache Bedeutung, aber noch keineswegs so oft die erotische
wie in der Dichtung, die unter dem Zeichen des Minnedienstes
steht, oder die zeremonielle, die dann die Schilderung der höfischen
Kultur fordern wird. Mit armen umbesUezen, umbesweifen,
iimbevän, ziio sich gevän und kiizzen sind öfter Gesten der Huld
(der Fürst küßt den Vasallen bei der Belehnung), der Versöhnung,
des Bündnisses, des Dankes, der Wiedersehensfreude, des Abschieds-
schmerzes.
Neben den starken und gleichsam weithin sichtbaren Gebärden
des ganzen Körpers und seiner Glieder bedeuten die leiseren Be-
wegungen: das Hauptneigen z. B. und die stille Handgeste noch
nicht annähernd so viel wie später. Die Hand, die eine andere
ergreift oder sich ausstreckt, bietet Frieden, Schutz, Bündnis, Freund-
schaft, Geleit, wohl auch Verzeihung; aber weder als Mittel des
Verkehrs zwischen Liebenden und Freunden noch als Trägerin
rein gesellschaftlicher Gebärde hat sie schon die Wichtigkeit wie
in der späteren Zeit. Die Hand hebt sich im Gelöbnis, eine Hand
oder auch beide strecken sich in der Orantengeste zu Gott; selten
ist das Händefalten oder gar das klagende Aufrecken der Hände.
Das sich segnen mit dem Kreuzeszeichen kommt als religiöse Ge-
bärde vor, noch nicht als Geste des Schreckens nnd der Verwun-
derung.
Neben dem starken motorischen steht der lebhafte akustische
Ausdruck; nicht allein beim typischen Klagegeschrei, auch sonst
spannt sich in Schmerz und Angst die Stimme mächtig an; der gewal-
tige Klang- solcher Klagerufe wird gern durch den Hinweis auf ihre
Kraft in die Ferne zu dringen und ähnliche stehende Wendungen her-
vorgehoben. Charakteristische Zornlaute sind : grimmen als daz mere
(Alexander), bremin alse ein bere (Rother). Die Verwandlung der
Stimme im Affekt wird erwähnt: Furcht ist in der Stimme. Das
Lachen begleitet Freude und Spott'); das Seufzen tritt noch ganz
zurück.
Bei weitem noch nicht das Gleiche wie in der höfischen Epik
bedeutet das Mienenspiel; es ist einfach und typisch. Die Mimik
der ganzen deutschen Epik des Mittelalters verteilt sich beinahe
vollständig auf die Rubriken: Farbewechsel, Lächeln, Weinen,
Bhck. Aber gerade in der Art, wie diese Mienen für die einzelnen
psychischen Vorgänge verwendet werden, liegt die Kunst der spä-
teren Epik, die es mit dem Minnesang gemein hat, allen zarten Seelen-
1) Ob hörbares oder sichtbares Lachen gemeint ist, läßt sicii oft so wenig fest-
stellen, wie ob es sich bei dem scre, (jrnzltclie, heize iveiiieit um Schluchzen oder Tränen
handelt.
Der Gebärdenstil der vorritterlicheii und der klassischen Epik. 180
regungen grüblerisch nachzuspüren. Wie die zeremoniellen Gesten
sind auch die Vorgänge im Gesicht schon vorher gekennzeichnet,
aber ebenfalls nur keimhaft und in begrenzter Anwendung. Man
wird rot oder auch rot und blaß in der Scham. Man erbleicht in
Kummer und Angst; selten ist das Erbleichen und Erröten im Zorn.
Von dem Farbewechsel als Symptom der Liebe ist erst an der
Grenze der höfischen Epik die Rede. Das Lächeln, smielen, er-
smielen, bezeichnet Spott, listige Gesinnung, auch gütige Freund-
lichkeit. Der Blick zum Himmel bedeutet Andacht, das Niederblicken
Sinnen vor dem Entschluß, Sichabschließen von der Umw^elt, auch
Trauer. Auf- und Umblick begleiten Entschluß, Schreck und Angst,
gegenseitiges Ansehen weist auf Verlegenheit, Scheidenden sieht
man traurig nach. Man blickt zornec, trürec; vreissam sind die
Blicke der Kämpfenden. Der Wutblick gleicht dem des Wolfes,
dem Wütenden viiiren die Augen. Der Blick also bedeutet Ver-
sonnenheit, Verwegenheit, Trauer, Kampfzorn, Wut, Entschlossen-
heit, Furcht, Andacht.
Das Weinen, dieses so wichtige Ausdrucksmittel aller mittel-
alterlichen Epik, hat zw^ar aus verschiedenen Gründen mehr
Spielraum als später in der durch gesellschaftliche Kultur gekenn-
zeichneten Welt, hat aber doch sein volles Herrschaftsgebiet noch
nicht durchmessen: es begleitet Schmerz, Trauer, Angst, Andacht,
Rührung, Mitgefühl, aber noch selten Zorn, Freude, Zärtlichkeit,
Scham und Sehnsucht,
Die klassische Epik, von der wir nun zu reden haben, schafft
nicht etwa einen völlig neuen Gebärdenschatz. Es handelt sich,
sieht man auf das Einzelne, nur um Bereicherungen, Modifikationen,
neue verfeinerte Verwendungen des schon Bekannten. Aber w'as
den großen Unterschied ausmacht, lehrt wieder nur ein Blick auf
das Ganze der Mimik und Gestik. Sie sind, soweit sie nicht als
Einzelausdruck erscheinen, sondern in ihrer Gesamtheit ein Stück
menschlicher Haltung darstellen, in dieser formgesinnten Welt
durchaus symbohvertig: in ihnen besonders haben wir das Symptom
dafür, daß eine Standesdichtung die Erhöhung ihres Wesens, ihr
Wunschbild poetisch zu gestalten sucht und die Menschen sich
gebärden läßt als man sol. Die Grenzen zwischen den Gebärden
und Mienen, die einen momentanen Gefühlsausdruck bieten, und
denen, die vorschriftsmäßige Haltung darstellen, verfließt vielfach '),
und die Leichtigkeit, mit der eines ins andere übergeht, ist gerade
der Ausdruck flu* die innere Stilsicherheit der dargestellten Welt.
Ein Zug zum Gewählten und Gleichmäßigen ist in dieser Gestik;
1) über den didaktischen Wert, den in solchem Sinne die Gebärde der klassischen
Dichtung, besonders auch für die Epigonen hat, vgl. J. Petersen, Das Rittertum in der
Darstelhmg des Johannes Rothe. Straßburg 1909. S. l-44f.
;[gg Der Gebärdenstil der klassischen Epik.
das Prinzip der Exklusivität, auf dem der Stil der Dichtung ruht,
ist auch das Charakteristikum ihrer Gebärdensprache. In dieselbe
Richtung wie dieses kulturell-ästhetische wirkt auch ein rein lite-
rarisches Element: die relative Gleichmäßigkeit der immer wieder
vorkommenden Situationen.
Heinrich von Veldeke steht, trotz der großen Symptomschilde-
rung der erotischen Bewegtheit in seiner Gestik hie und da noch
der unkomphziert-deutlichen Art älterer Epik näher, wenngleich
er an seinem etwas jüngeren Zeitgenossen Eilhart gemessen in der-
selben Hinsicht als ein Moderner erscheint. Eilhart bezeichnet so
recht den Übergang gerade in bezug auf die Hauptpunkte : zeremoni-
nielle Geste, Mienenspiel, unwillkürlichen Ausdruck. Das Alte ist bei
ihm neben den neuen Tendenzen noch fühlbar i). Hartmann ist im
sicheren Besitz der neuen Gebärdentypik, nicht gerade um ein
individuelles Sehen bemüht. Gottfried aber läßt alles seelisch Be-
sondere und Feine seiner Menschen sich im zart beobachteten Aus-
druck einer veredelten Körperlichkeit widerspiegeln, beinahe so
sicher wie die Gesellschaftssprache seiner Menschen allen Biegungen
ihrer Seelen nachzukommen vermag. Wolfram wiederum frappiert
an manchen Stellen durch die mimische Einfühlung, mit der er
eine bekannte Gebärde aus dem lebendigsten Körpergefühl vor uns
neu erstehen läßf-^). Und es fehlt bei allen großen Epikern nicht
an einzelnen Gesten, die aus dem Rahmen des Typischen heraus-
fallen; zu einer die Personen unterscheidenden Charakteristik
durch Gebärden kommt es aber nicht. Auch das Originelle in
den bekannten Situationen bleibt doch innerhalb der Wesens-
äußerung, die dem Ritterlichen gemäß ist.
Und das gilt nicht nur für die Dichter, die die neue Lebens-
haltung vor allem als ästhetischen Wert, nach der Schönheit ihrer
Form erlebt haben. Auch derjenige, der sie zuerst in ihrer Kraft, dem
1) Eine Angabe wie die etwas groteske über die Blässe des Kehenis (v. 6799 ff.) mag
als Beispiel dienen.
2) Die Unruhe des Sehnsüchtigen auf dem nächtlichen Lager gab auch schon Vel-
deke. Wolfram läßt Gahmuret sich in der Nacht im Begehr nach strit und miiine um-
herwerfen (35, 23 ff.):
er want sich dicke als ein wit,
daz im kmcheten diu lit,
strit und minne was sin ger;
die Begierde dehnt dem Recken die Brust, so diu senewe tuot daz annbrust. Ähnliches
auch bei Gawan: v. 587, 23 f.; vgl. auch 118, 17. Eine ganz originelle unwillkürliche
Bewegung hat Gahmuret beim Anblick Herzeloydes, der übermütig das Bein auf den Hals
des Pferdes gelegt (s. Lommatzsch a. a. 0. S. 37) einherreitet (64, 4 ff) :
vom dem liehten schine,
der von der künef/in erschein,
zucte inj neben sich sin bein:
(if rillte sich der degen wert
als ein vederspil, daz gert.
Der Gebärdenstil der klassischen Epi4\. ^^^7
Dasein Form zu geben, erlebt, als die Macht, das Leben heroisch-
selbsttätig zu gestalten: gerade Wolfram weiß ganz sicher, daß nur
die angeborene edle „Art" und die Zugehörigkeit zu einer in sich
gebundenen Gesamtheit es ermöglichen, solche Forderungen an den
Menschen zu stellen. Darauf beruht trotz aller freien Kritik der
Konvention auch sein Individualismus, der die große Persönlichkeit
alles selbständig durchkämpfen läßt: ein Individuelles der Erhöhung,
nicht des Andersseins. Und auch innerhalb des ritterlich-klassischen
Gebärdenspiels zeigt sich dies: selbst da wo die Gebärde und
Haltung den besonderen Menschen oder die Kraft seiner Leiden-
schaften hervorheben sollen, erhöhen sie mehr als daß sie ab-
sondern.
Wie das Streben nach Gleichmaß '), Schönheit und Idealität
gerade den leiblichen Ausdruck in dieser Dichtung einer Kultur
dämpft, die auf dem leiblichen Menschen beruht, ist besonders
an einzelnen Symptonen schon öfter bemerkt worden. Man
hat beobachtet, daß lautes Schreien und Weinen den Haupt-
helden nicht anständig, bei körperlichem Schmerz völlig verpönt
ist, daß Hartmann hierin besonders streng verfährt, daß er (im
Gregor) das Weinen als iinmanlich bezeichnen läßt. Die Stellen,
die vom brechen der zuht reden, wenn Mann oder Weib sich hef-
tige Gebärden gestatten, sind bekannt; Weinen vor Angst um ein
ohnmächtiges Gefühl des Gekränktseins wird öfters als Sache der
Frauen und Kinder bezeichnet, die sich nicht anders zu wehren
verstünden. Der jugendliche Held darf sich gehen lassen: der
Knabe Tristan weint in Angst, der junge Parzival weint, als ihm
der Vogelsang ein unerklärliches Weh erweckt, er w^eint und rauft
das Haar, da er die Vöglein getötet hat — der Erwachsene hört
stumm und ohne Klage die Botschaft an, die ihn von Gott
und Glück scheidet. Die Empfindung, daß der Mensch, der
innere Zucht hat, seinen Schmerz nicht öffentlich werden läßt,
ergibt das wirksame Motiv, daß die Tränen, wenn sie dann
doch im tiefsten Schmerz hervordringen, nach schamelicher siie
verhehlt oder auch wohl bekämpft werden.
1) Wolfi-am allerdings überschreitet dieses Gleichmaß bei allen möglichen Gelegen-
heiten, wo eine dichterische Absicht es fordert, ohne Rücksicht auf den Schönheitskanon
seiner Zeit. Wohl das auffallendste Beispiel ist das Gebahren der schwangeren Herze-
loyde: sie umarmt ihren Leib, der Gahmurets Kind trägt, kül3t ihre Brüste, die es nähren
sollen; aber auch sonst wird der leidenschaftlichen Innerlichkeit zuliet)e die Wohl-
gefälligkeit der Erscheinung hintangesetzt: die traumgeängstigte Herzeloyde mufJ zabeln
linde wiiofen ; der erzürnte Parsival ballt seine Faust :
daz daz bluot uzen nagelen schöz
und im den ermel begdz;
im Leid werden einmal die Hände so gewunden:
daz sie begunden krachen
als die dürren spachen.
jgg Der Gebärdenstil der klassischen Epik.
Indessen, starre Regel ist die Beherrschung keineswegs ; unbe-
fangen wird sie durchbrochen, wo immer andere Motive dem Dichter
wichtiger sind : etwa der Wunsch, die Liebe zum Fürsten und
Herrn siclitbar hervortreten zu lassen. In Tränen freuen sich
die Knappen Gahmurets, den verloren geglaubten Herrn wieder-
zufinden, und er küßt sie, wie Rother und Wolfdietrich ihre
Getreuen, weinend beklagen die Freunde den siechen Tristan, Marke
und sein Hof den toten Riwalin. Auf der Gralsburg tönt die
laute Klage von Herren und Frauen ; die Knappen der Amphlise
sind im Zorne von weinen vil nach blint und so fort. Die
Freunde, das Gefolge und, wo es vorkommt, das Volk sind auch
hier wieder klage- und tränenreicher als der Herr. Typisch sind
die Abschiedsszenen mit Weinen, Umarmen, Segnen — freilich ist
das Weinen und Schluchzen weitaus am häufigsten bei den Frauen,
aber auch ein Trevizent hat Tränen in beiden Augen in dem Ge-
danken an Amfortas' Leid, Erec weint beim Anblick des Jammers
der Frau, deren Mann er von dem Riesen befreit, Willehalm weint
um die gefallenen magen und mannen. So sehr die Fähigkeit,
den Schmerz zu beherrschen, zum Begriff der manheit gehört, so
sehr ist mit dem ritterhchen Begriff der wipheit die bewegliche,
dem Ansturm der Gefühle in den Grenzen der Anmut nachgebende
Haltung verbunden. Für das Weinen gibt es zwar überhaupt eine
Fülle von typischen Wendungen, und die Metaphern für die Träne
(ougen regen, herzen saf usw.j beweisen das besondere Interesse
für dies Ausdrucksmittel, aber vor allem scheint doch die leise
weinende Frau ein lieblicher Anblick : die Dichter lieben es be-
sonders zu zeigen, wie in lichten Frauenaugen langsam die Tränen
aufsteigen, wie sie dann über die Wangen rollen auf die Hände
und auf den Busen, auf das Gewand fallen; ähnliche Beschreibungen
finden sich, wenn auch seltener, für das Weinen der Männer, Daß
die Tränen jetzt eine weit vielfältigere, differenziertere Bedeutung
haben, dafür sorgt die neue Rolle der Frau in der Dichtung; es
zeigt sich aber an diesem einen Symptom überhaupt die neue
zarter schattierte Seelenverfassung der dargestellten Menschen. Das
Weinen begleitet jetzt nicht mehr nur Schmerz, Angst, Mitleid, An-
dacht, sondern häufig auch die Freude. Scham, Zärtlichkeit, Sehn-
sucht, Rührung und jede Art innerer Bewegung, zuweilen auch der
Zorn, zumal der ohnmächtige, werden durch Tränen angezeigt.
Eine besondere Stellung nimmt auch noch innerhalb des neuen
Stils die Totenklage ein. Sie steht offenbar in einer eigenen Tra-
dition. Hier scheint der Mensch sich weit unbefangener als sonst
einem Gefühlsausbruch hingeben zu dürfen. Nicht nur die Frauen
reißen Haar, Kleid und gebende, schlagen die Brust, schreien und
jammern — gelegentlich wird von auch Männern die Pflicht der
Totenklage ähnlich geübt. Leidenschaftlich wird der Tote auf
Der Gebärdenstil der klassischen Epik. ]^89
Haupt und Hand geküßt. Aeneas umklammert die Bahre des toten
Pallas und muß von ihr losgerissen werden ; Pallas' Vater beklagt
ihn mit Schreien und Brustschlagen. Bei Konrad von Würzburg
und andern zerkratzt sich der Trauernde das Gesicht ').
Auch außerhalb der Totenklage sind Gebärden des ganzen
Körpers und der Glieder als Ausdruck heftiger Erregung nicht selten.
So das Aufspringen bei Zorn, Schreck oder Freude ; auch ein Auf-
fahren vor Freude und ein Freudensprung kommen vor, aber
ganz vereinzelt. Die eigentlich typische Geste überstarken
Leidens, Entsetzens, ja überhaupt überwältigender innerer Be-
wegung (vereinzelt auch der Liebessehnsucht) ist das Inohn-
machtfallen. Die ganze Körperhaltung ist oft gefühlsbezeichnend:
so das vermezzenliche Reiten, der straffe Sitz zu Pferde für Kampf-
lust und Jugendmut; die gebeugte Haltung für Zagen und Trauer,
ebenso das langsame Gehen, während das eilige Gehen frohe Er-
regung bezeichnen kann. Die in der französischen Epik häufig
erscheinende Haltung des Reitens mit dem eiteln Blick auf die
eigenen Beine kommt im Deutschen nur ganz gelegentlich und spät
vor: im Karlmeinet. Das heftige Sichniedersetzen ist seltener als die
ruhige sinnende Trauerpose, findet sich aber doch — das unruhige
Hinundherwerfen wurde schon erwähnt ; das unruhige Hinundher-
gehen erscheint als Symptom der Sehnsucht. Das Sichumwenden be-
deutet Verachtung, Verschmähen, Unmut ; dagegen scheint es sich in
der deutschen Epik der klassischen Zeit nicht zu finden, daß jemand
in solcher Stimmung etwas zu Boden wirft und mit Füßen tritt.
Zurücktreten erscheint als Zeichen des Überraschtseins, Sichauf-
recken als Zeichen des Selbstgefühls. Das Niederknien und
das Kreuzweisliegen beim Gebet bleiben durch die ganze
Periode hindurch als bekannte Kultgesten, erscheinen aber bei
weitem nicht so häufig wie in Dichtungen geistlichen Charak-
ters. Eine Reihe von Gesten, bei denen der Körper, die Arme,
die Beine in Aktion gesetzt w^erden, haben durch die große
Bedeutung der gesellschaftlichen Sitte zugenommen. Fast jede
Begegnung zwischen Menschen gleicher gesellschaftlicher Stufe
wird durch ein nigen eröffnet und beschlossen ; es hieße den Rah-
men dieser Skizze überschreiten, wollten wir in genauem Nach-
rechnen aller Bedeutungsnuancen dieses nigens aufführen, das üb-
rigens auch den Dank und in der Wendung nigen üf den fiioz
stärkere Ehrerbietung ausdrücken kann. Das gesellschaftliche
Niederknien, durch das nigen vielfach eingeschränkt, wird ander-
seits wieder häufiger durch das zeremonielle Niederknien beim Tisch-
1) Manchmal werden einzelne dieser Gebärden auch außerhalb der eigentlichen
Totenklagen bei Verzweiflung, Zorn und Angst angewendet, aber jedenfalls weit seltener
in der klassischen Epik als in der Heldendichtung rein spielmännischen Charakters. Bei
Wolfram zerkratzt sich z. B. Kingrimursel in der Aufregung Gesicht und Kopfhaut.
^QQ Der Gebärdenstil der klassischen Epik.
dienst und in der Situation der Unterwerfung. Das Aufstellen und
Aufspringen vor Höherstehenden, besonders zu Ehren der Frauen
und zu Ehren der Gäste seitens der Wirte, ist bei allen Erzählern,
die vollendete Sitte schildern wollen, so häufig, daß diese Gebärde
gegen früher eine starke Vermehrung erfährt. Das Entgegengehen,
das umbevän, zuo sich gevän, mit armen umbesliezen gehören
ebenso obligatorisch zum Begrüßungs- und Abschiedszeremoniell.
Der Kuß, nicht nur seitens des Wirts, sondern auch seitens der
Damen des Hauses riteiiich reht Gleich- und Höherstehender, ergibt
ja öfters epische Motive. Die neue Bedeutung von Kuß und Um-
armung ist auch durch das neue Hauptmotiv der Minne und die ver-
feinernde Behandlung des gefühlsmäßigen Verhaltens garantiert.
Bei der Schilderung der Zärtlichkeit wird differenziert : nicht nur
der Mund, auch Wange, Augen und Hände werden geküßt. Der
Huldigungskuß auf den Fuß erscheint einige Male als Zeichen stärkster
Dankbarkeit. Die Eltern umarmen und küssen die Kinder, Freunde
und Geschwister einander nach langer Trennung, besonders aber bei
schmerzlichem Abschied, der Herr küßt zuweilen das ingesinde.
Neben solchen meist willkürlichen Gebärden des ganzen
Körpers und der Glieder wächst aber die leise und mehr unwillkür-
liche Geste zu starker Bedeutung und die Gebärde, die nur Kopf
und Hände in Bewegung setzt. Schon bei der Ohnmacht etwa läßt
es sich beobachten, wie der neue Stil gern stillere Gebärden aus-
bildet. Neben dem häufigen in ämaht valn, unversunnen ligen,
nidersigen usw., wo die Bewegung des ganzen Körpers vorausge-
setzt wird, stehen doch auch Beschreibungen des langsamen Ver-
lierens der Herrschaft über einzelne Glieder, des Herunterfallens
der Hände, des Hauptes etwa, wo also mehr die rührende Schwäche,
die innerliche Gewalt der Gemütsbewegung als die heftige Emotion
zum Ausdruck kommt. Auch das kraftlose Daliegen ohne völlige
Bewußtlosigkeit und gewaltsames Niederfallen werden geschildert.
Ebenso ein Ruhigwerden der Umarmung : neben dem Aneinander-
drücken der Körper, dem an sine brüst twingen wird auch das leise
Aneinanderschmiegen gezeigt. Als typisches Symptom des Liebes-
verlangens wie der Angst erscheint das Zittern : es befällt den ganzen
Körper, versetzt ihn aber eben doch nur in eine ganz leise Be-
wegung. Es paßt zum Ganzen, daß das Erbeben jetzt auch Zeichen
der Wut wird. Und besonders charakteristisch für den inneren Stil der
Gestik ist es, daß die Bewegungslosigkeit, das Erstarren im großen
Moment jetzt erst den vollen Wert erhält als Zeichen der tiefsten
inneren Ergriffenheit, für die es keine Lösung nach außen hin gibt.
Schon Eilhart kontrastiert den stummen Schmerz der blonden
Isolde mit dem lauten der Isolde Weißhand, aber erst Gottfried gibt
durch seine beredte Schilderung dem Jannner der regungslosen
Blancheflur volle Bedeutsamkeit. Bei den Epigonen klingt das dann
Der Gebärdenstil der klassischen Epik. 191
vielfach nach. Mehr als Redensart wirkt die häufige Angabe, daß
jemand vor Leid, vor Scheu, vor Verlegenheit sich nicht zu be-
nehmen wisse.
Nun die Gesten des Hauptes und der Hände. Das bloße Nei-
gen des Kopfes steht neben dem des Körpers als Gruß-, Dank-, Ab-
schiedsgebärde, ist auch, wie schon bemerkt, Gebärde des Sinnens,
der Scham, der Trauer; gelegentlich bedeutet das Senken des
Kopfes auch Ehrfurcht und Scheu. Weit wichtiger sind die Ge-
bärden der Hand. Das Aufheben der Hand im Gebet wird in der
höfischen Dichtung weniger häufig, als Gebetgeste ist das Händefalten
da. Das Vorstrecken der gefalteten Hände ist die Geste des Bittens.
Der Lehensmann legt die gefalteten Hände zwischen die des Herrn
(Tristan, Willehalm, Kudrun). Darreichung der Hand beim Ho-
magium wie bei der Versöhnung ist gleich dem Kuß offizielle
Gebärde. Einige Male bedeutet das Aufrecken der Hand den
Willen, nicht weiter zu kämpfen, oder auch ein besiegtes Heer leistet
dem Sieger manschaft mit üfgehabner hant. Ebenso ständig wie die
ehrende Umarmung ist das Fassen der Hand beim zeremoniellen
Gruß; man führt jemand bei der Hand zum Platze, Wirt und Gast
gehen Hand in Hand. Nicht minder wichtig ist das Halten der Hand
als Ausdruck der Freundschaft, des Wohlwollens, der Zärtlichkeit;
vor allem ist es die Geste der Liebenden. Das Hand in Hand
Sitzen und das Händespiel der Verliebten oder auch nur einander
Wohlgefallenden, das triiiten der Hände kennt die ritterliche wie
die höfisch beeinflußte spielmännische Dichtung ; stärker erotisch
betonte Gesten, wie das Berühren an Brust und Hüfte kommen
seltener vor, etwas häufiger begreiflicherweise in der mittelhoch-
deutschen Novelle und noch mehr dann in der Epigonendichtung,
die im Ausmalen erotischer Situationen dem Zeitgeschmack ent-
gegenkommt. Doch die Handgeberde hat noch weiteren Bedeutungs-
umfang. Die Hand wird als Ausdruck sinnender Trauer an die
Wange gelegt, unendlich viel seltener freilich als in der bildenden
Kunst. Ein paarmal kommt das Motiv vor, daß jemand versunken
in den Anblick der Geliebten, die Hände fallen läßt und zugleich
das, w^as er in ihnen hält. Faustballen als Zeichen des Zornes
(ohne daß ein Faustschlag erfolgte) ist eine seltene Gebärde. Sich Seg-
nen, sich Bekreuzigen erstarrt immer mehr zur Geste des Erschreckens,
der Verwunderung. Dem Scheidenden wird nachgesegnet ')•
1) Als Zeichen freundlicher Gesinnung legt man in späteren Dichtungen dem Unter-
redner die Hand auf Arm und Schulter. — Zu den Gebärden, die ursprünglich wohl
einmal Ausdruckswert gehabt haben, aber allmählich zum Haltungszeremoniell erstarrt
sind, gehört auch das für sich twingen der Hände beim wohlerzogenen Ritter. Vgl.
Petersen a. a. 0. S. 145; dort auch über das Entblößen des Hauptes vor der Dame oder
vor den Fürsten.
^92 Der Gebärdenstil der klassischen Epik.
Am bedeutsamsten charakterisiert die Gesichtsmimik den neuen
Gebärdenstil. Vom Weinen war schon die Rede ; soweit sich über
das Lachen als Miene, nicht als Laut etwas konstatieren läßt, kann
man sagen : es hat die neue Funktion, nicht nur als Begleitung
von Spott und Freude (neben nicht ganz seltenem smielen, ersmielen),
sondern auch als Ausdruck jener wohlwollenden Freundlichkeit,
jener gelassener Heiterkeit zu dienen, die für den höfischen Menschen
wünschenswert ist. Vriuntlich lachende ansehen, anlachen mit röt-
süezem munde soll sichtlich öfter gedämpfte als laute Freude aus-
drücken. — Die Farbe bedeutet in der neuen Mimik ziemlich viel.
Im Kummer oder in der zehrenden Liebessehnsucht verlieren Held
und Heldin auf lange Zeit ihre zum Schönheitsideal gehörige Farbe :
Wandel an ir varwe ist zu bemerken; in solchen Fällen wird übrigens
nicht nur von dem von dem under ougen bleich und misseuar
berichtet, sondern auch ein Wandel der Gesichtszüge ange-
deutet. Doch stehen solchen mehr physiognomischen Hergängen
die mehr momentan-mimischen Wandlungen von Farbe und Aus-
druck zur Seite. Das Bleich- und Rotwerden, das Farbewechseln
ist ein außerordentlich häufiges Symptom der Minne. Eine Reihe
von geläufigen Wendungen für diese Erscheinungen bildet sich
heraus. Bleich- und Rotwerden ist auch ein Zeichen der Scham :
die Farbe wird gemischet. Das schnelle Erröten der Frauen und
Mädchen gehört fast wie die langen Hände, die weißen Arme, die
schmalen Hüften, der schwebende Gang, zum Kanon der körperlichen,
aber auch der seelischen Schönheit : als Zeichen der Schamhaftig-
keit. Die Bilder und Worte für das Erröten sind mannigfach. Doch
auch der Ritter wird schamvar under ougen. Man errötet auch oder
verfärbt sich vor Freude oder im Zorn; seltener errötet man im
Schreck: der tiefe Schreck wie der jähe Schmerz läßt erbleichen
und die Farbe wechseln. — Nicht sohäufig werden die Zähne mimisch
verwendet: das Zusammenbeißen, das Grisgramen, das Blecken; das
Klappern mit den Zähnen vor Angst kommt in der Eneit vor.
Endlich der Blick, hi der Vorliebe für dieses Ausdrucksmittel
zeigt sich die ganze seelische Verfeinerung der höfischen Kunst.
Die stumm beredte Kraft des Blickes, der nur von Person zu Person
vermittelt, was andere Gesten Unbeteiligten verraten müßten,
erhält in dieser echt gesellschaftlichen Kultur naturgemäß eine
sehr wichtige Rolle. Und wieder ist der Hinweis auf die Minne-
lyrik am Platz. Nur hingedeutet sei hier auf die von einem Dichter
zum andern weitergegebenen Metaphern, die die verwundende oder
bindende Macht des Liebesblickes ausdrücken, auf die ausführ-
lichen Schilderungen des beseelten Blicks, in denen sich die dialeli-
tische Wortkunst eines Gottfried genug tut, auf die Nachachmungen
und Erweiterungen solcher Schilderung bei den Epigonen. Schon
für das Wohlirefallen ist der verstohlene Blick fast formelhaftes
Der Gebärdenstil der klassischen Epik. 193
Zeichen : es sehen die ritter dar, die froiiwen her — so formelhaft,
daß diese typische Mimik ritterlichen Flirts im Meier Helmbrech
zum parodistischen Zuge wird. Vriiintliche oder tougenliche Blicke
eröffnen fast immer das Geplänkel des ernsten oder des mehr ge-
sellschaftlichen Liebesspiels. Der Blick zwischen Freunden und
Liebenden hat eine Reihe feststehender Beiworte: toiigenlichen,
vriuntltchen, giiotltchen, iimeclichen, liepltchen, minneclichen, mit
seilenden blicken sehen usw. Mit spunden oiigen sieht die Frau
auf den Ritter. Der Blick drückt jetzt überhaupt eine größere Zahl
von Gemütsbewegungen aus. Der Andachtsblick gen Himmel ist
zwar etwas seltener als in der Dichtung, die mit der geistlichen
in direktem Zusammenhang steht, verschwindet aber nicht ganz.
Der Bück spricht Erschrecken, Scham, Trauer, Schmerz, Wehmut,
Sehnsucht, Staunen, Neugier aus, ferner Furcht, Mitleid, Tücke, Be-
gierde. Der Blick des Wiedererkennens ist als ein besonderer be-
kannt. In der Verlegenheit sehen die Menschen einander an, in
Abscheu und Verachtung wendet man die Augen weg, in der
Scham schlägt man sie nieder. Dem Scheidenden sieht man in
Sehnsucht nach, man späht einem Kommenden entgegen, wartet,
blickt aufmerksam umher. Die Ankömmlinge werden neugierig
angekapft. Der Sprachgebrauch spiegelt jene differenzierte Ver-
wendung des Blicks ; so findet sich häufig trüreclichen, vroelichen,
schaldichen, schamelichen, bliidtchen, vorhtltchen , erbarmeclichen
sehen, hn Zorn versendet man swinde, im Ärger twerhe blicke.
Endlich ein Wort über den akustischen Ausdruck. Auch hier
bleiben ja die früher gebräuchlichen Ausdrucksformen bestehen :
das laute Schreien im Schmerz, zumal der plötzliche Aufschrei bei
jähem Leid, in jäher Freude, im Schreck, das laute Schluchzen, der
Kampflärm, der Freudenlärm, das Freudenlachen, der Gesang in
der Freude, der Siegesjubel. Daneben aber tritt nun erst als
häufigster, typischer Klagelaut des wolgezogenen Menschen der
leise Klageton: das siufzen. Es begleitet fast die ganze Skala der
Seelenbewegungen : vom leisen Liebessehnen, von Scheu und Scham
bis zur tiefsten Hoffnungslosigkeit ; und sowohl formelhafte Wen-
dungen und Bilder für das Seufzen wie detaihierte und individuellere
Beschreibungen kommen vor. Geringere Aufmerksamkeit wird auf
die Stimmennuancierung gelegt, sie kommt aber doch vor; nirgends
charakteristischer als bei Hartmann: Erec v. 6078 ff.
sich teilte dö besunder
von des jämers grimme
rehte enzwei ir stimme,
höhe unde nidere.
Die Stimme verwandelt sich in Zorn und Schmerz, sie wird heiser.
Auch die Charakterisierung des Stimmtons durch psychologische
Herr m a n n , Theater. 1 3
194 Der Gebärdenstil lier klassischen Epik. Nibelungen und Kudrun.
Eigenschaftsworte fehlt nicht, wobei natürhch von den selten sicher
deutbaren Wendungen wie trüieclichen, vroelichen, erbarmeclichen
sprechen, abzusehen ist: trüric was siner stimme gaLm, mit klagender,
manltcher^ kranker, weinltcher, eistltcher stimme: solche Angaben
kommen vor, freilich seltener als die entsprechende Beschreibung der
Mienen. Im Tristan wird das Stammeln der Verlegenheit geschil-
dert; im Willehalm heißt es:
ir weinliches hischen
sie mit rede begunde mischen.
Etwas anders steht es mit der Mimik und Gestik in den
Nibelungen und der Kudrun. Deutlich allerdings sind auch die
Übereinstimmungen mit dem ritterhchen Epos gerade auf diesem
Gebiet : sowohl an der Steigerung der gesellschaftlichen Geste wie
an der charakteristischen Verfeinerung der Mimik hat der höfisch
beeinflußte neuepische Stil des Heldengedichts seinen Anteil. Aber
bei der Grundhaltung dieser Epen, die aller Unterschiede vom
Heldenlied ungeachtet doch im Vergleich zur Ritteraventiure weit
mehr auf die Fabel, erkennbare Tatsachen und große Situationen
als auf psychologisches Detail malender und abenteuerhäufender
Schilderung gestellt sind, ist naturgemäß die Gestik unkomphzierter:
das zeigt sich z, B. bei den unwillkürlichen Gebärden, beim Blick
und der Gesichtsfarbe. Während also diese Heldenepen mit heran-
gezogen werden dürfen, um den Gebärdenstil des ritterhchen Epos
zu illustrieren, muß anderseits auf Ausdrucksformen hingewiesen
werden, die in ihnen vorkommen, aber der rein höfischen Erzählung
im ganzen fremd sind. Das grelle befreite Auflachen der Kudrun —
sicher wohl ein alter Zug — , das der am modernen Empfinden ge-
schulte Dichter ein teil uz ir ziihten nennt, das gewaltige Grohen der
Heldenstimme (alsam ein Wisentes hörn, als eines lewen stimme) sind
Beispiele solcher Art ; dazu kommen die aus der älteren Epik schon
bekannten, im späteren Volksepos noch häufigeren Formeln für
das Weithintönen von Freude- und Klagegeschrei. Der allgemeinen
Tendenz ritterlicher Dichtung zuwider ist auch die Berserkerwut
Wates im Kämpfen: mit grisg ramenden zanden, mit schinenden
ougen; es ist reckenhaft, nicht ritterlich, wenn Wate brummt wie
ein stier^). Abgesehen aber auch von solchen Einzelheiten tragen
für unser Gefühl die Gebärden in den mehr heroischen als ritter-
lichen Szenen überhaupt etwas andern Charakter. Wohl können
wir z. B. eigentlich fast alle Gebärden, die in der Szene bei Sieg-
frieds Leiche und seiner Bestattung vorkommen, bis auf das spiel-
männische Blutbrechen und Blutweinen auch im ritterlichen Epos
nachweisen. Dem Aufschrei der aus der Ohnmacht erwachenden
1) Ahnliche und noch groteskere Ausmalungen des Zorn- oder Schmerzenslautes- hat
besonders die spätere spielmännische Heldenepik, in der Heiden und Riesen auftreten.
Der nachklassische und spielmännische Gebärdenstil. 195
Krimhilt antwortet nicht mehr dramatisch wie im HeldenUed das
Lachen befriedigter Rache: in langem epischem Echo hallt ihm
vielmehr die ungefüge Klage der Getreuen nach bis in die Münster-
szene hinein. Es ist gewiß nur dem neu-epischen Stile eigen, wie
in reicher Szenenentfaltung die Steigerung der Verzweiflung beim
letzten Abschied von der Leiche eine neue Skala der Gesten er-
möglicht, wie der letzte Kuß und das kraftlose Hinstürzen und
Weggetragenw^erden noch nach diesem Abschied für ewig zu der
früheren Gebärde des jähen Entsetzens die der überwältigenden
Verzweiflung fügt. Aber es wirkt das alles doch ganz anders wie
in ähnlichen Szenen des ritterlichen Epos, Diese Verschiedenheit
beruht jedoch mehr auf der Art der Anordnung und Akzentuierung
der an sich übereinstimmenden Gebärden und letzten Endes auf
der funktionellen Bedeutung solcher Szenen im Ganzen des
Epos, also auf Elementen der inneren Form; diese aber für
jeden Fall näher zu untersuchen, kann hier nicht unsere Auf-
gabe sein.
Wenn die vom ritterlichen Epos her überkommenen Gebärden
schon hier vereinfacht und zum Teil formelhaft erscheinen, so tritt
das nun in den nachklassischen Heldendichtungen und vor allem in
den spielmännischen Neuerfindungen aus diesem Stoffkreise erst
recht zutage. In solchem Sinne wird die Gesichtsmimik redu-
ziert ; die Gebärde neigt wieder zum Deutlichen und sofort Ein-
leuchtenden. Häufiger springt man im Zorn und in der Freude
auf; im Zorn, und nicht nur in der Totenklage, wird Haar und
Bart gerauft, im Schmerz wird auch sonst öfter die Brust ge-
schlagen, das Haar gerissen usw\ Zu den üblichen Gesten der
Totenklage wird Steigerndes und Übertreibendes gefügt: man
bricht beim Händewinden die Finger, schlägt sich die Fäuste in
Auge und Mund, beißt sich in Arme und Hände. Im großen
Wolf dietrich , der überhaupt schon dem bürgerlichen Stil nahe
kommt, heißt es bei solcher Gelegenheit einmal höchst unhöfisch:
sie schlecht von sich all viere.
Neue groteske Züge bringt auch die Gesichtsmimik: man wird
nicht nur rot und bleich oder missevar, sondern auch gel, grien
und darzLio rot (Wolfdietrich, Rosengarten; dieselbe Schilderung
allerdings auch einmal in Konrads Trojanerkrieg), man sieht sure
im Ärger; dem -Zornigen und Kampflustigen viuren die Augen.
Die Gebärde in der höfischen Epik des späteren 13. Jahrhunderts,
ja auch noch des beginnenden 14., wie der Wilhelm von Österreich
zeigt, in der ritterlichen Epigonenpoesie also steht im ganzen völlig
in der Tradition des klassischen Bestandes: von einigen Einzel-
heiten abgesehen ohne Verarmung und ohne Bereicherung und auch
ohne neues Erleben und Ausdeuten des so Bew^ahrten. Angesichts
solcher Feststellung ist es für unsere Zwecke ohne Belang hervor-
13*
196 Dsr epische Gebärdenstil im ausgehenden Mittelalter.
zuheben, wie sich einzelne bedeutende Epiker der späteren Periode
wie Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg verhalten. Einige
Dichtungen sind mit der Geste überhaupt sehr sparsam; innerhalb
der gebärdereichen, in denen die vom Leser im voraus erwarteten
Gesten mit formelhafter Sicherheit sich einstellen, können wir viel-
leicht zwei Typen scheiden: einen, der hypertrophische Wieder-
holung von allgemein gebrauchten, besonders zeremoniellen Gesten
zeigt (so z. B. das fast komisch stereotype bt der hant nemen im
Garel von dem blühenden Tal), und einen andern, der eine bestimmte
Reihe von Gebärden eines Vorbildes nachahmend sie immer wieder
anbringt. Das Wesentliche aber bleibt der starr-konservative Grund-
zug des Ganzen.
Sehr zäh ist diese Tradition; sie fließt durch allerhand Kanäle
bis in die so sehr dem Innern Stil der ritterlichen Zeit entfrem-
deten Dichtungsgattungen des 14. und 15. Jahrhunderts. Am deut-
lichsten ist der Zusammenhang da, wo auch sonst die Tradition
wenigstens äußerlich nicht abgerissen ist: in den vielen Prosa-
auflösungen ritterlicher Dichtung, die auf das Interesse der höheren
Stände rechnete; ja hier, wo auf Neubildung verzichtet und
relativ mechanisch die alte Vorlage in die Sprache der Gegenwart
übersetzt wurde, ist der klassische Gebärdenschatz zum Teil voll-
ständiger erhalten als in mancher Originaldichtung des späteren
13. Jahrhunderts ; freilich geht dabei naturgemäß bei aller äußerlich
treuen Wiedergabe oft gerade der Geist einer Gebärde verloren.
Die Sprache dieses Literaturzweiges, der freilich so wenig durch-
forscht ist, daß man sich mit Eindrücken und Stichproben begnügen
muß, hat mit ihrer Umständlichkeit, ihrer kanzleihaften Gravität ja
überhaupt keine dichterischen Ausdruckskräfte : so entstellt sie auch
naturgemäß den Charakter der Gesten, die in der Vorlage einfach
selbstverständlich wirken, durch die Doppelformeln des Kanzleistils
bald ins Aufdringlich-Grelle bald ins Schwerfällig-Gefühlsberedte.
Der Prosaroman von Tristan und Isolde verwischt den Sinn der
knappen eilhartischen Schilderung von Isoldes stummem Schmerz
durch ein mißverständlich erläuterndes und weße vor großem leide
nii zu gebaren. Die mechanische Häufung gewisser Gebärden
möchte man dahin deuten, daß der Verfasser sich anstrengt, sich auf
der Höhe der Kenntnisse zu zeigen. Das Weinen und das Inohnmacht-
f allen nimmt noch weiter zu : der sentimentale Zug der Zeit verrät
sich, ganz auffällig in des Bühelers Königstochter von Frankreich,
allerdings dem Werk eines geistlichen Dichters. Je nachdem die Vor-
lage mehr höfisch oder mehr spielmännisch stilisiert war, ist auch
die Gestik der prosaischen Nacherzählung beschaffen. Es ist auch
noch nicht neue bürgerliche Derbheit, sondern gehört zu den
derben Motiven älterer Heldenepik, wenn im deutschen Reinolt
von Montelban einer der Recken die Faust so ballt, daß das
Der Gebäriienstil der allefforischen und der bürfierlichen Epik. J[97
blut kam gelauffen auf seine faß, oder wenn die Mutter nach
langer Trennung den Sohn so küßt, daß er aus Mund und Nase
blutet.
Die erzählende allegorische Poesie des ausgehenden Mittel-
alters steht ja auch noch in der höfischen Tradition, und was in
diesen Gedichten, soweit sie nicht satirisch-didaktisch auf gegen-
wärtiges Leben deuten, als erzählende Einkleidung des lehrhaften
Gehalts da ist, führt mit seinen schematischen Figuren und
Situationen einen begrenzten, dem Höfischen entnommenen Ge-
bärdenschatz mit sich. Die Gedichte Hermanns von Sachsenheim
z. B. zeigen bei entsprechenden Gelegenheiten die Gesten des
höfischen Zeremoniells: allerhand typische Begrüßungs-, Ehr-
furchts-, Freundlichkeitsgebärden; daneben aber taucht etwa in der
„Möhrin" auch der biu'gerliche Gruß auf: das Hutrücken. Dieser
greisenhaften Art, die Erstorbenem ohne rechte Liebe nacheifert,
haftet leicht eine Neigung an, durch Unterstreichen genau sein zu
wollen. So heißt es hier wohl: Ich bog mich fast als billich was,
aus dem einfachen nigen der klassischen Zeit wird bei nicht ge-
eigneter Gelegenheit ein Neigen aiiff den fuß. Neben den nicht
allzu mannigfaltigen Gesten und Mienen rein höfischen Charakters
begegnen nun aber auch ganz neue, z. T. offenbar realistische Be-
wegungen: vor Wut beißt sich jemand in die Lippen, daß das
blut hernaucher ran, die Stirn wird im Unwillen gerimpft, dem
Angstvollen kruselt die hat, die Haare stehen dem Angstvollen zu
Berge, so wie auch gelegentlich schon in Konrads Partenopier.
Im Zusammenhang mit dieser allegorischen Erzählung halten auch
die Spaziergangsgedichte bürgerlichen Ursprungs in schematischer
Angleichung an das höfische Ideal ebenso wie die typischen
Schönheitsschilderungen so auch die Gesten der Frauengestalten, ihr
schamhaftes Augenniederschlagen und Erröten, ihre Klagerufe,
Tränen und Schmerzgebärden, die Begrüßungsformen, das An-
lächeln, die Umarmungen fest. Aber schon an der Wende des
15. Jahrhunderts schleicht sich in diese traditionellen Erzählungs-
formen eine neue, für die Bewegung nicht gleichgültige Tendenz
ein : man will gerade im Gegensatz zu der idealistischen Dichtung,
deren Formen man weiter benutzt, das rauhe Leben der Gegenwart
in verzerrendem Naturalismus zeigen und sucht darin groteske
Wirkung. Neben den hochgespannten Wendungen des ritterlichen
Stils stehen die gröblichen Reden und Taten der Bauern, und auf
ihre Verhöhnung kommt es mehr noch an als auf die Verspottung
des ritterlichen Ideals. Und diese Doppelheit zeigt sich auch in
jener originellsten Leistung des beginnenden 15. Jahrhunderts, dem
einzigen Werke einer wirklich im Leben dieser literarisch unseligen
Periode wurzelnden Begabung: in Wittenweilers „Ring". In dieser
Groteske, die alles zeigt, was eine Zeit ohne feinere Seelenkultur
198 Der Gebärdenstil der bürgerlichen Epik.
geben konnte, indem sie sich selbst begrinste, stehen nicht nur
Tun und Reden der beiden sich gegenseitig verhöhnenden Spliären
schroff nebeneinander, sondern auch die Gebärdung der frülieren
Welt und die im Hohlspiegel erscheinende neue Gestik der Wirk-
lichkeit, Ritterhches und Heldengedichtmäßiges neben dem Tölpel-
haften der Bauernwelt. Da sind zunächst die vielen parodistischen
Verwendungen höfischer und heldischer Geberdung. Nabelreiber
schreibt dem Minner Pertschi Triefnas sein Verhalten gegenüber
der Erwählten vor:
das ist: du scholt nach meinem sin
oft und dik sey smieren an
mit spilnden äugen hin und dan . . .
und näyg dich ir, du grüss sey so . . .
greyff ir leysleich an daz chläid!
mit seufczen sprich . . .
Mäzli fällt wie eine ritterliche Jungfrau vor Freude in Ohnmacht,
als sie Pertschis offizielle Werbung hört, dieser selbst beim Turnier
in eine Verwundungsohnmacht, aus der er dann freilich recht un-
ritterlich erweckt wird. Vor Zorn springt er dreimal auf; ein
andrer sieht anklagend gen Himmel. Das Schreien hört man, wie
im Heldenepos, über drei rast. Vor Kummer darüber, daß ihn die
Hochzeitsgäste schier arm fressen, läßt der Bräutigam das haubet
sinken. Aber neben derartigen parodistisch angewendeten Finessen
dann die echten Grobianismen neuen Stils, wie sie auch schon etwa
in der „Hetzen Hochzeit" erscheinen. Wenn die Fresser vor Gier
darein sehen recht als ein stier oder sam der wolff gein derkuo^), die
Diener mit den ougen gienen in die fresser, wenn bei jeder Gelegen-
heit geschrien, gebrüllt wird, so ist das noch gar nichts. Aber Mezzlis
nächtliche Verachtungsgeberde zum Fenster hinaus, die ehelichen Zärt-
lichkeiten, die mit der minniglichen Zartheit der Liebesbriefe gründ-
lich kontrastiert, ihr schamhaftes Sichwehren bei der Eheschließung,
wo sie mit Händen und Füßen um sich schlagend gleich vier
Brautjungfern umwirft, die Zärtlichkeit, mit der einer der Bauern
die Erwählte so in die Hand kratzelt, daß sie blutet, die Art, in
der einer der nicht gesättigten Gäste den Bräutigam seine Miß-
achtung erkennen läßt 2), das Lachen, das so stark ist, daß man
farzet, — das ist die neue Gestik im Spiegel dieses satirischen
Naturalismus gesehen. Mitunter gehen auch die parodierte alte
und die satirisch geschilderte neue Gestik in einander, so in der
1) Oder liegt auch hier eine Parodie bekannter Motive ritterlicher Epen vor?
2) Des sneiiczt her Clinocz sein nasen f/ros
durch sein hende also bloss
Und ivarfs dem /)reiit(/oni unter daugen.
Der Gebärdenstil der biirgerliclien Epik. "[99
obszönen Travestie des Haarrauf ens in der Verzweiflung oder in der
Darstellung des Zornes:
die tmsen ward er rimphen,
daz feiir im aus den äugen glast,
aus seinem maul der gäifer prast.
jo, wie zittert er von zorn!
Neu aber ist es vor allem, daß man vor Wut stottert, und
besonders daß das nicht nur erwähnt, sondern wie das trunkene
Gröhlen beim Tanze auch sprachlich wiedergegeben wird:
Do huob er an ze lurggen do:
So, du du du hürrensun, so,
Des ha ha hab du dich verwegen,
Du ma ma macht nit mer geleben.
Mit solcher Drastik aber steht der „Ring", wie auch in bezug
auf literarischen Wert, in seiner Zeit doch allein. Was sonst die
neue bürgerliche Erzählung betrifft, die von ganz äußerlichen Be-
ziehungen abgesehen gar keinen Zusammenhang mehr mit der
alten Epik hat, so ist das gegenwärtig zugängliche Material so
geringfügig und zufällig, daß die Einordnung in die hier versuchte
Entwicklungsdarstellung nicht ohne Bedenken ist. Diese bürger-
liche Kultur oder richtiger Nochnichtkultur vermag aus sich
dichterisch noch kein ihr gemäßes Lebensbild aufzustellen; wie
sie ohne Idealität ist, so ist sie im Grunde auch lieblos der
eigenen Realität gegenüber. Ihre erzählende Dichtung entstammt
rohen Instinkten und dient roher Stof f f reude ; witzlos, unanständig,
übel mit Frömmigkeit und Moral bemäntelt, entbehrt sie der be-
scheidensten Fähigkeit, das nächste Leben zw schauen — nur
seine groben Tatsächlichkeiten greift sie auf. So bietet sie denn
auch keinen in sich zusammenhängenden Gebärdenstil, der eine
neue Menschlichkeit illustrieren hülfe. Alles in der Gestik bleibt
farblos. Zusammenhänge mit der ritterlichen Tradition fehlen
auch hier nicht, namentlich erscheinen gewisse Zeremonialgeberden,
wo von Leuten aus dem Ritterstande die Rede ist: das Neigen,
Grüßen, Niederknien, Aufstehen; die überlieferten Reimformeln
gienc : empfienc helfen natürlich auch dergleichen bewahren in
Erzählungen, die die alte Reimpaarmühle klappern lassen, wie
schon im Kalenberger:
vil schnei er ken der frawen gieng,
gar hoffelich er sie entpfieng.
Auch sonst werden wohl höfische Herren und Frauen mit der
schattenhaft gewordenen Mimik der alten DichtTuig charakterisiert:
der frawen roter munt do lacht er usw. Eher wie ein mißglückter
Versuch, Neubeobachtetes neu auszudrücken, mutet z. B. die
Schilderung einer Spottgebärde im Kalenberger an:
200 Der Gebärdenstil der bürgerlichen Epik.
die fraw die warff manegen plick
so lacherlichen her und dar,
oder, besser beobachtet, die Schamgebärde der nackten Bauern
am Fürstenhof:
sie schmückten sich so jemerlich
in einander recht wie die schaf.
Das Lachen als Ausdruck des Spottes ist in diesen Schwank-
geschichten häufig, in denen es so oft auf Verhöhnung oder Betrug
eines Tölpels ankommt. Ob nun diese mehr als einförmige Gestik
und Mimik jedesmal neu aus dem Leben aufgenommen ist oder
noch aus der Tradition stammt, läßt sich oft kaum sagen. Nieder-
knieen im Gebet, Schreien und Weinen vor Angst, Wut und
Schmerz, Lachen in der Freude, das sind die üblichsten Aus-
drucksmittel. Manches wie z. B. ein groteskes Hinundherspringen
in der Angst, ein Sichducken und Schmiegen in die Winkel mutet
wohl wie neubeobachtet an. Statt der Vergleiche des Mut- und
Zornblickes mit dem Blick des Wolfes oder des Löwen wird jetzt
charakteristischerweise der Blick eines Feiglings so charakterisiert:
er gutzet herfiir wie ein has. Dagegen ist es wohl der Einfluß alter
Tradition, wenn hier in den schmutzigsten Buhlgeschichten von
lieplich anplicken, lieplich umfangen die Rede ist. Daneben steht
dann wie schon in den realistisch orientierten Teilen der alten ge-
zierten Allegorien die Erwähnung der derbsten geschlechtlichen
Liebkosungen als Zeichen der naturalistischen Tendenz. Im ganzen
läßt sich sagen: am Ausgang des 15. Jahrhunderts lebt in der er-
zählenden Dichtung die gänzlich erstarrte Tradition der höfischen
Geberde und Mimik noch fort; daneben zeigen sich einige Ansätze
zu einer neuen, realistischen Beobachtung und auf satirischer
Tendenz beruhenden Darstellung der Geberde.
Vielleicht wird man finden : die voranstehende Betrachtung sei
bei aller Gedrängtheit der Einzelangaben zu umfangreich geraten
und unterbreche unsern theatergeschichtlichen Zusammenhang gar
zu lange. Und doch wird diese Ausführlichkeit sich rechtfertigen
lassen. Der bei aller Gebundenheit vorhandenen Reichtum der
epischen Geste hätte der theatralischen Armut gegenüber durch
eine bloße Aufreihung des dem Erzähler zur Verfügung stehenden
Materials gekennzeichnet werden können; aber das Vorhandensein
eines wirklichen organischen Sonderlebens der Geste innerhalb
der epischen Kunst ließ sich doch nur durch den Nachweis einer
kulturell und ästhetisch bedingten Entwicklung erbringen und der
theatralischen Entwicklungslosigkeit gegenüberstellen. Für die Er-
klärung der theatralischen Gleichförmigkeit, Unfreiheit und Dürftig-
keit maü[ man nun vielleicht auch die Besonderheit der mittelalter-
Schauspielkunst und Theologie. 201
liehen Aufführung mit heranziehen, so etwa den folgenden Um-
stand : der Zuschauer steht den Darstellern im allgemeinen so fern,
daß er ihre Gesichtszüge kaum erkennen kann, von den modernen
Hilfsmitteln: Rampenlicht und Opernglas ist natürlich keine Rede,
und so ist ein Verzicht der Theaterkunst auf alle Gesichtsmimik
eigentlich von vornherein geboten. Die Hauptsache ist das nicht
— es kann sich vielmehr nur um eine bewußt vollzogene scharfe
Scheidung von jener weltlichen Art seitens der geistlichen Regisseure
handeln, die in dem geistlichen Charakter ihrer Veranstaltung be-
gründet liegt.
Schauspielkunst und Liturgie.
Nur wer sich an die ungeheure Wucht erinnert, mit der im
Mittelalter das Kanonische auf aller freien Entwicklung lastet, wird
das ganz begreifen. Wahrheit ist nur w as diu biinch berichten, und
zumal in bezug auf heilige Dinge gelten im Grunde genommen nur
die Berichte, die die offiziell von der Kirche anerkannten Bücher
geben, während man sich dessen bewußt ist, daß man sich mit
der Benutzung der Apokryphen auf ein etwas unsicheres Gebiet
hinüberwagt. Innerhalb der kanonischen Schriften aber hat jedes
Wort seinen tiefen und unantastbaren Wert, und die mitunter schwer
vereinbaren Mitteilungen der Evangelisten über die heiligen Vor-
gänge zu einer Harmonie zu bringen, ist eine der vornehmsten Auf-
gaben der theologischen Wissenschaft des Mittelalters. Zu den
heiligen Vorgängen aber gehören auch die körperlichen Ausdrucks-
formen, von denen wir hier zu handeln haben — die Kommenta-
toren von der Zeit der Kirchenväter an bis zu den spätmittelalter-
lichen Scholastikern haben den Sinn der von den Evangelien er-
w^ähnten Gebärden und Stimmfärbungen zumal in dogmatischer
Beziehung wieder und wieder erläutert — also etwa zu der Stelle,
w^o Christus nach dem ungetreuen Petrus sich umsieht und vor
Petrus dann in bitteres Weinen ausbricht, die allgemeine Bemerkung
gemacht: Deniqiie quos Jesus respicit plorenf, oder genaue Erörte-
rungen über den Umstand angestellt, daß Jesus selbst zweimal ge-
weint hat. So ist es begreiflich, daß die geistlichen Dichterregisseure
an den bedeutungschweren Gesten der Evangelien nichts verändern
und höchstens die minder prägnanten in jener labilen Weise ver-
wenden, über die oben gesprochen wurde, daß sie vor allem auch
nicht andere moderne Gesten einführen, die jenen heiligen Gehalt
nicht besitzen und nur dazu dienen würden, das Bild der kanonischen
Ausdrucksformen zu verwischen. Die gelegentliche Benutzung apo-
krypher Evangelien durch die Dramatiker i) ändert an solchem Ge-
samtverhalten um so weniger, als im Grunde die Gebärdensprache
1) Vgl. Greiz enach, I, 2. Aufl. S. 195.
202 Schauspielkunst und Gottesdienst.
dieser Bücher, so auch die des behebtesten: des Nicodemusevange-
liums, von der der kanonischen Texte sich nur in einzehien kleinen
Zügen unterscheidet — aber auch von diesen ist in unsern szenischen
Bemerkungen keine Spur zu finden. Die Dürftigkeit und der ur-
konservative Charakter der theatrahschen Ausdrucksformen, der in
den jüngsten Denkmälern mit der stellenweise sehr modern-realisti-
schen Darstellung der eigentlichen Aktion zu einem echt spätmittel-
alterlich widerspruchsvollen Gesamtbilde verschmilzt, ist auf solche
Art schon rein dogmatisch fast zur Genüge begründet.
Zu diesem dogmatischen Element aber kommt ein Zweites hinzu.
Wieder muß man den geistlichen Grundcharakter der ganzen Vor-
stellung vor Augen haben, der ja neben aller Verweltlichung der
Spätzeit auch darin zum Ausdruck kommt, daß sich in vielen Texten
bis zuletzt neben den gesprochenen deutschen Worten Reste der
alten lateinischen Gesänge erhalten haben. Für alles Gottesdienst-
liche aber ist es eine alte christhche Regel: in bezug auf die Be-
wegungen des Körpers sich einer großen Gleichförmigkeit und einer
Vermeidung alles Überflüssigen zu befleißigen. Nicht wenige Stellen
aus den Kirchenvätern ließen sich zur Bekräftigung ihrer Abneigung
gegen starkes Agieren beim Gefühlsausdruck, zumal der Trauer
beibringen; nur die Träne ist — als Ausdruck des religiösen Schmerzes
— gottwohlgefällig, weil auch Christus geweint hat, und das reli-
giöse Weinen spielt denn auch im ganzen Mittelalter eine uns un-
faßbare Rolle 1). Wenn in der Spätzeit dann auch Schlagen von
Gesicht und Brust dazu kommt 2), so führt das aus dem Gebiet des
Gefühlsausdrucks in das der Selbstkasteiung hinüber: besser noch
als der Hände bedient man sich wuchtiger Steine.
Die so gebotene Sparsamkeit der Gesten : die Verwendung von
nur wenigen Formen und im Zusammenhang damit ein äußerst
konservatives Verharren bei dem einmal Eingeführten zeigt denn
in allererster Reihe die Geschichte der mittelalterlichen Liturgie 3).
Diese Geschichte ist allerdings von der modernen Wissenschaft erst
1) Vgl. das reiche Material bei G. Zappe rt: Denkschriften der Kaiserl. Akademie
der Wiss. Phil. Hist. Kl. 5 (Wien 1854) S. 79 ff.
2) Ebenda S. 87.
3) Immerhin scheint sich der Grundsatz auch auf den Teil der mittelalterlichen
Kirchenleistung übertragen zu haben, auf dem gewiß wie heute dem Geistlichen völlige
Freiheit gelassen war: auf die Predigt. Freilich wissen wir kaum etwas über die Vortragsart
mittelalterlicher Prediger; doch scheint mir bezeichnend zu sein, was Thomas a Kempis
in bezug auf den großen Kanzelredner Gerhard Groote hervorhebt (vgl. Landmann, Das
Predigtwesen in Westfalen in der letzten Zeit des Mittelalters, 1900, S. 113): Solebat inter-
(liini ociilos siios dirigere ad astantes et pro audientium qualitate ac utilitate sermoiiem
sinim formare in altum vel loiu/iim per fervoris excessum. Also sclion der scharfe Blick
und das Feuer des Tons sind Ungewöhnliches — nichts von ausgeprägten Arm- oder
Körperbewegungen. Das Weinen der Prediger dagegen ist öfter bezeugt; vgl. Zappert.
S. 91.
Schauspielkunst und Liturgie. 203
in neuester Zeit wieder eifriger erforscht, und zumal die Entwicklung
des liturgischen Vortrags ist noch kaum als Ganzes vorgeführt
worden 1). Soviel aber wird sich doch sagen lassen, indem wir die
wichtigsten Ritualbücher des Mittelalters durchmustern und einzelne
Äußerungen und ganze Abhandlungen der kirchlichen Autoren über
den Gegenstand dazunehmen: bei aller lokalen Zersplitterung der
liturgischen Formen, die das Mittelalter aufzuweisen hatte, nachdem
die einmal zur Zeit Karls des Großen erzielte Einheit des Gregoriani-
schen Ritus sich wieder verflüchtigt hatte, ist doch die Reihe der Aus-
drucksbewegungen, die dem Geistlichen für Messe und Benediktio-
nen vorgeschrieben sind, von alten Zeiten her ziemlich die gleiche
bis auf den heutigen Tag: Kreuzeszeichen, Inklination, Genuflexion,
Erhebung der Augen, Händevereinigung, Ausstrecken der Hände,
Brustschlagen und Kuß; dazu noch einige Formen, die heute im
wesentlichen abgekommen sind: Sichniederwerfen, Ausstrecken
der Arme in der Weise, daß der Körper ein Kreuz bildet, Kreuzen
der Unterarme auf der Brust, Umarmen (des Altars). Alle diese
Gebärden können sich auf die Bibel: das Neue Testament ein-
schließlich der Briefe, aber auch das Alte Testament berufen und
hängen zum Teil auch mit den Adorationsgebärden des griechischen
und römischen Altertums zusammen 2), — schon diese Anknüpfung
zeigt ihre Ursprünglichkeit, und die Geschichte der liturgischen
Ausdrucksformen vollzieht sich nun in der Weise, daß sie labil
sind : daß die Stellen wechseln, an denen sie verwendet werden.
In dieser freien Verwendbarkeit eines kleinen, kaum erweiterbaren
Kreises uralter Bewegungen liegt das Vorbild, das die Liturgie dem
geistlichen Theater gab; der von halbtheatralischen Zügen durch-
setzte Charakter der Liturgie, aus der sich ja das mittelalterliche
Drama einmal losgelöst hatte, und die peinlich genaue Inszenierung
der liturgischen Bewegungen 3) legen dem geistlichen Regisseur des
Mittelalters die Durchführung eines strengen theatralischen Ritus
ziemlich nahe. In solchem Parallelismus besteht der Zusammenhang;
1) Von älteren Werken ist besonders zu nennen das ungeheuer gelehrte Werk von
Claude de Vert, Explication simple, litteraire et historique des Ceremonies de l'eglise,
n. Ed. (Paris 1709 — ^13), 4 Bände, das aber mehr erläutert als zusammenhängend darstellt
und ferner die französischen Verhältnisse und zumal die Zeit seit dem 16. Jahrhundert
sehr bevorzugt; ferner Gerbertus, Vetus Liturgia alemannica (St. Blasien 1776) 2 Bände,
bei dem aber die Beobachtung der Ausdrucksformen zurücktritt. Das riesige achtbändige
Werk von Ch. Rohault de Fleury, La Messe. Etudes archeologiques sur ses monu-
ments (Paris 1883—89 )streift die körperliche Beredsamkeit leider nur gelegentlich, während
es die liturgischen Gebrauchsgegenstände bis ins einzelne in ihrer historischen Entwicklung
vorführt.
2) Vgl. den Artikel gestiis in F. X. Kraus' Realenzyklopädie des christlichen Alter-
tums I (1884) und einzelne Hinweise bei Sittl, Die Gebärden der Griechen imd Römer
(Leipzig 1890).
3) Man ese nur etwa die unsäglich genauen Vorschriften, die in dem vielbenutzten
„Repertorium Rituuni" von Ph. Hart mann (9. Aufl. Paderborn 1901, es gibt aber auch
204 Schauspielkunst imd Liturgie.
weniger in einer direkten Einwirkung des liturgischen Gestus auf
die theatralische Bewegung, hnmerhin ist ein Moment bemerkens-
wert. In den Evangelien besteht die Anbetung oder Ehrerbietigkeits-
bezeigung gewöhnlich darin, daß man zu Boden oder geradezu auf
das Angesicht fällt; daneben kommt, wenn auch seltener, das
Kniebeugen vor. Auf dem deutschen Theater des Mittelalters ist
das Verhältnis gerade umgekehrt : nur in einigender älteren Denk-
mäler ist noch ein paarmal von procumbere, procidere ad pedes
Ihefu die Rede, im übrigen spielen neben gelegentlichen se inclinare
durchaus die flexa geniia die entscheidende Rolle. Diese Änderung
der geistlichen Regisseure mag vielleicht mit auf rein theatralische
Bedürfnisse zurückzuführen sein: es wird sich für die Darsteller
nicht empfohlen haben, auf den staubigen Marktplatz sich hinzu-
werfen und so das ganze Kostüm zu beschmutzen; in der Haupt-
sache aber handelt es sich gewiß um eine Anpassung an die lit-
urgischen Formen der Anbetung, die wie heute wesentlich nur in
genuflexio und inclinatio bestanden haben werden i). Dagegen
werden die Hand- und Armbewegungen, die bei der liturgischen
Adoration nach dazu kommen, von der theatralischen Darstellung
verschmäht: hier steht doch das dogmatisch-historische Prinzip dem
Speziell-Liturgischen voran, um so mehr als man mit solcher Zu-
lassung von Arm- und Handgesten eine Stelle geschaffen hätte, an
der die Neigung zu einer Verweltlichung der Darstellung weiter
hätte einsetzen können.
Unsere Auffassung nun, daß es sich in dieser Behandlung der
körperlichen Beredsamkeit um die besondere theatralische Aus-
schon eine 11. Aufl.) S. 198 ff. dem Priester, der das Officium divinum vollzieht, in bezug auf
die körperliche Beredsamkeit gemacht werden. Die Strenge des Zeremoniells wird im 13.
bis 15. Jahrhundert kaum anders gewesen sein.
1) Was heute im kirchlichen Gebrauch prostratio heißt, ist Genuflexion beider Knie
verbunden mit tiefer Verbeugung, vgl. Hartmann, Repertorium Rituum S. 202; doch
scheint wirkliche Prostration bei einigen Orden noch vorzukommen. Wie weit sie im Mittel-
alter im Gebrauch war oder wie weit wir in den Vorschriften der Ritualbücher bei dem
prosfernere und daher auch bei dem procumbere der älteren Thealertexte an Kniebeugen
denken müssen, wird sich vorläufig nicht entscheiden lassen, um so weniger als eigentlich
technische Illustrationen zu den Ritualbüchern fehlen: ich kenne nur die paar Bilder, die
Gerbertus (Monumenta veteris liturgiae alemannicae, 1777, I, S. 234ff.) aus einem Codex
St. Blasiensis des 10. oder 11. Jahrhunderts wiedergibt, und einige liturgisch-technische
Illustrationen, die ein wenig späteres Fuldaer Sakramentar enthält (Handschrift in Göttingen:
s. Beissel: Zeitschrift für christliche Kunst I, S. 65 f.); die Ritualbücher des späteren
Mittelalters jedenfalls sind, wie mir ein ausgezeichneter Kenner : Herr Pfarrer Dr. A. Schön-
felder in Mühlbock auf meine Frage mitteilt, nicht illustriert gewesen. Liturgische Gesten
aber den bildlichen Darstellungen heiliger Vorgänge zu entnehmen und für naturalistische
zu erklären, halte ich für bedenklich. — Ebenso wird es sich kaum ausmachen lassen,
ob es sich bei der Genuflexio etwa nur um ein bloßes Knixen, nicht um ein wirkliches
Niederknien gehandelt hat. Die vielen Bilder, auf denen der bloße Knix dargestellt wird,
sind kein Beweis für das nicht völlige Niederknien: es kann sich da um den transitorischen
Moment vor dem Knien handeln oder um den sog. Knielauf.
Die Gesten der neutestainetitlichen Erzählung in Deutscliland. 205
prägung einer allgemein mittelalterlichen Bedingtheit handelt, findet
eine neue und lehrreiche Bestätigung, wenn wir zum Vergleich die
beiden andern Gebiete heranziehen, auf denen die mit Jesu Ge-
schichte zusammenhängenden Seelenvorgänge ihren körperlichen
Ausdruck finden: das geistUche Epos und die bildende Kunst.
Die Gesten der neutestamentlichen Erzählung in Deutschland.
Ein vollständig vergleichbares Material haben wir ja nun freilich
nicht, wenn wir zunächst die in den erzählenden Dichtungen von
Christi Leben und Sterben enthaltenen Angaben über körperlichen
Ausdruck des Seelischen neben die szenischen Bemerkungen der
Dramen legen. Der Epiker steht im Bann der Alliterationsnot oder des
Reimzwanges und wird leicht der Versuchung unterliegen, sich durch
den Zusatz einer Geste aus einer formalen Verlegenheit zu helfen ;
dem erzählenden Dichter, der die heiligen Vorgänge behandelt, pflegt,
auch wenn er Geistlicher ist, die welthche Epik nicht ganz fremd
zu sein, und so hat er es zumal bei dem so oft formelhaften
Charakter der mittelhochdeutschen Poesie mitunter schwer, der
Suggestion zu widerstehen und keine modern weltlichen Gesten ins
heilige Land zu übertragen. Zunächst aber ist treuer Anschluß
Grundsatz der geistlichen Poeten, und von dem Bilde, das die spä-
tere geistliche Schauspielkunst bietet, sind wir in den Evangelien-
harmonien des zehnten Jahrhunderts nicht sehr weit entfernt, zu-
mal auch hier neben den kanonischen Texten die Apokryphen als
Grundlage kaum in Betracht kommen i). Als Grunderscheinung
auch hier die auffallende Spärlichkeit der Gesten und Stimmfarben,
das ängstliche Meiden aller individuell gesehenen, modernen Formen,
das getreue Herübernehmen der Angaben der Quelle und zwar
auch hier wie auf dem Theater in dem Sinne, daß die bezeichnenden
Gesten der Peripetiestellen erhalten sind, die minder eigenartigen
dagegen den Platz wechseln : gelegentlich fortgelassen und dagegen
anderwärts öfter angewendet werden können; der späteren Haltung
des Theaters entsprechend ferner der Umstand, daß bis auf den
Blick der Augen der Gesichtsausdruck nicht verwendet wird und
daß die Bewegung der Arme zurücktritt: auch das hier wie dort
durch den genauen Anschluß an die Vorlage. Leise, nur dem
Epischen eigene Nuancierungen stellen sich freilich gelegentlich
schon ein : ein Bleichwerden etwa, das auf dem Theater undenkbar
ist; Christus sieht bei Otfried, der hier Bedas Kommentar benutzt,
den verleugnenden Jünger mit gnädigem Augenausdruck an; das
Schlagen der Klagenden an die Brust, das im Evangelium zwar
1) Von dem Verliältnis Otfridischer Gebärdensprache zu der der bildenden Kunst
wird noch die Rede sein.
206 Diß Gesten der neutestamentlichen Erzählung in Deutschland.
vorkommt, vom Theater aber aus dogmatischen und liturgischen
Gründen verschmäht wird, wird mehrfach erwähnt, und einmal
schließt sich sogar Haarraufen an, ja eine ganz individuelle Fort-
bildung ist möglich: Kaiphas springt zornig vom Stuhl auf; die
liturgiegemäße Ersetzung des prosternere durch das genuflectere ist
nur im Heiland öfter zu beobachten; die Verwendung der Stimm-
töne ist sehr eingeschränkt — das Weinen überwiegt durchaus um
so mehr, als im Heiland wie bei Otfrid zugunsten einer seltsamen
Freude an der Träne die peinliche Wiedergabe der kanonischen
Erzählung nicht ganz selten unterlassen ist. Ein ähnliches Gesamt-
bild: im allgemeinen quellentreu, hie und da aber einmal, zum
Teil durch den Reim befördert, ein kleiner Zusatzzug, der vom
Historischen und Strengliturgischen sich entfernt, findet sich noch
im Anfang des zwölften Jahrhunderts, im Leben Jesu der Vorauer
Handschrift. Wenn dann aber in der dichterischen Erzählung der
heiligen Hergänge ein Umschwung sich ankündigt, soweit die Dar-
stellung der körperlichen Beredsamkeit in Frage kommt, und somit
eine schärfere Scheidung des Geistlich-Epischen und des Geistlich-
Theatralischen sich ergibt, so ist das nicht sowohl auf eine selb-
ständige Fortbildung jener geringen Ansätze zu größerer Freiheit,
auch nicht auf die Umgestaltung der weltlichen Kultur und der
weltlichen Dichtung, als vielmehr darauf zurückzuführen, daß die
geistlichen Poeten sich meist nicht mehr damit begnügen, die ka-
nonischen Texte zu bearbeiten, sondern daß die neue erzählungs-
frohe Zeit nun mit Vorliebe zu den Apokryphen greift, die, wie wir
sahen, das Theater doch immer nur nebenher heranzieht. Noch
sind die Folgen nicht allzu groß: eine deutliche Vorstellung von der
Sparsamkeit der kanonischen Gesten bleibt bestehen, zumal wenn
die Bearbeiter an die Hergänge in Christi Leben kommen, für die
die vier Evangelien die beste Quelle bleiben. Aber diese Sparsam-
keit wird angesichts der einreißenden Buntscheckigkeit des Grund-
materials nun mitunter so groß, daß, wie in der „Erlösung" des
ausgehenden 13. und dem Passional des beginnenden M.Jahrhunderts,
auch jene stabile Gestenreihe der Peripetiestelle auf wenige Szenen
zusammenschrumpft, während das Theater gerade sie durchaus
festhält. Ferner: die apokryphen Texte selbst geben, wie schon
erwähnt, positiv genommen nicht so viel den Evangelien fremde
Gesten her, und es mag sogar auffallen, daß diese etwa in dem
deutschen Nicodemusevangelium des 14. Jahrhunderts wie absichtlich
ausgemerzt erscheinen. Aber diese Gesten der neuen Vorlagen
sind nicht wie die der heiligen Texte durch ausdeutende Kommen-
tare gedeckt, und so kann hier gelegentlich ein moderner Zug
leichter sich einschleichen als vorher, die Hand eine etwas größere
Rolle spielen imd so fort. Und wenn einmal ein nicht geistlicher
Dichter über eine solche apokryphe Quelle kommt wie Konrad von
Umschwung durch die Marienepik. 207
Fussesbrunnen, der im Anfang des 13. Jahrhunderts nach einem Teil
des Pseudo-Matthäusevangehums die Kindheit Jesu bearbeitete, so
bekommen wir zu lesen, daß Maria bei der Erscheinung des Engels
Gabriel die Hände in den Schoß fielen, daß Joseph, als er Maria
schwanger findet, vor Leid sein Gewand zerrte und in der Über-
zeugung, der Engel sei ein Betrüger gewesen, mit den Fäusten
gegen sein Herz schlägt. Solche Züge fallen völlig aus dem Stil
des Evangeliums, des Theaters, des geistlichen Epos heraus und
weisen auf die weltliche erzählende Dichtung hin.
Auch von hier aber kommt die endgültige Fortbildung nicht,
sondern von dem Umstand, daß sich noch eine neue letzte Quelle
für heilige Erzählung findet, die eine noch größere Freiheit vom
Kirchlichen ermöglicht. Die apokryphen Evangelien waren doch
immerhin auch ehrwürdige Berichte aus alter Zeit gewesen; nun
aber handelt es sich um schriftstellerische Erzeugnisse der unmittel-
baren Gegenwart. Über die Vorgeschichte, die Ehegeschichte und
den Tod der Jungfrau Maria, die mit so überwältigender Macht in
den christlichen Kult und die christliche Kunst eingetreten war,
gaben jene Apokryphen Auskunft; in Christi Leidensgeschichte aber,
die nun auf der Höhe des Mittelalters das wesentliche Interesse in
Anspruch nahm, gaben die Evangelien ihr nur einen kleinen Platz.
Man begnügte sich zunächst damit, ihre Klagen um Christi Leiden
und Tod lyrisch in lateinischen und deutschen Dichtungen zum
Ausdruck kommen zu lassen; aber das epische Zeitalter verlangte
auch eine gewisse erzählende Form. Hilfe kam von dem Lande,
das überhaupt das Zentrum der epischen Kunst seit dem zwölften
Jahrhundert darstellt; wenigstens geht der in zahlreichen Hand-
schriften und Frühdrucken verbreitete Tractatus de planctu beatae
Mariae, der den Übergang von der Lyrik zur Epik darstellt, unter
dem Namen des heiligen Bernhard von Clairvauxi). Hier sind nun
die Schmerzensergüsse der Maria auf die fünf Situationen: Kreuz-
tragung, Kreuzigung, Tod, Kreuzabnahme und Grablegung verteilt,
und die fünf Abschnitte des lyrischen Monologs sind durch epische
Bindeglieder zusammengehalten, die besonders durch den Hinweis
auf körperliche Ausdrucksformen des Schmerzes gebildet werden.
Zunächst bis zu Christi Hinweis auf Johannes berichtet die ver-
klärte Maria dem Verfasser den Hergang, dann nimmt dieser
selbst das Worts); und wenn in den ersten Teilen die rehgiöse
Sentimentalität der Zeit nur in einer besonders starken Ausnutzung
1) Janauscheck, Bibliotheca Bernhardina (Wien 1891), weiß auch nichts Positives
über den Vf. anzugeben ; ebensowenig Wechsler, Die roman. Marlenklagen (Halle 1893) S.17.
2) Diese plötzliche übergangslose Veränderung scheint mir darauf hinzuweisen, daß
hier zwei Arbeiten kontaminiert sind, daß also die erste Einführung heftiger Gestikulation
in die Darstellung heiliger Hergänge noch etwas weiter zurück verfolgt werden könnte —
aber dem darf hier natürlich nicht weiter nachgegangen werden.
208 Umschwung durch die Marienepik.
der biblisch-liturgisch zulässigen Klagetöne und Tränenströme sich
genug tut, setzt dann mit Christi Tod eine wahrhaft Bernhardische
Pathetik auch in der Auswertung der Gesten Maria ein: nicht nur
fließen die Tränen ins Ungemessene i), sondern der ganze Körper
tritt in Aktion: ohnmächtig sinkt Maria nieder, sie steht wieder auf,
geht ruhelos einher, sie umarmt und küßt die Leiche des Sohnes,
und vor allem: nun werden auch die Arme gebraucht, um der
schmerzenden Sehnsucht einen Ausdruck zu leihen; wiederholt heißt
es: manus in altiim levabat — dem Kreuz entgegen, an dem der
Geliebte unerreichbar hangt, und mit dem se ad cervicem manibiis
percutiebat tritt eine neue eigenartige Klagegebärde ein. Mit dieser
ersten Emanzipation aber ist das Signal gegeben für eine Lockerung
der Gesamtbeschränkung auf dem Gebiete der neutestamentlichen
Erzählung auch für Deutschland. Die vielverbreitete „Klage unser
Frauen", die eine erweiternde Bearbeitung des Planctus ist-), über-
nimmt jene Lebhaftigkeit der Gebärdensprache und setzt gar für das
übliche lacrimas fiindere der Vorlage das dort noch nicht gewagte
fie wunden ir hende ein. Noch weiter ist die Freiheit getrieben bei
dem wohl mit Hugo von Trimberg identischen Verfasser einer
bis ins 16. Jahrhundert vielbenutzten Vita beatae virginis et sal-
vatoris rhythmica^), die auf apokryphe Evangelien und Legen-
den viel mehr sich stützt als auf die kanonischen Berichte und
für die Schmerzen der Maria den eben behandelten Planctus
zugrunde legt. Die Schranken sind gefallen, und so tobt Maria
ihren Jammer in einer noch weiter gehenden Gestikulation aus,
die hier sogar schon vor der Kreuztragung einsetzt (v. 5078 ff.):
Complodit manus, tundens pectus, stridat, clamat, plorat,
Evulsit crines, peplum scidit, caput verberavit,
Genas sulcans unguibus vestes laceravit,
Modo cadit, modo surgit, nunc stabat, nunc sedebat,
Sepe versus filium manus extendebat.
Solche Schilderungen kommen immer wieder, und nun wird auch
das Gesicht der Verzweifelnden genauer beschrieben (v. 5495 ff.) :
Tantum ploraverat lacrimas fundendo,
Quod ipsius oculi iam sanguine rubebant
Et ipsius palpebre corrose iam tumebant,
Atque sue rosee gene iam pallebant,
Et fuscata lacrimis facies marcebat . . .
1) Gesichtsmimik bleibt wieder auf pallere und riilUis beiiiijiiiis beschränkt.
2| Her. von Milchsack, Beiträge z. Gesch. der deutschen Spraclie und Literatur 5,
S. 193{f., noch ohne den richtigen Quellennachweis. S. dann Piper, Die geistliche Dichtung
des Mittelahers 1, S. 307. Vgl. ferner die mnd. Bearbeitung, die F. Rohde herausge-
gel)en hat (Königsb. Diss. 1911). Bei Walther von der Vogelweide (37, 9. 18. 21) neben
dem jämetiichen we/ne/j wenigstens auch: f'i verlos ir varwe . . . . fie feie iinmehtig nider
3) Her. von Vögtlin: Slullg. Lif. Ver. 180 (1888); vgl. Ja ekle i n : Frogr. Bamberg 1901.
Die Gebärden der Marienepik. 209
Himmelweit sind wir hier von der dogmatisch begründeten Art
der älteren Evangelienharmonie und gar von der noch dazu hturgisch
geforderten Kargheit der theatralischen Vorführung entfernt.
Und doch — es finden sich deutliche Zeichen, daß das aus-
gehende Mittelalter neben solcher Entartung der alten strengen
Darstellung doch auch in der Erzählung ein Gefühl dafür hat, daß
jene neuen Elemente eigentlich nicht zulässig sind. Wohl tritt
hier, wo die Kunst mit dem gottesdienstlichen Betrieb keinerlei offi-
ziellen Zusammenhang hat, die eigentliche Evangeliendichtung auf
kanonischer Grundlage mit Ausnahme der ganz kurzen „Tagzeiten"
zugunsten der Legendenpoesie ganz zurück, — der „Kreuzträger"
des Johannes von Frankenstein aus dem 14. Jahrhundert ist halb
und halb gereimte Abhandlung, immerhin in bezug auf die Be-
handlung der labilen und stabilen Gesten, welch letztere hier auch
in umständlicher Dogmatik erläutert sind, durchaus archaischen
Charakters; die „Passio" des Johannes Rothe aus dem 15. Jahr-
hundert bietet, so weit wir sie besitzen, nur Pilatuslegende. Be-
zeichnend aber ist es, daß jener Gestikulationsreichtum der Vita
Mariae auf die Schmerzkapitel beschränkt bleibt, während im übrigen
vielfach eine besonders altertümliche Dürftigkeit herrscht. Be-
zeichnend ferner, daß zwar am Ende des 13. Jahrhunderts Walter
von Rheinaus deutsche Wiedergabe der Vita wie alles andere so
auch die barocke Gebärdensprache der lüageabschnitte unverändert
herübernimmt, daß aber im nächsten Jahrhundert der Bruder
Philipp, dessen Marienleben sich an das gleiche Original hält, die
lebhaften Klänge ganz beseitigt oder doch so stark gedämpft hat,
daß sie kaum noch aus dem Gesamtstil herausfallen. Das am
meisten Charakteristische aber findet sich in einer der prosaischen
Passionsdarstellungen in deutscher Sprache, die im 15. Jahrhundert
neben ledighch mit Bibelworten arbeitenden Evangelienharmonien
weit verbreitet ist^). Hier ist zwar die Schilderung körperlichen
Schmerzensausdrucks ins Barocke gesteigert, die Vorführung der
jüdischen Grausamkeit und der Leiden Christi so detailUert ausgemalt,
daß man (vgl. o. S. 148) geneigt wird, die Ausgestaltung der Marter-
szene im Passionsspiel nicht nur auf städtischen Naturalismus zu-
rückzuführen — die Ausmalung des seelischen Leides dagegen hält
sich in gemessenen Grenzen, und bei der Schilderung des furcht-
baren Schmerzes der Gottesmutter wird ausdrücklich hervorgehoben,
daz die Jiinckfraw dennoch ir jiinckfrewlichen zucht nye vergaß,
daz fie het ir arm aiizgeworffen oder ir fti/mm erhoben oder zu der
erden gefallen, wann ftill haymlich und verporgen was ir fmeriz in
irem hertzen^). Das ist doch wohl ein bewußter Protest des Ver-
1) überliefert ist siez. B. in den Berliner Mss. germ. 4^ 127, 167; fol. 1222 (wo aber
die oben zitierte Marienstelle ausgelassen scheint).
2) Ähnlich, wenn auch nicht so deutlich, heißt es in einer Erörterung De iiostra
H e r r m a n u , Tlieater. 1 -1
210 Die Gesten in der geistlichen Bildlvunst. Liturgisclie und dogmatische Bindung.
fassers gegen die Auswüchse der Marienepik. Und ein Protest
vielleicht auch gegen die Darstellung der bildenden Kunst.
Die Gesten in der geistlichen Bildkunst des deutschen Mittelalters.
Zunächst scheint es freilich, wenn wir es nun wagen i), die
Verhältnisse in der bildenden Kunst ins Auge zu fassen, um
auch von dorther die Gestaltung der theatralischen Gebärde zu be-
leuchten, als ob zu einer solchen Klage über künstlerische Zügel-
losigkeit dort gar nicht die Möglichkeit gegeben sein kann. Denn
im Gegensatz zu der epischen Behandlung des Heilandslebens, die
von vornherein auf Außerkirchlichkeit gestellt ist, und in weit
höherem Grade als die Vorführung der heiligen Vorgänge in der
Theaterkunst, die rasch aus dem Banne des Gottesdienstes entlassen,
doch nur den Stempel der Nebenkirchlichkeit, die geisthche Auf-
sicht behält, bleibt die Darstellung Christi und seines Lebenskreises
durch die bildende Kunst in allem Wesentlichen unmittelbare Ver-
anstaltung der Kirche. Sie ist geradezu ein Teil des Gottesdienstes:
bestimmt zur Ausschmückung des Gotteshauses und der dem Gottes-
dienst gewidmeten Handschriften, vielfach in der Absicht dargeboten,
dem Laien die Bekanntschaft mit den heiligen Hergängen durch die
Anschauung zu vermitteln, weil ihm die Darstellung durch das
Wort bei der Fremdheit der Sprache unverständhch bleiben muß.
So ist es von vornherein wahrscheinlich, daß die Auswahl und die
Ausführung der darzubietenden Szenen sehr stark von gottesdienst-
lichen und dogmatischen Standpunkten aus getroffen sein muß
und daß, nachdem in der frühchristlichen Zeit vor der strengen
Durchführung der Kanonbeobachtung und der liturgischen Gesetz-
mäßigkeit auch die nicht kanonischen Evangelienerzählungen einen
gewissen Einfluß auf die Kunst geübt hatten, neues Eindringen
apokrypher und legendärer Elemente im allgemeinen immer erst
dann möglich wurde, wenn der Gottesdienst derartigen Dingen sich
doinina de pietate, die Grässe im Anhang zur Legenda aurea des Jacobus a Voragine
abdruckt (Dresden 1843 S. 937): , . . non capillos vel viiltiim fcindebat, quia vidua et sine
filin consolatore reinanebat, sed stabat verecunda, modesta, laciyinis plena. doloribiis
irnmersa. Vgl. auch Zappert, Note 2ß(i.
1) Angesichts des kunstgeschichtlichen Betriebes der Gegenwart, der in seiner we-
sentlich formgeschichtlichen Betrachtungsweise so glänzende Erfolge erzielt, dafj er die zur
Ergänzung des Gesamtverständnisses auf dem Gebiete des Mittelalters unentbehrliche ikono-
graphische Betrachtungsweise allzu sehr vernachlässigt, ist es nicht ganz leicht, sich hier
zu orientieren. Ein tüchtiger Führer ist F. X. Kraus, Geschichte der christlichen Kunst,
Bd. 11, 1 (Freiburg 1897); danetien und im besondern für Deutschland etwa noch K. Bergner,
Handbuch der kirchlichen Kunslallertümer in Deutschland (Leipzig 1905). Wir haben uns
aber nicht damit begnügt, diese Werke und die Sonderuntersuchungen, von denen einige
weiterhin genannt sind, auszunutzen, sondern das künstlerische Material selbst, soweit
es in Druckwerken oder Photographien zugänglich war, zum großen Teil selbst durch,-
gearbeitet.
Auswahl der Szenen. Älteste Reihe: Perikopenkiinst. 211
nicht mehr verschloß. Solche Erfüllung der Kunst mit liturgischen
und dogmatischen Geheimbeziehungen aber ist dadurch ermöglicht,
daß die Kunst zunächst viele Jahrhunderte lang allein durch Geist-
liche ausgeübt zu sein scheint (man denke vor allem an die Bene-
diktiner) und daß dann in der letzten mittelalterlichen Epoche, als
auch weltliche Meister und sie in erster Reihe die Kunst be-
treiben, die geistliche Kontrolle, unter der der Maler zu arbeiten hat,
einen gewissen Ersatz bietet. Dienste in dieser Richtung leisteten
im späteren Mittelalter wohl auch die sogenannten Bibliae pauperiim,
unter denen man sich durchaus keine biblischen Bilderhandschriften
und Bilderbücher für den zahlungsunfähigen Mann vorstellen soll ;
darf man in ihnen auch nicht etwa, wie es neuerdings geschehen ist,
geradezu Malerbücher sehen, wie es für die byzantinische, noch
weit strenger gebundene Kunst durch das berühmte Buch vom
Berge Athos dargestellt wird, so konnten sie doch wohl dazu dienen,
dem nicht dogmatisch gebildeten Maler die Einstellung in die kirch-
lichen Ideen ermöglichen zu helfen.
Man wird sagen können, daß sich die Auswahl der uns hier
interessierenden neutestamentlichen Szenen für die bildliche Dar-
stellung in drei Entwicklungsreihen vollzieht, nachdem die früh-
christliche, wesentlich auf die Ausbildung von Symbolen bedachte
Kunst nur ganz wenige Historienbilder vorgeführt hatte; diese drei
Stufen sind aber nicht scharf voneinander geschieden, sondern die
auf jeder wirksamen Mächte zeigen diese Wirkungskraft auch noch
hie und da, nachdem sie im ganzen von neuen Prinzipien abgelöst
sind. Die erste Periode, die in Deutschland besonders durch die
karohngische und ottonische Kunst i) vertreten ist, ist im allerengsteh
Sinne als liturgisch zu charakterisieren. Hier schließen sich die
bildhchen Darstellungen aufs strengste an die Evangehenabschnitte
der kirchlichen Perikopen des sog. Comes an : an die den Evange-
lien entnommenen Vorlesungen des Gottesdienstes zumal der Sonn-
und Festtage, wie sie seit dem Anfang des achten Jahrhunderts
durch die römische Kirche festgesetzt sind und ohne grundsätzhch
allzuwichtige Veränderungen das ganze Mittelalter hindurch bestanden
haben. Die davon irgendwie zu bildnerischer Darstellung ver-
wendbaren Situationen werden zum Miniaturschmuck der liturgischen
Bücher, in erster Reihe eben der Evangeharien, herangezogen, ebenso
aber auch (leider ist davon nur wenig erhalten) an den Wänden
des Gotteshauses den Laien zur Schau gestellt. Die weitaus größte
1) Wichtigste Arbeiten: F. F. Leitschuh, Geschichte der karolingischen Malerei; ihr
Bilderkreis und seine Quellen (Berlin 1894) und W. Vöge, Eine deutsche Malerschule um
die Wende des ersten Jahrtausends (Trier 1891). Ikonographische Übersichten über
größere Materialteile ferner bei St. Reis sei, Die Bilder der Handschrift des Kaisers Otto zu
Aachen (Aachen 1886), bes. S. 52 ff. und Des hlg. Bernward Evangelienbuch im Dom zu
HUdesheim (ffildesheim 1891), bes. S. 42 ff.
14*
2;[2 Zweite Reihe: Typologie.
Zahl der Bilder gehört der Darstellung der Lehr- und Wunderwirk-
samkeit Christi an: die sonntäglichen Lesestücke sind wesentlich
unter dem Gesichtspunkt eines moralisch-dogmatischen Zusammen-
hanges mit dem Sinn des betreffenden Tages gewählt i), und dafür
kommen wenigstens in der ottonischen Kunst vor allem neben
Christi Jugend die Abschnitte der Evangelien in Betracht, die von
der aktiven Tätigkeit des Herrn handeln; die Leidenszeit steht sehr
zurück. Befördert mag diese Auswahl der Bilder im ersten Jahr-
tausend nebenher auch dadurch sein, daß immer noch eine Tradi-
tion von den frühchristhchen Zeiten her bestand, in denen die
schwer leidenden christlichen Gemeinden mehr an Christi Glorie
sich zu erfreuen als durch Christi Martern noch stärker sich be-
drücken zu lassen gesonnen waren.
Schon unter der Herrschaft dieses Prinzips findet sich vielfach
eine künstlerisch mitgeteilte Concordantia veteris et novi testamenti:
zu den Perikopen gehören auch Abschnitte aus dem alten Testament,
und diese gehen mit den Stellen aus dem neuen in die bildlichen
Darstellungen über. In einem neuen Sinn aber werden in der
nächstfolgenden Periode alt- und neutestamentliche Szenen mit-
einander vereint: während bisher die alttestamentlichen Bilder auch
fehlen konnten, nichts direkt mit den neutestamentlichen zu tun
hatten, ist jetzt die Auswahl der letzteren geradezu durch die
Möglichkeit bedingt, die Bilder aus der altjüdischen Geschichte bei-
geben zu können, und sie bleibt im geheimen maßgebend auch
da, wo schließlich die alttestamentarischen Bilder fortgelassen und
nur die neutestamentarischen geboten werden. Es handelt sich um
eine Ausdehnung des von der dogmatischen Schriftstellerei längst
ausgebeuteten Verfahrens, Stellen des alten Testaments als Vor-
deutungen auf die Geschichte Christi zu benutzen, auf das Gebiet
der Kunst 2). In älteren Zeiten finden sich hier Spuren solcher
„typologischen" Malerei nur ganz gelegentlich; nun aber wird sie
für die späteren Teile des Mittelalters viel verwendet und besitzt
eine Zeitlang beinahe die Alleinherrschaft: in Deutschland seit dem
ausgehenden zwölften Jahrhundert. Auf Wandgemälden und Altar-
bildern, auf Schnitzaltären und Portalskulpturen, in Glasgemälden
und Stickereien zeigt dieses System seine Macht ; besonders aber
beherrscht es die Bilderhandschriften: jene schon oben erwähnten
Bibliae pauperum, die dann noch in der xylographischen Periode
1) Vgl. etwa E. Ranke, Das kirchliche Perikopensystem aus den ältesten Urkunden
der römischen Liturgie (Berlin 1847) S. 2()4ff. Beissel, Des hlg. Bernward Evangelien-
buch S. 51 ff.
2) Wichtigste Arbeiten: G. Heider, Beiträge zur christlichen Typologie aus Bilder-
handschriften des Mittelalters : Jahrbuch der k. k. Zentral-Kommission zur Erforschung und
Erhaltung der Baudenkmale 5 ^Wien 18ßl) S. 1 — 128; W. L. Schreiber in Biblia pau-
perum, her. V. P. Heitz (Straßburg 1903) S. 1—45.
Dritte Reihe: Vorwiegen des Historischen. 213
eine wichtige Rolle spielen, und ihre Verwandten : die Specula hii-
manae salvationis, Concordantiae caritatis und Bibliae picturatae. Für
die Auswahl des neutestamentlichen Darstellungsstoffes, zumal für
die Bevorzugung oder Zurückstellung ganzer Abschnitte aus dem
Leben des Herrn, gibt dieses Konkordanzprinzip kaum ganz ent-
scheidende Gesichtspunkte her: denn bei der scholastisch ver-
zwickten Denkweise, die solche Parallelen ausfindig macht und be-
greift, wären zur Not wohl für die meisten neutestamentlichen Szenen
alttestamentliche Entsprechungen ausfindig zu machen gewesen.
So wirkt wohl im einzelnen die schlagende Übereinstimmung mit
altjüdischen Hergängen hie und da auswahlbestimmend, im ganzen
aber beginnen auch die Leistungen der Bibliae paiiperum und ihrer
Verwandten, den Tendenzen sich unterzuordnen, die das ausgehende
Mittelalter, wie wir alsbald sehen werden, in bezug auf die Aus-
wahl des künstlerischen Materials überhaupt beherrschen.
Die dritte, noch nicht behandelte Reihe mittelalterlicher Dar-
stellung nämlich ist so wenig sicher von dem eben behandelten
Kreise, ja auch von der Perikopenkunst abzugrenzen, daß vielmehr
nicht nur ein zeitliches Verschwimmen der Grenzen, sondern auch
manche innerliche Wechselbeziehung sich nicht verkennen läßt.
Immerhin wird sich sagen lassen, daß diese letzte Richtung in ihren
deutlichen Ausprägungen auch zeitlich am letzten hervortritt. Daß
es sich nur um eine Richtung handelt und nicht um mehrere
verschiedenartige, ist freilich gegenwärtig noch nicht völlig sicher;
doch scheint es, daß der spezifisch historische Gesichts-
punkt nun in der Hauptsache maßgebend wird^), wie denn jetzt
auch die Hergänge des alten Testaments denen des neuen nur in
ihrer zeitlichen Abfolge vorangestellt werden können, so daß auf
solche Art eine gesamte historia sacra zustande kommt, und wie
denn auch kleinere in sich geschlossene Ereignisfolgen in Bildern
behandelt werden. Nur muß man bedenken, daß wir uns eben im
Mittelalter befinden und daß neben der rein empirischen Freude,
die die neuen Lebenskreise der allerletzten Jahrhunderte an dem
einfachen Nacheinander der Ereignisse unter Hervorhebung mar-
kanter Situationen empfinden, auch die rein dogmatische Geschichts-
auffassung der älteren Zeit noch sehr lebendig ist, die nicht sowohl
auf Entwicklung der Ereignisse als auf die Entwicklung der gött-
lichen Idee acht gibt und die Auswahl der darzustellenden Szenen
von solchen Gedanken aus zu treffen liebt. Ein wirkliches Ver-
ständnis für die im späten Mittelalter gebräuchlichen Bilderfolgen
und für die aus dem Zusammenhang herausgelösten, aber doch
durch ihn bedingten Einzeldarstellungen wird sich erst erzielen
1) So schon in den Psalterminiaturen des 13. Jahrhunderts, die Haseloff untersucht
hat: Eine thüringisch-sächsische Malerschule des 13. Jahrhunderts (Straßburg 1897), bes.
S. 35 ff.
/
214 Auswahl der Szenen im Ausgang des Mittelalters.
lassen, wenn sich eine genaue Kenntnis der historiographisch-theo-
logischen Ideenwelt des Mittelalters an eine genaue Durchmusterung
des ungeheuren Materials wagt; vorläufig tritt uns noch so manches
Rätsel entgegen, das sich nicht durch den Hinweis auf die in diesem
Zeitalter fortschreitender Losbindung der Geister allerdings immer
mehr mitbestimmende individuelle Vorliebe der Künstler und des
Publikums für bestimmte Situationen wird lösen lassen. Reicher
als bisher wird Christi Jugendgeschichte ausgestaltet und nament-
lich die Vorgeschichte seiner menschlichen Existenz in verschiedenen
Bildern behandelt; die Zeit seiner Lehr- und Wundertätigkeit gibt
nun nur noch ganz wenige Darstellungen her oder fällt gar voll-
ständig aus; umgekehrt wird dagegen jetzt der Passionshergang in
eine ganze Anzahl einzelner Szenen zerlegt: beinahe mehr noch als
der Auferstehung und der Verklärung zufallen, die das Ganze ab-
schließen. Entscheidend ist die Einschrumpfung der Lehr- und
Wunderdarstellung und die Ausdehnung der Passion — bedingt ist
solcher Wandel wohl in erster Reihe durch die historisch-dogmatische
Auffassung, die in Christi Menschwerdung und Opfertod die eigent-
lich umwälzenden Geschichtsmomente erblickt. Anderes wirkt gewiß
mit: so der ungeheuere Eindruck, den dieser lebensbejahenden
Periode des ausgehenden Mittelalters gerade die von Stufe zu Stufe
sich steigernde Lebensverneinung des Leidens und Sterbens Christi
machen mußte; weiter die im 12. und 13. Jahrhundert auf die Höhe
geführte Marienverehrung i): man brauchte nun auch ganze Dar-
stellungsreihen des Lebens der Jungfrau, und wie in ihnen die Zeit
der aktiven Lebenswirksamkeit Christi beinahe ganz zurücktreten
mußte, ihre Teilnahme an Christi Leidensweg dagegen ausgestaltet
werden konnte, so zeigt sich nun auch in der gesamten neutesta-
mentlichen Bildkunst die Neigung, solche Szenen vorzuführen, bei
denen Maria mit erscheint, und führt den ikonographischen Gesamt-
verlauf ebenfalls in die vorher gekennzeichnete Richtung. Lit-
urgische Bedürfnisse im engeren Sinn wirken auch in dieser Periode
noch bestimmend mit auf die Auswahl oder auf jenes Herausnehmen
einzelner Teile aus dem Gesamthergang des Erlöserlebens: der
Sonderzweck einzelner Gotteshäuser oder bestimmter Teile des
Gotteshauses ist da vielfach maßgebend. Und endlich darf man
nicht vergessen, daß wie in allen Perioden der hier in ihren Grund-
zügen geschilderten Entwicklung so namentlich in der letzten Aus-
wahl und Anordnung der Darstellungen auch von den formalen
Bedingungen mitbestimmt sind, unter denen sie geschaffen werden,
— im ausgehenden Mittelalter am meisten, weil hier die Raum-
verhältnisse: der Altaranlagen, der Portale etwa, am kompliziertesten
1) Vgl, bes. St. Bei.ssel, Die Verehrung U. L. Frau in Deutsehland während des
Mittelalters (Freiburg IflOi)) S. 195 ff. S. aiicli o. S. 207.
Die Frage der „stabilen Gesten". 215
sind. Die Geschichte jedes einzehien solcher Gebilde scheint daher
immer noch besondere ikonographische Eigentümlichkeiten in der
Behandlung des Heilandslebens erkennen zai lassen i).
Und so vorbereitet gehen wir nun an die Beantwortung der
Frage, die wir im Auge haben: wie verhalten sich die Ausdrucks-
bewegungen dieser bildenden Kunst zu denen, die wir für das
Theater festgestellt haben? Wir achten zunächst auf jene Reihe
„stabiler Gesten" beim Beginn der eigentlichen Passion, die in der
Aufführung regelmäßig wiederkehren: Ölberggebet, Judaskuß, Um-
fallen der Krieger, Kleidzerreißen des Hohenpriesters, Christi Blick
auf Petrus, Petri bitterliches Weinen — wie stehts mit ihnen in der
deutschen Bildkunst?
Die karolingisch-ottonische Zeit, die Perikopenbilderperiode
stellt von den in Betracht kommenden Szenen außer dem äußerst
seltenen Ölberggebet nur die Gefangennahme und die Vorführung
Christi vor den Hohenpriester dar; letztere bringt als Geste die
Kleidzerreißung, jene nie das Zurückfallen der Häscher, sondern
nur den Judaskuß, der freilich mehr durch ein Anlehnen, gelegentlich
geradezu durch eine Umarmung ersetzt ist: aus formalen Gründen
jedenfalls. In der typologischen Darstellungsweise, zumal in ihrer
schärfsten Ausprägung, der Biblia pauperiim, finden wir besonders
gern den Judaskuß, daneben auch das Zurückfallen der Häscher
vorgeführt; schließlich geht auch in diesen Kreis das Ölberggebet
Christi ein. Seit dem 14. Jahrhundert nämlich wird dieser spezifisch
psychologische Hergang und sein Gestus ein Lieblingsgegenstand
der Kunst und erscheint auch beinahe regelmäßig in den mehr
historischen Bilderfolgen, die ihn vor dieser Zeit noch nicht auf-
weisen — auch in ihnen steht im übrigen der Judaskuß obenan:
kein Wunder, da es sich hier um etwas handelt, was Gestus und
Aktionsmoment zugleich ist; das Kleidzerreißen des Hohepriesters
und auch das Zurückfallen der Juden sind gelegentlich zu finden
— aber doch eben nur gelegentlich. Christi Mahnungsblick und
Petri bittere Reue scheinen in der deutschen Kunst in keiner der
drei Entwicklungsreihen dargestellt worden zu sein.
„Scheinen" — denn natürlich läßt es sich nicht ganz sicher
sagen, ob nicht doch irgend wo eine Vorführung der ganz ver-
nachlässigten Szenen auftaucht oder ob die Zahlen für die ganz
selten gebrachten Momente nicht noch ein wenig steigen. Für
unsere Betrachtung wäre das gleichgültig: wichtig kann nur ein
1) Ich weiß nur eine solche Sonderdarstellung zu nennen: G. Sanoner, La vie de
Jesus-Christ racontee par les imagiers du inoyen äge sur les portes d'eglises : Revue de
l'art chretien 48—51 (1905—1908). Viel Material bei Müntzenberger und Beissel,
Zur Kenntnis und Würdigung der mittelalterlichen Altäre Deutschlands (Frankhirt a. M.
1885— 1905).
216 Keine „stabilen Gesten" in der Bildkunst.
sehr häufiges Vorkommen dergleichen Szene sein, und die Sicherheit
geben uns die oben gebotenen allgemeinen Auseinandersetzungen,
daß von einer wesentlichen Verschiebung der eben gekennzeichneten
Verhältnisse kaum die Rede sein kann. Da die Auswahl der Dar-
stellungen von den Perikopen abhängt, in ihnen aber die Passions-
erzählung des Lukas überhaupt keine Rolle spielt, kann der nur
hier berichtete ausdrucksbetonte Hergang zwischen Christus und
Petrus in der Kunst nicht erscheinen; da die Passionskapitel aus
Matthäus und Johannes nicht wie so viele andere Evangelienkapitel
in kleinen Abschnitten an den einzelnen Sonntagen, sondern nur
in ihrer Gesamtheit in der Karwoche verlesen werden, so hat eine
Episode wie die des Zurückfallens der Häscher keine Aussicht auf
Behandlung in der Kunst, und auch die Ölbergszene tritt um so
eher zurück, als der äußerlich anregendste Bericht : der des Lukas
fortbleibt. Die typologische Darstellungsart wird wesentlich auf die
Vorführung der oben herausgehobenen Szenen beschränkt geblieben
sein, weil sich zu den übrigen zwei Gegenstücke aus dem alten
Testament nicht haben finden lassen. Am größten ist die
Freiheit des Künstlers in der letzten, der historischen Darstellungs-
reihe, obschon es uns ja vielleicht nur an der Erkenntnis noch
latenter Gebundenheiten gebricht. Aber auch hier werden wir
sagen: das völlige Fehlen des mahnenden Christusblickes und der
Reuetränen Petri wie das seltene Vorkommen namentlich des Um-
fallens der jüdischen Häscher ist begreiflich. Die historische Be-
handlung strebt der Vorführung der Leiden Christi zu und läßt
daher alle episodisch-retardierenden Momente beiseite. Und so
zeigt es sich deutlich: nirgendwo bietet die bildende Kunst jene
eben in ihrer Aneinanderreihung imponierende Folge der stabilen
Gesten, die auf dem Theater den Umschwung in Christi Leben, den
Beginn der Leidenszeit sinnfällig machen.
Und noch in einem weiteren Sinn können wir uns nun die oben
versuchte allgemeine Charakteristik der ikonographischen Ent-
wicklung für den Vergleich des Theaters mit der bildenden Kunst
zunutze machen: der theatralische Sinn der Hervorhebung jener,
durch das Original schon fast dramatisch gebotenen, Ausdrucks-
bewegungen an der Peripetiestelle hat zur Voraussetzung, daß die
vorhergehenden wie die folgenden Ereignisse in einer gewissen
gleichmäßigen Ausführlichkeit dem Publikum vorgeführt werden.
Das aber pflegt in den Bilderfolgen des Mittelalters im allgemeinen
nicht der Fall zu sein, zumal wenn wir diejenigen ausschließen,
die zunächst zu einer fortlaufenden Betrachtung nicht bestimmt
sind: die Handschriftenillustrationen, Die im letzten Sinne durch
die Perikopen bedingte Kunst der älteren Zeit hat im ganzen über-
Keine „stabilen Gesten". Die ,,lal)ilen Gesten", 217
haupt keine streng chronologische Anordnung '). Im späteren Mittel-
alter ist die historische Anordnung prinzipiell wohl die übliche;
eine Peripetiestelle durch Festhaltung einer Reihe bedeutsamer
Ansdrucksbewegungen herauszuheben, kann aber darum hier nicht
in Betracht kommen, weil nun die Darstellung der Lebenswirksam-
keit auf ein Minimum zusammengeschmolzen ist, so daß oft sogar
die Leidensdarstellung unmittelbar an die Jugendgeschichte sich
anschließt. Ferner aber wird die strenge Folge der Szenen oft
genug durch die Darstellung einzelner heiliger Gestalten, durch
Erbärmde-, Gnadenbilder und dgl. unterbrochen, oder jene formalen
Rücksichten, auf die Form des Altars z. B., geben Veranlassung,
plötzlich Szenen aus ganz andern Ereigniskreisen einzuschalten.
Endlich ist auch die erwähnte Loslösung bestimmter Sonderthemata
nicht außer acht zu lassen und besonders der Umstand, daß seit dem
15. Jahrhundert die Passion ein eigener Gegenstand für zahlreiche
besonders beliebte Bilderfolgen wird (Dürers Passionen sind ihre
berühmten Ausläufer): hier, wo unmittelbar oder so gut wie un-
mittelbar mit Christi Leidensgeschichte eingesetzt wird, hätte es
gar keinen Zweck gehabt, die Eingangsbilder besonders herauszu-
heben. Das Passionsspiel dagegen führt im allgemeinen immer
Christi ganzes Leben vor, und wenn auch, jenem christologischen
Gesamtzuge des ausgehenden Mittelalters entsprechend, auch hier
öfters die Vorführung der Lebenswirksamkeit auf ein paar Haupt-
szenen zusammengeschrumpft ist, so nehmen sie doch in der Aus-
gestaltung durch das Wort einen beträchtlichen Teil des Gesamt-
umfanges in Anspruch und ermöglichen es, in dem Zuschauer
durch jene stabilen Gebärden die Peripetiegefühle wachzurufen.
Hier liegt ein wichtiger Unterschied, den die Passionsdarstellung auf
künstlerischem und auf theatralischem Gebiet, den die Passion
und der Passion aufweisen.
Indessen wenn wir so für die „stabilen Gesten" die völlige Ver-
schiedenheit der beiden Kunstgebiete nachgewiesen haben, so
könnte es doch um die „labilen" anders stehen. Spielt denn aber
überhaupt die neutestamentliche Geste auf den mittelalterlichen
Bildern eine wichtige Rolle, fühlt sich der Künstler durch die im
heiligen Original gemachten Andeutungen bestimmt und gebunden?
Hat er denn überhaupt beim künstlerischen Schaffen die für seine
besondere Darstellung in Betracht kommende Stelle vor sich, die
ganze Bibel im Kopfe und von den Kommentaren die gebührende
Kenntnis? Man wird diese Fragen schwerlich allzuenergisch be-
jahen dürfen. Gewiß waren bis tief ins Mittelalter hinein wohl
1) Man braucht also kaum noch besonders darauf hinzuweisen, daß hier außerdem
durch die geringere Differenzierung der Passion nicht zwei einander ebenbürtige Dar-
stellungsreihen einander gegenüberstehen würden.
218 Bibel und Bildkunst.
allein Geistliche künstlerisch tätig; daß jedoch der Bruder Maler auch
durch besondere Gelehrsamkeit ausgezeichnet gewesen sei, wird
man im allgemeinen kaum annehmen dürfen; in den letzten Jahr-
hunderten des Mittelalters aber treten mehr und mehr weltliche
Meister, die einen direkten Zugang zu den heiligen Schriften kaum
besaßen, an die Stelle der geistlichen Künstler. Immerhin scheint
auch in diesem Falle ein von der Kirche bestellter Geistlicher das
Programm aufgestellt und die Ausführung überwacht zu haben i);
eine starke Berücksichtigung der biblischen Gesten wäre wohl auch
in dieser Kunst zunächst anzunehmen. Maßgebend können sie
aber, wie man leicht sieht, jedenfalls nicht gewesen sein: sonst
wären gewiß alle d i e biblischen Situationen dargestellt worden, bei
denen die Evangelien ausnahmsweise körperlichen Seelenausdruck
erwähnen. Daß das nicht der Fall ist, hat schon der eben zu
Ende geführte Abschnitt unserer Darstellung gezeigt; die Zahl der
trotz des zugehörigen Bibelgestus nicht vorgeführten Szenen (z. B.
Matth. 17,4; Marc. 8,33; Luc. 10,39) ist auch sonst nicht klein,
und zumal als dann die Vorführung der Hergänge aus Christi Lehr-
und Wundertätigkeit sehr zurücktritt, bleibt so manche Bibel-
andeutung ungenutzt. Umgekehrt werden von früher Zeit an nicht
wenige Szenen im Bilde gezeigt, in denen die Evangelien nicht
den kleinsten Gestus erwähnen, in denen aber seelische Vorgänge
für das Verständnis des Ganzen mit berücksichtigt werden müssen.
Die Bibel und die sich ihr anschließende epische Erzählung haben
hier den unmittelbaren Bericht oder das gesprochene Wort, und
mit diesem kommt auch das Theater schließlich ganz gut aus, zumal
ihr auch noch das akustische Ausdrucksmittel: der Stimmton und
dgl. zur Verfügung steht. Die bildende Kunst kann in diesem Falle
der Darstellung einer körperlichen, dem Auge zugänglichen Aus-
drucksform unmöglich entraten; das nicht selten zur Hilfe ver-
wendete Spruchband ist doch nur ein kümmerliches Surrogat und
erleichtert ferner den ungelehrten, des Lesens nicht kundigen
Kreisen, für die doch die Kunstwerke mit in erster Reihe bestimmt
sind, das Verständnis in keiner Weise. Von vornherein sehen
wir also, daß in der bildenden Kunst die Ausdrucksgebärde eine
viel größere Rolle spielen muß als im Epos und auf dem Theater.
Hier liegt nun der Gedanke nahe, daß ebenso wie bei der
theatralischen Aufführung wenn auch in weit häufigerer Ausnutzung
das Prinzip der „labilen Gesten" in Anwendung gekommen sei,
daß die Künstler also die in der heiligen Schrift vorkommenden
Ausdrucksbewegungen, aber nur diese, überall zu ihrer Verfügung
gehabt hätten. Tatsächlich aber konnte von einer solchen Beschrän-
kung nicht die Rede sein. Schon darum nicht, weil für den so wich-
1) Vgl. Seil reiber, Biblia pauperuin, S. 7 f.
Die größere Freiheit der bildnerischen Ausdnicksbewegungen. 219
tigen Ausdruck der Trauer nicht genügend Ausdrucksmittel zur Ver-
fügung standen: um so weniger als die Darstellung des Weinens
lediglich auf dem Gesicht des Trauernden primitiver Kunst nicht
gelingen konnte. Das Zurücktreten der Gesichtsmimik in der geist-
lichen Kunst während der meisten mittelalterlichen Jahrhunderte
brachte eine stärkere Verwendung der Arme und Hände mit sich,
die in der Bibel und so auch auf dem Theater nicht so sehr in
Aktion treten. Diese starke Betonung der Armbewegungen aber
ist auch aus spezifisch bildkünstlerischen, aus formalen Gründen
vollständig unentbehrlich: z. B. sind in der Malerei für die Ver-
bindung der Personen miteinander und mit den leblosen Gegen-
ständen, die das Bild enthält, für die Herstellung der Richtungs-
linien, die der künstlerischen Darstellung erst ihren tiefsten Sinn
geben, gerade die Arme eines der wichtigsten Ausdrucksmittel.
Die Erkenntnis solcher Notwendigkeit und ihre Umsetzung in
die Praxis braucht sich aber nicht erst mühsam zu entwickeln,
sondern ist sofort durch die Wirklichkeit, durch die historischen
Bedingungen realisiert, unter denen die christliche Kunst sich ent-
faltet. Diese knüpft wie in allen stilistischen Dingen so auch in
bezug auf die Gebärdensprache naturgemäß an die antike, speziell
die römische Tradition an, neben der sie sich ja zunächst als
Parallelerscheinung zu entwickeln hat; jeder Kimstler steht also in
einer zweifachen Gebundenheit: einer biblisch-theologischen und
einer künstlerisch-antiken. So kommt die antike Gebärdensprache
in einer gewissen christlichen Modifikation in die mittelalterliche
Kunst: es ist natürlich, daß die Ausdrucksformen besonders will-
kommen sind, die der Bibel sowohl wie der römisch-griechischen
Tradition entsprechen — aber auch im Gegensatz zum Christlich-
Liturgischen dringt hier Antikes in die Darstellung des Mittelalters.
Dringt ein und hält sich nun im Anschluß an die frühchristliche
Kunst den größten Teil des Mittelalters hindurch, ohne daß dem
neuen Leben] dieser Zeit eigentlich naturalistische Zugeständ-
nisse gemacht wurden — eine auffallende Erscheinung doch nur
für den, der nicht bedenkt, daß dem Mittelalter der Begriff der
Wirklichkeitsdarstellung als Selbstzweck in der Kunst im allgemeinen
ganz und gar fremd gewesen ist.
Unsere nun folgende Betrachtung der bildnerischen Ausdruck-
bewegungen kann über eine Skizze nicht hinausführen, und nur nach
dem, was uns unmittelbar angeht, darf hier gefragt werden; der
Standpunkt des Kunsthistorikers vor diesem Problem wäre ein durch-
aus anderer 1).
1) Seine Aufgabe würde sein, das was hier nur mehr impressionistisch nebenher
versucht worden ist, zum systematisch behandelten Hauptgegenstand der Betrachtung zu
machen: eine Geschichte der Gebärde als eines wichtigen Stilsymbols zu liefern. Die
Lösung dieser Aufgabe aber könnte nur gelingen, wenn die Entwicklung der Gebärden
220 Die Gebärde in der karolingisclien und ottonischen Kunst.
Wir fragen, ob ein auf Überlieferung beruhender Zusammen-
hang in der Gestik und Mimik der mittelalterHchen deutschen
Kunst sich aufzeigen läßt und ob dieser Zusammenhang sich im
wesentlichen aus den besonderen L-ebensbedingungen der bildenden
Kunst erklärt. Wenn wir so das Bild der Gebärdung und seine
Wandlung von der karolingischen Kunst bis zur Renaissance zu
entwerfen suchen, kommt es uns nie auf Vollständigkeit an, immer
nur auf ein Erkennen des allgemein typischen Charakters.
Die kirchliche Aufgabe der Kunst, die Konsequenz, in der sie
sich mit dogmatisch festgelegten Zügen bis in die letzten sinnlichen
Darstellungsmittel durchsetzt, haben auch hier erhaltend gewirkt;
Bildschema und Schulüberlieferung sind, wie jede ikonographische
Betrachtung lehren kann, als bewahrende Kräfte ven großer Wichtig-
keit. Die erste Epoche geschlossenen Stilcharakters, die karolin-
gische und ottonische Zeit 2), dürfen, so verschieden sie in
vieler Hinsicht sind, für unsere Frage als Einheit betrachtet werden.
Beide sind für uns, bei der Spärlichkeit, in welcher Großplastik und
Wandmalerei jener Zeit sich erhalten haben, durch das Vorwiegen
von Schmuckkunst und Illustration charakterisiert, und für den
Stil der Gebärde ist es entscheidend, daß diese Kunst sie entweder
ornamental einbezieht oder einem illustrativen Zweck anpaßt. Das
bedeutet einmal ein Vorwiegen aller ornamental leicht verwend-
baren, feierlich sakralen Gesten (man denke an die typische Über-
reichungsszene der Widmungsbilder, an die in der Stellung des
amtierenden Klerikers dargestellten Evangelisten und Heiligen-
figuren), anderseits den Zug zu deutlichen, deutenden Gebärden.
zunächst konsequent ikonographisch und im weitesten Sinne stilkritisch innerhalb
der einzelnen Darstellungsthemata verfolgt würden, und ferner, wenn man die Zu-
sammenhänge mit der antiken, byzantinischen, französischen, italienischen Kunst
bis ins Letzte untersuchte; man würde auch nur auf diesem Weg dazu kommen,
das spezifisch Deutsche in den Äußerungen der künstlerischen Gebärdensprache
deutscher Bildwerke zu ermitteln. Für unsere besonderen Zwecke genügte es aber
festzustellen, wie das deutsche Bildwerk in die Erscheinung tritt: es gilt hier also
durchaus das Gleiche, was früher (S. 179, Anm. unten) über unsere Betrachtung der Ge-
bärde im mittelalterlichen Epos gesagt wurde. Es gilt aber auch noch ein Anderes, was
wir dort hervorgehoben haben. Wie die epische, so ist auch die bildkünstlerische Gestik
in ihrer Entwicklung so wesentlich von den Stilgesetzen der Kunst bedingt, dal3 man
ihre einzelnen Äußerungen nicht aus dem Zusammenhang reißen und mit anderswo beob-
achteten Gebärden zu einem bunten Bilde zusammensetzen darf, das die tatsächlichen-
Gesten repräsentieren soll. Daß eine spezifisch kunst geschichtliche Untersuchung den Anteil,
den Bildabsicht, Komposition, Licht, Farbe, Bildmaterial und Technik an der Bilderscheinung
der Gesten und Mienen haben, in ganz anderm Maße zu berücksichtigen hätte, als wir es
hier in gelegentlichen Andeutungen getan haben, dessen sind wir uns durchaus bewußt.
2) Wichtige Hilfslitferatur: die Werke von Leitschuh, Vöge (s. o. S. 211) und
Haseloff (o. S. 213); ferner Swarzenski, Die Regensburger Buchmalerei d. 10 u. 11 Jh.
(Leipzig 1901). —Die Skizze von I. I.Tikkanen, Ultrycken för smärta och sorg i kon-
sten : Ord och Bild 14 (1905), S. -117 IT., WML konnte teilweise zur Bestätigung der folgenden
Darlegungen herangezogen werden.
Die Gebärde in der karolingischcMi und ottonisohcn Kunst. 221
Wo die Bilder niclit von dem liohen ornamentalen Geist dieser Stile
ganz durchdrungen sind, wollen sie mehr erläutern und einprägen
als darstellen.
In der gleichen Richtung wie der Zweck wirkt vielfach der
Bildgegenstand. Die bevorzugten Themata des ersten Jahrtausends :
Christus als Rex Gloriae, als Lehrer und Wundertäter entwickeln
sowohl die sakrale als die erläuternde Gestik. Der thronende
Weltenkönig bedarf der klaren, symbolischen Stellung: mit ge-
hobener Rechten erteilt er den Segen, er zeigt die gehobene Hand
mit dem erlösenden Wundmal der Welt, die Handfläche nach außen
gekehrt, er kommt stehend aus den Wolken herab, den einen Arm
pathetisch ausgestreckt, oder hat als Weltenrichter die Hände er-
hoben. Der Wundertäter soll als der um Gnade Angeflehte gezeigt
werden, mit deutlich beschwörerischer Geste zum Bittsteller oder
Siechen in Beziehung gesetzt; einer streckt ihm bittend die Hand
zu; immer aber bedarf es auch der Devotions- und Dankgebärde
der Begnadeten, des Staunens der miterlebenden Jünger. Wie in
dieser auf Deutlichkeit, auf Belehrung ausgehenden Illustration der
große Abstand der Figuren oft den Würdenabstand sinnfällig
macht, so lenkt auch eine enorme Vergrößerung der Hände und
Finger das Interesse auf deren Ausdrucksgebärden. Sie sind das
wichtigste Ausdrucksmittel dieser Kunst, wichtiger als der physio-
gnomische Habitus und das Mienenspiel; das Weisen mit Arm,
Hand und Finger, das Gestikulieren ist sehr vieldeutig, obwohl die
Hände selbst in ihrer gleichförmigen Bildung noch nicht „sprechen"
wie in späteren Zeiten, wo schon ihre individuelle Bildung an sich
Ausdruck ist. Der Gesamtcharakter dieser Gebärdung also ist
Deutlichkeit. Darum bewahrt sie vielfältig, wenn auch bildnerisch
ganz verkümmert, die große weithin deutende Gebärde antiker
Tradition. Mit einfachen, klar abstufenden Mitteln wird die An-
ordnung innerhalb bewegter Gruppen vielfach versucht. Auf den
Weltgerichtsbildern in Reichenau und Burgfelden etwa ist in keiner
Weise das Problem der Massenbewegung in der Gruppe der Ver-
dammten aufgegriffen; dagegen wird durch ein paar einfache, ver-
schiedenartig abgestufte Angst- und Verzweiflungsgebärden die
Skala der psychischen Erregung primitiv symbolisch angedeutet.
Wenn die ganze frühmittelalterliche Geste zum Symbolisieren
neigt, so gilt das ganz besonders für die karolingische und
Ottonische Kunst. Dabei fehlt es oft nicht an einer sinnlichen Über-
zeugungskraft dieser einfachen deiktischen Geste. So ist es z.B.
zwingend, wie bei dem Bilde des Überfalls in Burgfelden die
drei Lauernden einander über die Schulter sehen, alle drei
nach einem Punkt visierend, und wie die parallel vor die Brust
gehobenen Arme der gleich gerichteten Figuren mit dem Hinweis-
finger in einfacher Richtungs- und Liniensymbolik die Bedeutung
222 Die Gebärde in der karolingischen und ottonischen Kunst.
von Geste und Miene unterstützen oder wie die Zickzacklinien
am bewegten Körper eines Erschreckten den Eindruck der Auf-
regung suggerieren. Das Aneinanderdrängen von Personen einer
Gruppe verdeutlichen Angst und Neugier. Im allgemeinen aber
ist die einzelne Figur von größerer Bedeutung und dazu noch
etwa die zwischen ihr und einer zweiten durch Geste hergestellte
Beziehung; wie summarisch verfährt etwa der Codex Egberti mit
der Haltung der sämtlichen Jünger bei den Wundern: immer die
gleichen Gesten von Andacht und Staunen. Tief gebückt kauern
die Andächtigen am Boden, die Arme parallel vorgestreckt, die
Hände geöffnet oder verhüllt oder auch wohl die Hände vors Ge-
sicht gedrückt; solche zum Teil morgenländischer Kunst ent-
stammende Haltung macht noch dem einfachen Knien, bei dem der
Körper aufrecht bleibt, Konkurrenz; oder wir sehen ein Schreiten,
bei dem der Körper sich vorneigt, die Knie, besonders das hintere,
tief gebeugt sind (den sog. Knielauf), und jene eben gekennzeichnete
Haltung der Hände wiederkehrt. Das Sitzen ist die Haltung des
Traurigen oder Nachdenkenden; zuweilen erscheint dabei ein Arm
aufs Knie gestützt, die Hand an der Wange: die viel berufene
Attitüde gotischer Miniatur. Die Stellung der Beine und Füße
ist bedeutungsvoll; so kreuzt der Nachdenkende beim Stehen und
Sitzen die Füße. Das Heben oder Zurücklegen, Senken, Schräg-
halten, Vorstrecken des Kopfes bezeugen Staunen, Neugier, Demut,
Schmerz, Anteil am Vorgang. Der Fußkuß kommt vor als Zeichen
der Anbetung und Demut; dabei werden auch die Füße umfaßt.
Am wichtigsten, wie gesagt, sind Arm- und Handbewegungen,
auch abgesehen von jenen symbolischen Gesten des triumphierenden
Christus. Die Umarmung geschieht meist andeutend, durch ein
gegenseitiges Auflegen der Hände auf Schultern, Arme, Seiten,
noch kaum durch reales Umfassen und Andrücken. Jenes parallele
Vorheben der geöffneten Hände, ursprünglich Geste der Ehr-
erbietung vor dem Höherstehenden, der Unterwerfung usw. wird
später zum Gestus des Gebets und daneben gleichzeitig schon in
verblaßter Bedeutung als Redegestus gebraucht, ebenso wie die
schräg abwärts gehaltene, geöffnete, die steil empor gehaltene
Hand; das Ausstrecken der Hand ist bei der Maria besonders
gütige Entgegennahme einer Gabe oder Huldigung; späterhin be-
deutet diese Gebärde auch Abwehr; doch ist die Handfläche dann
meist dem Gegenüber zugekehrt. Die für diese Kunst besonders
wichtigen Redegesten sind aber noch vielfältiger; besonders ge-
bräuchhch als Zeichen der Anrede, der Verkündigung ist der
lateinische und griechische Segensgestus: hier kann nicht aus-
geführt werden, wie bedeutungsvoll dabei die Hand- und Finger-
stellungen abgestuft sind. Die Hände zerreißen das Kleid als
Zeichen der Verzweiflung oder in dem aus der Bibel bekannten
Die Gebärde in der karolingischen und oüonisclien Kunst. 223
Sinn der Verwerf imtr; die Haare werden gerauft, eine Hand greift
ins Haar. Man verhüllt im tiefen Schmerz das Gesicht mit den
Händen unter dem Mantel oder preßt die verhüllten, zusammen-
gelegten Hände an die Wange. Zuweilen erstreckt sich das Ver-
hüllen auch nur auf die eine Gesichtshälfte oder auf die untere
Partie des Gesichtes. Das Verhüllen der Augen mit dem Gewand
ist aber auch jetzt wie später, besonders in der Verklärungs-
szene, Geste der Blendung, ebenso wie das Heben des Armes über
die Augen.
Die bekannteste Trauergeste aus antiker Erbschaft ist das
Legen des Kinnes oder der Wange in die Hand, wobei gern der
Kopf etwas schräg gehalten wird. Später wird diese Geste variiert,
etwa so, daß der Handrücken mit abwärts gesenkten Fingern an
das Kinn gehalten wird, daß zwei Finger sich über Mund oder
Kind legen, die Hand die Stirn berührt oder die Finger die
Wange stützen usw. Auf Kreuzigungsdarstellungen erscheint
gern die halbe Figur von Sonne und Mond, in symmetrisch
dekorativer Bewegung einen Mantelzipfel ans Auge führend. Sehr
alt ist auch die, das Weinen andeutende, Bewegung, daß eine im
Mantel verhüllte Hand dem Gesicht genähert wird. Der antike
Schmerzgestus des Greifens ins Kopftuch oder, als Gestus der
stillen Trauer, das Umfassen des linken Handgelenks mit der
rechten Hand ist gegen Ende der Periode des ottonischen Stils
auch schon zu belegen. Johannes breitet einmal im Schmerz die
Arme aus. In der Verehrung und Andacht wird gern eine Hand
in der Richtung auf den Verehrten zu ausgestreckt, die Handfläche
nach oben. Viel häufiger noch als jene Gebetsgeste der vor-
gestreckten Hände ist die Orantengeste : eine oder beide Hände
vor die Brust gehoben oder bis zur Schulterhöhe, auch mit den
Handflächen nach außen; die Daumen oft abgespreizt; gerade
diese Geste wird allmählich mehrdeutig. Sie ist das Zeichen der
schmerzhaften Ergebung, der Andacht, ist dann aber auch Geste
des Staunens, der Verwunderung, der Scheu (als solche stehende
Geste der Maria in der Verkündigungsszene), und wenn sie durch
Heben bis zur Schulter oder Kopfhöhe gesteigert wird, bedeutet
sie Schreck, ja Entsetzen; ruhig ausgeführt ist sie aber auch die
Geste feierUcher Rede, Lehre oder Predigt. Das Zuhalten der Nase
als Zeichen physischen Ekels findet sich zuweilen auf der DarsteUung
der Lazaruserweckung. Ein plötzliches Erschrecken wird fein durch
ein Erheben der Finger zum Mund und Kinn dargestellt (die
Frauen am Grabe). Beim Nachdenken werden die Finger an die
Lippen gelegt, eine Hand deckt den Mund.
Gegenüber der verdeutlichenden Gestik erscheint das Mienen-
spiel ärmlich. Ausdruckswirkungen versteht die karolingische Ma-
lerei durch verschiedenartige Augapfelstellungen zu erreichen; so
224 Die Gebärde in der romanischen Kunst
ist z. B. das Schielen ein Symbol visionärer Verzückung. Späterhin
geben oft die übergroßen Augen — eine Wirkung byzantinischer
Malerei — den Gesichtern ein starres Gepräge; aber auch in dieser
Ottonischen Zeit bleibt die Blickrichtung das wirksamste mimische
Mittel. Daneben ist das Offenstehen des Mundes ein Zeichen von
Angst oder Wut. ')
Schon weniger einfach liegen die Verhältnisse in der roma-
nischen Kunst.2) In relativ kurzem Zeitraum drängt sich hier auf
verschiedenen Kunstgebieten eine lebhafte Tätigkeit zusammen:
Großplastik, Rehef, Wandmalerei. Die starken Wandlungen, die
vom früh- zum spätromanischen Stil führen, sind bedeutsam auch
für die Gebärdung. Gemeinsames Merkmal für die ganze Periode
ist es, daß sie im Dienst der Baukunst steht. Die Plastik ist
wichtiger und selbständiger als die Malerei, aber noch keineswegs
wie in der folgenden Blütezeit ganz unabhängig; die Freifigur ist
vielmehr als Bauglied fest an die Architektur geschlossen, das
Relief ist vor allem dekorative Belebung tektonisch wichtiger
Flächen. Überall wird die geometrisch umgrenzte Form respektiert,
Wand- und Deckenmalerei usurpieren nicht den ihnen gebotenen
Raum als ein Feld malerischer Illusion, sie gliedern, klären, betonen
vielmehr die Raumform. Dieses Stilprinzip nun erfiUlt die früh-
romanische Bildkunst mühelos; die spätromanische dagegen trägt
ihren Charakter von dem Kampf einer neuen inneren Lebendigkeit
mit dieser noch immer respektierten, von einer andern Kunst her-
stammenden Beschränkung. Der Wille zur Gestaltung des Or-
ganischen kämpft mit dem Prinzip tektonisch-geometrischer Form-
vorschrift, und dieser Kampf eben zeitigt die geballte Kraft, die
immer wieder erstarrende Lebendigkeit des Spätromanischen. Ein
neues Temperament von Lust am Ausdruck, an jäher Kraftentladung
bleibt im Bann der begrenzten Form, bleibt durch mehr als bloße
Überlieferung in den Block, in die Fläche gebunden. Eben diese
Vorherrschaft einer so gebundenen Plastik, deren Wesen über die
Grenzen der bildhauerischen Tätigkeit in die Malerei hineinwirkt,
verursacht die nur geringe numerische Bereicherung des Gebärden-
schatzes. Ist schon an sich eine vorwiegend in plastischen Lei-
stungen sich erfüllende Epoche weniger erfinderisch in Gestik und
Mimik als ein mehr malerisch gestimmtes Zeitalter, so muß diese
Zurückhaltung hier besonders groß sein, wo der ruhige Körper,
1) In der bildenden Kunst des 11. Jli., speziell der Erzbildnerei der Zeit, trägt zwar
im allgemeinen die Gestik einen andern Charakter, für die einzelnen Gesten aber bietet
si(! nicht so viel, daß eine eingehende Betrachtung in dieser Zusammenstellung lohnte. —
2) Wichtige Arbeiten für die romanische Periode: Weese, Die Bamberger Domskulptu-
ren (Straßburg 1897); H. Schmitz, Die ma, Malerei in Soest (Münster 1900; R. Hamann
und F. Rosenfeld, Der Magdeburger Dom (Berlin 1910); A. Goldschmidt: Jb. d.
preuss. Kunstsammlungen 21 (1900), S. 225 ff.
Die Gebärde der romanischen Kunst. 225
der sich leichter als Baiiglied einfügt als der bewegte, besonders
bevorzugt wird.
Aus dem bereits vorhandenen Gebärdenschatz bildet der früh-
romanische Stil besonders die ruhige Gebärde aus: Andachts-,
Staunens-, Gebets-, Segens-Geste, die Handbewegungen des Re-
denden und Lehrenden. Die liegenden oder besser stehend hin-
gelegten Grabfiguren bedürfen ja nur der friedlich übereinander
gelegten oder fromm zusammengelegten Hände. Diese neue Gebets-
geste kommt jetzt erst zur Geltung. Die stehenden Propheten,
Heiligen, Apostel, Könige und Sybillen werden gern mit Spruchband
und Symbol beschäftigt. Die ausdrucksvolle Gebärde des feierlichen
Vortrags, der andächtigen Rede und Predigt entfalten die sitzenden
Apostelgestalten etwa an den Chorschranken der Liebfrauenkirche
in Halberstadt, der Michaelskirche in Hildesheim und sonst ; zeremo-
nielle Andachtshaltungen kommen in frühromanischen Reliefs und
Gemälden zur Geltung. Die Rednergebärde ist vielfältig: bald wie
schon früher der lateinische und griechische Segensgestus; dann
die nach außen gekehrten Hände reliefmäßig ganz eng vor der
Brust liegend, den Daumen abgespreizt oder seitlich neben der
Schulter; vorwärts gestreckte oder abwärts gesenkte geöffnete
Hand, die den Vortrag demonstrierend unterstützt; Hinweisgebärden:
den Zeigefinger gehoben argumentierend, den Zeigefinger energisch
vorwärts gerichtet und so den Argumenten Nachdruck gebend usw.
Die symmetrische Ordnung, die der strenge Stil verlangt, fördert
die Gleichmäßigkeit aller Gebärden. Die Gestik ist bildmäßig ver-
arbeitet und stilvoll und eben darum hier ruhig und nicht sehr
vielfältig. Die Gesichter sind in den Plastiken frühromanischer
Zeit noch wenig ausdrucksvoll. In der frühromanischen Decken-
und Wandmalerei lebt um die Mitte des 12. Jahrhunderts von den
alten Elementen der byzantinischen Kunst noch die feierlich sakrale
Gebärde. Wo daneben lebhaftere Gestik vorhanden ist, da scheint
sie eher eine Wirkung des illustrierenden Erzählerstils als schon
ein Vorbote spätromanischer Ausdruckskunst zu sein.
Das Spätromanische vollzieht jene stilgemäße Wandlung zu
einer Doppelheit von Lebendigkeit und Starrheit auch in der Ge-
bärdung. Der psychische Ausdruck drängt und pocht geradezu
gegen die Schranken, in denen der Körper noch gehalten wird.
In starren Gebilden will ein wildes Temperament ausbrechen. Das
Brechen und Renken der Körper nach dem Willen der baulichen
Form wirkt in der Plastik oft wie ein gewaltsames Sichwinden.
Unnatürliche Stellungen und Körperformen sind häufig. Wo das
Ornament spätromanischen Geistes szenische Darstellungen bringt,
greift es freudig das theologisch-symbolische Thema vom Kampf der
Seelen mit dem Bösen auf, Menschen mit Tierleibern und Dämonen
verschlingend, es motiviert so ein wildes Zupacken in Schrecken und
Herrinann, Theater. 15
226 Spätromanische Kunst und gotische Plastik.
Wut. Die Unterhaltung zwischen den Aposteln auf den Chor-
sehranken in Bamberg wird zum „Streitgespräch", aus der Vortrags-
und Lehrgebärde wird die eifernde, disputierende Gestikulation —
und doch bannt ein streng dekorativer Geist Gestalt und Gheder
in symmetrischer Anordnung fest in die Fläche. Überall derselbe
Geist strenger Einordnung, der bis zur Unrealistik der Körper-
bewegung führen kann, gepaart mit einer wunderbaren Überraschung
der Natur: überall da, wo die lebendig erhaschte Bewegung oder
Miene jenem Geist der Einordnung nicht widerspricht. Bis zur
Überlebendigkeit sind — etwa in den Szenen des Hildesheimer
Taufbeckens — die Affekte dargestellt. In der Verkündigungs-
szene erhält der Ausdruck des Engels etwas von drängender Ein-
rede, Marias Zurückhaltung etwas von starrer Abwehr. Die Ge-
stalten auf den Deckengemälden und mehr noch auf byzantini-
sierenden Tafelbildern um 1200 schwingen ihre Spruchbänder mit
derselben eckigen Wildheit, die in die Säume der Gewänder so
viel Unruhe hineinbringt, die den Engelsflügeln so pathetisch großen
Schwung leiht. Die Miniaturmalerei der Zeit, die sich nicht zu
gleicher Höhe hebt wie Plastik und Wandmalerei, sagt vielfach in
unbeholfener Sprache und auf byzantinisch das Gleiche, was die
sonstige Kunst in mehr eigener Ausdrucksform ausspricht. Das
energisch plastische Wesen spätromanischer Skulpturen bringt so
charaktervolle Bildungen hervor, daß auch da, wo man den Aus-
druck nicht sogleich mimisch deuten kann, sie von innerlichem
Leben bewegt erscheinen. Die Freude am plastischen Heraus-
arbeiten der Form in Stein wird in dieser Zeit „innerer Spannung"
zum Ausbuchten und Einziehen der ausdruckgebenden Teile. Die
vorgewölbten Augäpfel scheinen wild zu glotzen, die vorgeschobenen
oder straff eingezogenen Lippen geben den Eindruck erregter oder
bezwungener Leidenschaftlichkeit und Willensanspannung; auch
die tiefen Furchen von der Nase zum Mund ist man seelisch zu
deuten geneigt. Neben solchen Bildungen stehen freilich auch in der
spätromanischen Zeit solche, in denen der frühromanische ruhige
Stil zu klassischer Reife gediehen scheint, die schön und ausgeghchen
sind, weniger charaktervoll und zu seelischer Deutung einladend.
Eine besondere Entwicklung dieser Richtung bedeuten gewisse
Werke von beinahe klassizistischer Haltung (Wechselburg). Sie
stehen bei anderer Körper-, Gesichts- und Gewandbildung in bezug
auf die Geste näher zu den Werken des Übergangsstils frühgotischer
Schöpfungen.
Die gotische Plastik i) beherrscht im 13. Jahrhundert alle
bildnerische Übung. Sie empfängt ihre Gesetze nur noch von ihrer
1) Wichtige Arbeiten besonders: M. Hasak, Geschichte der deutschen Bildhauerkunst
im 13. Jahrh. (Berlin 1899); W. Vöge, Die Anfänge des monumentalen Stiles im MA.
(SlnißburglSnt); M. Sauerlandt, Deutsche Plastik des MA. (Düsseldorf u. Leiir/.ig 1909).
Die Gebärde der j^otischen Plastik. 227
unmittelbaren Darstellungsaufgabe : dem menschlichen Körper. Diese
Aufgabe erweitert sich im späteren 13. Jahrhundert ungeheuer, so-
wohl durch die kirchliche Lust an der Gloria Dei, die zu großen
zyklischen Darstellungen aufruft, in denen der baumeisterliche Zug
der Scholastik sichtbares Leben erhält, wie auch durch das neue
weltliche Bedürfnis nach Gloria, das den inneren Raum der plasti-
schen Übung mit Fürstenbildnis, Reiterdenkmal, Stifterfigur er-
weitert, indes der neue Baustil mit den vielen krönungverlangenden
Formen den äußeren Raum für das Statuengeschlecht hergibt.
Der Menschenkörper aber, den zu gestalten diese Plastik als ihr
vornehmstes Ziel erkannt hat, ist der freibewegte, durchgebildete
Leib. Als Bildideal wie als Bildgegenstand herrscht der Körper,
den ritterliche GeseUigkeit, den soldatische Zucht geformt und Be-
wegung gelehrt haben, mit vornehm gebauten Gliedern, mit straffer
Haltung. Die Darstellung der Sicherheit dieses Leibes im Stehen,
Sitzen, Reiten, Lehnen, seiner Vollkommenheit im Greifen und
Halten, im Tragen von Gewand und Mantel ist Aufgabe und bald
Besitz. Das Relief erfüllt jetzt die Sehnsucht spätromanischer
Kunst, es läßt die Figur auf der Fläche heraustreten, und die großen
Gestalten im Raum haben eine stärkere Ausdruckswucht. Der monu-
mentale Zug hat ein mehr unkörperliches Echo in der Malerei, in
ihrer farbenzarten dekorativen Umriß- und Linienkunst.
All das ist natürlich bedeutungsvoll für den Stil der Ausdrucks-
bewegung. Die Plastik dieser Zeit besitzt mit der Anschauung der
neuen Körperlichkeit das große seelische Dasein. Das fördert auf
der einen Seite die freiere Entwicklung der Geste, auf der andern
Seite setzt die Art dieses ganzen Erlebnisses ihrer Entfaltung
Schranken. Ein Kunstgebiet übernimmt jetzt die Führung, dessen
höchste Aufgabe die isoliert gesehene vollendete Körperlichkeit des
Menschen ist, und damit rücken Gebärden, die vielleicht schon vor-
her in der Tradition vorhanden waren, zum erstenmal in den Kreis
dessen, was bildmäßig spricht. Denn nun erst werden sie nach
ihrer plastischen Ausdruckskraft erlebt und gewertet. So verwischt
sich denn jetzt der bekannte zeichenhafte Charakter der frühmittel-
alterlichen Kunst. Es setzt ein Gebärdenstil ein, der jedesmal
aus dem besonderen Ethos des dargestellten Körpers und der Situa-
tion sich erzeugt und nicht ein für allemal typische Zeichen bereit-
hält. Auf der andern Seite läßt gerade der neue Stil keine völlige
Entfesselung des Ausdrucks zu. Denn es ist eine strenge, wähle-
rische Kunst, die zunächst nur mit dem beherrschten Leib zu
tun hat und der ein fassungsloses Sichgehenlassen in Geste und
Miene wider den Geschmack ginge. Wo das Darstellungsthema
ihr solches aufzwingt, bestreitet sie es oft mit den überlieferten
symbolischen Mitteln, deren sie anderwärts schon enträt. Im Über-
gangsstil und in der reinen Frühgotik hat die herbe und jugend-
15*
228 ß'^ Gebärde der gotischen Plastik.
liehe Zurückhaltung oft noch den Charakter betonten Formwillens.
Sie ist ein Sichhalten, Stilsymptom so gut wie die bis zur Trocken-
heit schlanke Gestalt, wie das Stehen mit hinten übergelehntem
Körper, wie das anliegende, formbezeichnend hüftenabgestraffte
Hemd. In der rheinischen Plastik, die den französischen Einfluß
unbedingter verrät als die sächsische und fränkische, hat das jetzt
alles einen besonderen Wohllaut. Die Verhaltenheit des Gefühls
spricht hier mehr durch vornehme Eleganz, zeigt sich minder herb
und mehr sensibel in den nervösen Gebärden schlanker Hände,
der bescheidenen Schmerzneigung graziöser Körper und schmaler,
länghcher Köpfe. Die schmelzende Melodik dieser rheinischen Früh-
gotik hat noch Raum für alle Vollkommenheiten des Stils, während
späterhin in der Hochgotik die gleiche Zartheit, mit dem Verlust
jener Vorzüge erkauft, die Gebärdung sentimental und charakter-
los macht.
Je reifer die monumentale Kunst wird, desto freier erscheint
die Gebärde. Nie freilich tritt sie völlig losgebunden auf. Denn
mehr als es die einzelne Geste und Miene könnte, spricht auch
jetzt der gesamte plastische Gehalt der Figuren von ihrem inneren
Sein. Einige haben so sehr den Punkt der Sättigung mit plastischem
Leben erreicht, daß, verglichen mit dieser unentrinnbaren Gegen-
wärtigkeit, auch wo sie sich ganz ruhig verhält, die stärkere Aus-
druckslebendigkeit minder klassischer Gebilde wie eine vergebliche
Mühe wirkt, den Mangel an Wirklichkeit laut zu überschreien.
Diese Werke brauchen den Ausdruck nicht zu suchen, weil sie
ganz Ausdruck sind. Wir können hier nur andeuten, wieviel an
Seelischem in dieser Kunst der Umriß der Gestalt, der Reichtum
und die Bewegung des Gewandes (Ehsabeth in Bamberg!) auch
ohne Gebärdensprache vermitteln. Immerhin wirkt in der reifen
Gotik auch die befreite Mimik und Gestik mit diesen Mitteln zu-
sammen. Die Schmerzgebärden der Passion, in den von neuer
religiöser Inbrunst geschaffenen Vesperbildern, anderseits die neue
Haltung der höfischen Zeremonialkultur entwickeln den Schatz der
Ausdrucksformen. In den Naumburger Lettnerreliefs und -statuen,
und trotz leiser Erweichung des Stiles auch im Freiburger Tympanon,
ist eine Spannung in den Bewegungen und Mienen, die an den
dramatischen Stil der Hochrenaissance gemahnen. Der reifste
Gebärdenstil gotischer Plastik nach 1250 zeigt nicht mehr das
„Sichhalten", er ist ausdruckvollste Haltung und in Gebärde und
Miene: beherrschtes Pathos.
Der Versuch, den neuen Gebärdenschatz romanischer und
gotischer Kunst zu skizzieren, ergibt etwa folgendes: das Pros-
kynein wird allmählich immer seltener, fehlt besonders in der
gotischen Zeit, wo es nicht etwa die Bibel aus(h'ücklich vorschreibt,
also z. B. in der Szene, wo Magdalena Christi Füße wäscht, oder
Der Gebärdenschatz der romanischen und der gotischen Kunst. 229
in der Verklärun^sszene. Ein aufrechtes Knien auf einem oder
beiden Knien (Huldigung und Anbetung), inclinatio und genuflectio
in verschiedenen Graden verdrängen die morgenländische Gebärde.
Das Sichnähern mit tiefgebeugtem Oberkörper und vorgehobenen
Armen, den romanischen Wandgemälden, der Metallplastik und der
Illustration noch recht geläufig, wird im Laufe des 13. Jahrhunderts
ebenfalls immer seltener. Die lebhaften Schreck-, Wut- und Angst-
gebärden des Oberkörpers, das Herumreißen, Strecken, Zurückwerfen
wird mit wechselndem Sinn und Erfolg dargestellt, in der romanischen
Kunst entweder ornamental bedingte oder lyrische Ausdrucks-
bewegung, im monumentalen Stil mehr plastisch dramatisches
Motiv. Zum Teil sind hier rein künstlerische Probleme der Be-
wegung im Spiel. Die Kopfhaltungen haben ungefähr die gleiche
Bedeutung wie früher. Die Gebärden der Arme und Hände werden
namentlich durch den plastischen Sinn der Zeit neu gestaltet. Die
Umarmung stellt nun das Problem der Gruppe, und so kommt man
nicht mehr mit dem symbolischen Handauflegen aus, es heißt vielmehr
die Körper wirklich zur Einheit zusammenbinden. Die Schmerz-
bewegungen der Arme und Hände offenbaren neuen plastischen
Gehalt in dem, was aus morgenländischem und antikem Schatz
vorhanden, aber immer gedankenlos wiederholt worden war. So
gibt jetzt das Schlagen einer oder beider Hände vors Gesicht
Gelegenheit, das Sichabschließen, das in dieser Gebärde liegt, in
seiner plastischen Realität auszuwerten, besonders wenn etwa noch
der mitgeführte Mantel wie eine Schwinge den Block der Gestalt
schließen hilft. Das wird jetzt also nicht mehr psychologisch addiert
zu einer unbeweglichen Figur, es ergreift vielmehr den ganzen
Körper, und Reflexbewegungen antworten darauf; die Bewegung
der mitgerissenen Faltenzüge verdichtet die Realität der Geste, die
Art, wie die Bewegung einer Körperseite auf der andern kontra-
postisch ausgewogen wird, lehrt ihre plastische Wahrhaftigkeit.
Von der romanischen Zeit an wird das Zusammenpressen und
Ineinanderschlagen der Hände ^), das Falten der Finger häufig. Die
letztere Gebärde — in der Antike die Bittgeste des Unterworfenen —
ist zunächst Schmerzgebärde, daneben allmählich auch reine Gebets-
geste; im Anfang überwiegt noch die erste Bedeutung. Neues
kommt zu den weiter gebrauchten, nur vielfach nuancierten Trauer-
gesten hinzu, so z. B., daß der Sitzende das aufgestützte Knie mit
den Ai-men umfaßt, daß eine Hand von außen um den Handrücken
der andern greift und gleichsam die Finger vor Schmerz zusammen-
preßt, daß die Finger der einen Hand den herabhängenden andern
Arm berühren, daß man klagend die äußere Handfläche neben den
1) So daß die Handteller ineinander liegen, die Daumen sich kreuzen und die Finger
der einen Hand über den Handrücken der andern greifen.
230 Der Gebärdenschatz der romanischen und der gotischen Kunst.
Kopf legt, daß man in den Halsausschnitt greift, während der Kopf
sich auf die Brust senkt, daß man die vor der Brust mit auswärts
gewendetem Handrücken abwärts gesenkte Hand frei spielen läßt.
Die gleiche Gebärde, den Handteller nach außen, wird als Zweifels-
geste gedeutet. Das Falten der Hände im Nacken, hin und wieder
auch ein Greifen in den Bart sind Gebärden gesteigerten Schmerzes.
Sehr häufig ist sowohl einzeln wie als Begleitgeste das andächtige
Vordiebrustlegen der Hand; auch als Zeichen des Schmerzes er-
scheint es. Das Andiebrustgreifen bedeutet gelegentlich Zorn.
Rede-, Abwehr-, Hinweisgebärde werden feiner bestimmt. Selten
erscheint noch die Devotionsgeste der über der Brust gekreuzten
Arme, sehr viel häufiger aber als früher finden sich die andächtig
zusammengelegten Hände. Pathetische Gesten, wie das Heben
der Arme in Schmerz und Staunen, unterscheiden sich von den
früheren Gebärden gleicher Art durch eine stärkere Akzentuierung
und den Charakter des Unwillkürlichen. Noch greift man ins
Haar und hebt die Arme, daneben aber ist das Falten der Hände
über dem Kopf (besonders in den Weltgerichtsbildern) als Ver-
zweiflungsgeste zu belegen. Feiner als früher entwickeln sich die
Zärtlichkeitsgesten ; so umfaßt Johannes am Kreuz Maria, die sich an
seine Brust lehnt; bei der Ki*euzabnahme umschlingt Maria den
Kopf Christi und berührt seinen Arm. Besonders aber scheint
vom 12. Jahrhundert ab die Idee der thronenden Gottesmutter ver-
einbar mit mütterlicher und kindlicher Zärtlichkeit. Nicht nur
dringt aus der byzantinischen Kunst das Motiv, daß Maria das
Kind an sich drückt, in die Geburtsszene: auch die thronende,
feierlich dekorativ gegebene Madonna umfaßt das Kinn des Kindes
mit zwei Fingern, das Kind greift ebenso nach dem Kinn der Mutter,
die Gesichter schmiegen sich aneinander. Auch ist in der geist-
lichen Bildkunst die Neigung zur höfisch feinen Geste in den
Szenen mit zeremoniellem Gehalt bemerkbar. Auf dem Bamberger
und Mainzer Jüngsten Gericht finden wir originelle Angst- und
Schreckgebärden, die, obwohl in der Antike bekannt, kaum von
dort her in die mittelalterliche Kunst gekommen sind: hier preßt
einer das Gesicht in beide Hände und starrt dazu gerade aus, dort
bedeckt ein Schreitender, der den Kopf in eine andere Richtung
dreht, wie in plötzlichem Entsetzen das Untergesicht mit der Hand
— eine wundervoll belebte Gebärde.
Das Mienenspiel der Gotik ist von dem der romanischen Kunst
so verschieden wie die Gesichtstypen in beiden Stilen. Der früh-
romanischen gegenüber ist die gotische Mimik zarter beseelt, der
spätromanischen gegenüber geklärt und beruhigt. Die gotische
Physiognomie mit ihrem schönheitlichen Wesen bedingt, daß der
allgemein seelenhafte Charakter, den für viele Beschauer schon die
den Statuen immanente, irdisch nicht völlig motivierte, aufschwe-
Die Gebärde der hochgotischen Kunst. 231
bende Bewegung hat, sich in der Stimmung des Gesichtes auch ohne
besonderes Mienenspiel vollendet. Die Augen blicken erst jetzt
wieder, sie glotzen nicht mehr wie auf den romanischen Bildwerken.
Manche gotische Köpfe haben, ehe das traditionelle Lächeln der
Hochgotik einsetzt, jene seelische Heiterkeit, jene gelassene Anmut,
die wir in der Dichtung der höfischen Kunst als Zeitideal gefunden
haben (vgl. oben S. 192). Das Lächeln kommt jedoch für unser Gefühl,
plastisch dargestellt, fast immer fratzenhaft heraus. Der Schmerz-
ausdruck des Gesichtes dagegen ist oft plastisch sehr vollkommen.
Die typischen Züge dabei sind: geöffneter Mund, leicht herab-
gesenkte Mundwinkel, gefurchte Stirn, Schrägstellung der Brauen,
Modellierung der Wange und der Partie über dem Auge bei den
Statuen. Wo heftiges Weinen oder Schreien gefordert wird, kommt
leicht ein masken- oder fratzenhafter Ausdruck zustande. Die
reife monumentale Kunst beherrscht das Mimische außerordentlich,
sie weiß Spannung, festen Willen, Anteil aller Art, Schmerz, Staunen,
Zorn, Gelassenheit, Verlegenheit vollkommen auszudrücken. Da-
gegen steht alle Malerei der Zeit im Mimischen weit hinter der
Plastik zurück.
Die Vorherrschaft der Plastik ist um die Wende des 13. Jahr-
hunderts gebrochen. Mit dem 14. Jahrhundert wird die gotische
Plastik starr; der Umstand, daß die Statuen aufs Neue von der
formalen Bewegung der hochgotischen Bauform eingeschluckt
werden, ist der Weiterentwicklung nicht günstig. Immer mehr
tritt der Steinmetz für den Künstler ein. Die Manier herrscht in
Haltung und Miene. Die Verweichlichung des erst so herben Stils,
angekündigt schon in dem schwingenden Gewandsaum, dem Locken-
gefälle, der allzu zierlichen Gestik der Straßburger und Freiburger
Allegorien wird dauernd in der typischen hochgotischen Freifigur,
wenn nicht einmal, wie in der mittelrheinischen Plastik i) durch
einen Zusammenhang mit großen Vorbildern oder wie anderwärts,
durch derbe Steinmetzentreue verbürgerlicht, die alte Überliefe-
rung bewahrt ist. Die Großplastik des 14. Jahrhunderts ist im
allgemeinen für die Gebärde wenig produktiv, noch weniger für
die Mimik. Nicht so sehr aus ihr und aus der absterbenden Wand-
malerei liest man den neuen Bewegungsstil ab, als aus der sich
nun erst entwickelnden Kunst der Schnitzaltäre und Tafelbilder.
Neuer Gehalt kommt in die formalistische Bewegung um die Mitte
des Jahrhunderts: eine sehr allgemein gehaltene und bis in die
Gewandlinien hinein ausgeprägte Erregtheit, ein expressives Wesen
führt in die Gestalten eine absolute Lebendigkeit der Linie. Als
diese Erregungswelle abgelaufen ist, die man gern mit spätmystischen
Stimmungen in Zusammenhang bringt, siegt, etwa in den beiden
1) Vgl. F. Back, Mittelrheinische Kunst (Frankfurt a. M. 1910).
232 D^r Gebärdenschatz des 14. und des beginnenden 15. Jahrhunderts.
bedeutendsten Malerschulen, der kölnischen und der böhmischen,
ein klareres Wesen: hier mehr eine Festigung des Stiles durch
Charakter, dort eine Reinigung durch ein neues Gefühl von dekora-
tiver Schönheit und Harmonie der Bildfläche. So kommen erst
jetzt im Gebärdenstil die eigentlichen psychischen Erwerbungen
der gotischen Nachblüte zum Ausdruck: vertiefte Empfindung für
das Leidensvolle, mystischer Ernst in den religiösen Präsentations-
bildern und anderseits eine Empfänglichkeit für alle echt idyllischen
Gemütszustände bis zum Genrehaften. Soweit der antiillusionisti-
sche Charakter der Goldgrundmalerei es gestattet, dringen um die
Wende des Jahrhunderts auf dem Wege über Frankreich und
Burgund trezentistische Einflüsse ein, die eine größere Lebensnähe
im Einzelnen bedeuten. Das macht sich auch in der Gebärde geltend.
Der Gebärdenschatz des 14. und noch des beginnenden 15. Jahr-
hunderts läßt von dem alten Bestand einiges ganz verkümmern,
wie die morgenländische Devotionsgebärde und die Orantengeste,
die ja nur noch in verblaßter Bedeutung und als ein mehr an-
dächtig staunendes Heben der Hände fortlebt, das aber auch noch
später zuweilen mißverstanden wieder auftaucht. Sehr häufig ist
jetzt das demütige Kreuzen der Arme über der Brust und ein beten-
des Händefalten. Ebenso wird jetzt erst die Ohnmacht der Maria
am Kreuz ausführlich dargestellt. Im 13. Jahrhundert stand sie
meist noch, wenn auch schon leise schwankend und gestützt mit
sinkendem Kopfe und dem typischen Zeichen der Ohnmacht, dem
herabsinkenden Arm. Jetzt stürzt sie in den Arm der sie Halten-
den vornüber und läßt beide Arme kraftlos fallen. Oder sie ist
in die Knie gesunken und legt sich schmerzhaft zurück oder end-
lich: sie sitzt, von den heiligen Frauen emporgehalten, die Hände
mit der typischen Geste der Sterbenden im Schoß gekreuzt. Auch
die Beziehung der Frauen zu ihr trägt den neuen Empfindungs-
charakter. Wo sie Maria früher nur stützten wie der Hofstaat eine
Fürstin und ihr klagen halfen, aber sich nicht in ihren Schmerz
einzudrängen wagten, darf sich nun das Mitgefühl zutraulicher
geben. Was früher nur dem Lieblingsjünger zustand : ein trösten-
des Streicheln, ein Herandrängen des Gesichts, ist nun gelegent-
lich auch ihnen erlaubt. Es finden sich im 14. Jahrhundert fast
alle uns bekannten Klagegebärden der Hände und Arme. Sie sind
jetzt reichlicher angewendet, da nun erst wieder die im 13. Jahr-
iiundert zurücktretenden Personenreihen historischer Kreuzigungs-
bilder neben die symbolischen treten. Auch umschweben jetzt
klagende Engel das Kreuz, die die Hände ringen, das Gesicht an
die zusammengelegten verhüllten Hände pressen, die Arme mit
steilgehobenen Ellbogen vor der Brust verschlingen. Die Andachts-
und Devotionsgebärden haben häufig auch die Bedeutung der Klage-
gesten und umgekehrt. So das Heben gefalteter Hände, das Kreuzen
Der Gebärdenschatz des 14. und des beginnenden 15. Jahrhunderts. 233
der Arme, das Legen der Hand auf die Brust. Noch nicht allzu
häufig ist das Händeringen. Auffallen mag es, daß gewisse pathe-
tische Gesten wie das Kreuzen der gefalteten Hände im Nacken,
das klagende und entsetzte Heben eines Armes bis zur Kopfhöhe
und gar das Falten der Hände über dem Kopf, das Emporwerfen
der Arme, die Handteller nach außen: alles Dinge, die dem mehr
gefühlvollen als pathetischen Gebärdenspiel der Zeit gar nicht sehr
gemäß sind, durch die Überlieferung erhalten doch fortleben. Aber
solche Gebärden sind sehr selten bild wirksame Gesten, wie
etwa die Gebärde des Johannes auf der Kreuzigung in Wildungen
oder die einer klagenden Frau auf einer Kreuzigung in Trier
um 1380: sie werden meist schematisch fortgeführt, bestenfalls
rein dekorativ verwendet. Das Umfassen des Kreuzstammes
durch Magdalena begegnet um die Wende des Jahrhunderts, ver-
einzelt auch das später unter niederländischem Einfluß so häufige
Falten der Hände mit eckig gebogenen Ellbogen. Charakteristisch
für den Gebärdenstil der Zeit aber sind gewisse preziöse und
idealisierte Schmerzgesten, wie das Berühren eines geschlossenen
Augenlides mit der Fingerspitze der länglichen Hände. Schmerz-
gesten und Zärtlichkeitsgebärden verschmelzen in den Marientod-
und Vesperbildern, so wenn man sich mit gefalteten Händen über
die Füße beugt, die Füße umfaßt und das Gesicht daran schmiegt,
wenn die eine Hand das Haupt oder den Arm des Betrauerten er-
faßt oder berührt, seine Hand aufnimmt, während die andere eine
Schmerzbewegung ausführt. Auch verstärkt man Schmerzgesten
durch Kombination: eine Trauernde kniet etwa auf einem Knie,
stützt den Arm auf das andere aufgestellte Knie und schmiegt den
Kopf in die Hand des aufgestützten Armes; dabei umfaßt dann
noch die andere Hand diesen Arm mit einer trauersymbolisieren-
den Bewegung. Wie schon immer das Kopfsenken, so bedeutet
jetzt das Zurückwerfen des Hauptes, das auch als Staunensgeste
erhalten bleibt, Schmerz, nur einen heftigeren; meist aber nimmt
der Oberkörper nicht mehr wie im monumental-plastischen Stil an
der Bewegung teil. Reichlich und differenzierter sind auch die Lieb-
kosungen von Mutter und Kind. Jetzt wird in der deutschen Kunst
das Motiv des Fußkusses in die Anbetung der Könige aufgenommen,
das in Italien schon lange bekannt war. Das süße und huldvolle
Neigen des Kopfes wird typisch wie das Anlächeln. Der Schmerzens-
ausdruck ist auf Gemälden nun auch durch bleiche Farbe und ge-
rötete Augenlider sinnlich unterstützt; der Blick: Auge in Auge
bedeutet viel, etwa bei dem neuen Typus der Marienki'önung, wo
Christus neben seiner Mutter sitzt und sich ihr segnend zuwendet,
hn Gegensatz zu dieser steten Melodie von Huld und stiller Freude
verrät das Mienenspiel zuweilen auch gerade das Bemühen, den
Gegensatz zwischen der Welt der Seligkeit und dem Bösen der
234 l^ie Gebärdung der Realistengeneration der Vorrenaisance.
Erde zu zeigen. Die Schergen und die Verspotter Christi haben
zwar noch keine böse Physiognomie; wohl aber wird ein bösartiges
Mienenspiel versucht mit grausam emporgezogenen Mundwinkeln,
grinsendem Ausdruck, herausgestreckter Zunge, auf die sie zum
Überfluß hindeuten. Auch in der Gruppe rechts vom Kreuz machen
sich jetzt neben dem traditionellen Hinweis und den Staunens-
gebärden des Zenturio und der Juden grimmige und höhnische
Gesten bemerkbar. All das aber bleibt noch schattenhaft. Er-
wähnt sei noch eine demonstrierende Redegebärde, die gerade im
14, Jahrhundert häufiger wird: daß Zeigefinger und Mittelfinger
der einen Hand in den Handteller der andern schlagen.
Die Gebärdung der Realistengeneration der Vorrenais-
sance im zweiten Viertel des 15, Jahrhunderts i) ist völlig neu, aber
mehr dem Charakter als dem Inhalt nach. Viele Wirklichkeits-
elemente verbraucht diese Generation, um ihr eigenstes Erlebnis zu
gestalten : die neue, wenn auch noch in vollgedrängter Fläche ent-
wickelte Wahrhaftigkeit und Schwere des leiblichen Daseins, ja in
einzelnen Fällen auch schon den vom Leben durchatmeten, von
kubisch empfundenen Körpern in seiner realen Tiefe bewährten,
selbst schon vom Licht durchspielten Raum. Zu diesen Elementen
gehört auch, genau wie die Standfestigkeit der Gestalten, die
Schwere der Bewegungen, das Wort in sinnlicher wie in geistiger
Bedeutung genommen. Die Gesten dieser Menschen haben weniger
über ihr Inneres auszusagen als von ihrer körperlichen Lebendig-
keit zu überzeugen, und es ist nicht gleichgültig, daß im all-
gemeinen Gesten alltäglicher körperlicher Hantierung origineller
und überzeugender gelingen als irgendwelche Ausdrucksgebärden.
Die Gemütsbewegung ist befangen wie die von Menschen, die,
vom Kreis täglicher Bedürfnisse umschlossen. Mühe haben, sich
zu äußern. Gerade diese Schwere aber gibt in den besten
Werken der Zeit den Gesten dieser Menschen von so unbezweifel-
barer Realität trotz aller Reizlosigkeit etwas sehr Eindrucksvolles.
Man fühlt die Körpersprache einer neuen heraufkommenden
Menschlichkeit, die noch keine Muße gehabt hat, schön zu
werden, aber doch auch nichts Gemeines mehr an sich trägt.
Es überrascht nicht, wenn diese Generation auf ihrer Höhe dann
Werke hervorbringt, die neben Befangenem und Unbeholfenem schon
einen gewissen Adel der Bewegung zeigen, wie die schonenden
Zärtlichkeiten, mit der in Sterzing und bei dem Marientod des
Meisters Bertram sich die Hand des Johannes auf den Arm der
1) Wir sprechen hier vor allem von der Malerei : in ihr tritt das Neue zuerst und
zwar gleichzeitig an verschiedenen Orten hervor. Wie luigleichmäßig die Verhältnisse in
der Schnitzplastik liegen und wie hier erst eine voUkointru-ne Durchforschung des Materials
zur rechten Kinsicht führen kann, zeigt ein Vergleich der nieder- und der oberdeutschen
Bildschnitzerei.
Die Gebärdunir der Realistengeneiation der Vorrenaisance. 235
Maria legt; zuWeilen freilich unter erneuter Mitwirkung gotischer
Rhythmik. Anderseits liegt in dem starken, noch ungeklärten
Raum- und Körperempfinden der Generation auch schon die Vor-
bedingung für jene barocken Steigerungen, die dann später bei
Fächer unter dem Einfluß Mantegnas der Gebärde und Miene eine
gewaltsame und metallene Härte mitteilen.
So wenig das Allgemeine jener ersten Generation mit dem
Schlagwort Naturalismus erledigt ist, so wenig fehlt in ihr die
naturalistische Opposition gegen die Idealität der früheren Zeit.
Es genügt hier, auf den Meister der Berliner Passionstafeln von
1437 hinzuweisen. Sein Gegenpol unter den Zeitgenossen, der
einzige, der direkt aus dem Stil seiner Vorgänger innerhalb der köl-
nischen Schule heraus eine flächenhafte Monumentalität entfaltete,
Stephan Lochner, verläßt auch in der Gebärde nie den Kreis vor-
nehmer zarter Menschlichkeit und steigert nur das gefühlvolle Wesen
der Schule zur Einfachheit, die mit neuen und lebensnäheren
Mitteln redet. So adelt er auch die realistische Gebärde, wo er sie
anwendet, wie etwa die Art, in der seine drei Könige den Hut vor
die Brust halten, nichts bürgerlich Befangenes hat, sondern einen
unbefangenen, bescheidenen Anstand ausdrückt.
Im allgemeinen empfangen die Gesten ihren Charakter noch
nicht davon, daß sie alle individuell wären, sondern davon, daß
lauter Individuen sie ausführen. Das Persönliche der Physiognomie
reflektiert auch auf die traditionelle Geste. Wenn jetzt sich die
schweren Hände zum Gebet einander nähern oder wie in unsicherer
Erinnerung an die Orantengeste mit den gespreizten, in ihrer Form
scharf bezeichneten Fingern sich gegen die Erde ausbreiten, so
wirkt das völlig neu, ebenso das körperliche Ineinanderpressen der
Finger im Schmerz, das von dem leisen Ineinanderlegen des Beten-
den geschieden wird. Wenn die alte symbolische Geste des Mund-
verhüllens so gegeben wird, daß ein heftig vor den Mund gepreßtes
Tuch gleichsam den Schrei zurückhält, so haben wir wieder das
Gleiche: realistisches Neuerleben der allmählich zeichenhaft ge-
wordenen, überkommenen Geste. Die stärksten Neuerwerbungen
macht die Mimik. Hier spielt freilich auch die neue individuelle
Physiognomie mit. So würden etwa die Grimassen der Schergen auf
den Berliner Tafeln, ihr Fletschen, ihr Grinsen, das Verschieben des
Untergesichts nicht so graß-bestialisch wirken ohne die karikierende
Verstärkung durch physiognomische Anomalien wie die entstellenden
Hauer und ohne die Tatsache, daß sich alles auf besonders gemeinen
und stumpfen Zügen abspielt. Aber es wird doch überhaupt bei
der Darstellung der Affekte, des Staunens, der Angst, der Wut, der
Schadenfreude, beim Weinen und Lachen weit über das hinaus-
gegangen, was lange an traditionellen Zeichen dafür genügen
mußte. Ganz besonders jedoch hat der Blick eine völlig neue Be-
236 Die Gebärde der S}3ätgotik.
deutung bekommen : nach der Seite der Energie ifiid der Wildheit.
Die neue körperhafte Modellierung des Gesichts wirkte auch in dieser
Richtung.
Mit einem letzten großen Aufschwung mittelalterlichen Empfin-
dens überschwemmt ja nach der Mitte des Jahrhunderts die Spät-
gotik') den Erwerb der vorangegangenen Generation: mit ihrer
reichen dekorativen Empfindung, der krausen Flächenfüllung, der
verwirrenden, linearen Unruhe, dem knitternden, rieselnden Falten-
wurf und dem blitzenden Materialreichtum. Sie läßt auch in der
Gebärdung alle die Stilnuancen und Wandlungen erkennen, die ihr
dekorativ orientierter Sinn erlebt hat, bis zum preziösen, gar nicht
mehr an der Wirklichkeit orientierten Manierismus. Dabei aber
weiß sie doch immer neue Individualismen in ihren Stil einzu-
beziehen. Eine wirklich genaue Analyse der Gebärde in diesem
Zeitraum wird — besonders bei der Begrenzung dieser skizzen-
haften Betrachtung — fast unmöglich durch die unabsehbare, wider-
spruchsvolle Fülle der Produktion. Die charakteristisch hervor-
stechenden, typischen Züge und wenige repräsentative Beispiele
müssen genügen. Die besondere Artung, die die Gebärde inner-
halb der verschiedenen Lokalschulen hat — sie ist anders im
nüchternen, aktiven Franken, anders bei den beschaulichen, das
Seelenvolle suchenden Schwaben, anders bei der harten Brixener
Schule, anders in dem so stark niederländisch beeinflußten Köln —
erschwert weiterhin die zusammenfassende Besprechung. Dazu
kommen die starken Abstufungen künstlerischer Selbständigkeit,
die jetzt aller Orten der Drang zur Verbreitung und Vervielfältigung
der Werke zeitigt. Reifes und Selbständiges wird überall von dem
Schematisch-Handwerklichen überwuchert. Schnitzaltäre, Holzschnitt-
folgen und Illustrationen zeigen dies Durcheinander besonders. Das
gilt wie für alles andere auch für die Gebärdung. Dennoch läßt
sich wohl einiges ganz Allgemeine andeuten 2).
Charakterisiert wird die Geste des späten 15. Jahrhunderts
durch eine vom spätgotischen Stil bedingte verwirrende Häufung
des Ausdrucks überhaupt; weiter durch das Anwachsen eines klein-
1) Vgl. besonder.s H Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers (München 1905).
2) In diesem Abschnitt wird es besonders fühlbar, wie mißlich es ist, die Ausdrucks-
goste aus dem künstlerischen Zusammenhang der Werke isolieren zu müssen. Denn gerade
in der Spätgotik wirkt soviel ausdrucksmäßig, was nicht direkt Ausdrucksbewegung ist^
daß erst durch den Zusammenhang damit die Gesten sprechen. Die seelische Sprache des
spätgotischen lebendigen Gefältels, des bewegten Lineaments ist bekannt; oft sind es aber
auch unwillkürliche Stellungen, Lagerungen der Glieder, die als Ausdruck wirken. Solche
Betrachtung, wie sie z. ß. Wölfflin bei Gelegenheit einer Dürerschen Beweinung über die
Lage der toten Hand Christi anstellt , müßte in großem Maßstab bei der gesamten Kunst
der Spätgotik und der Renaissance angestellt werden, ehe eine Betrachtung wie die unsere
auch im rein ästhetischen Sinne ausreichend sein könnte.
Die Gebärde der Spätgotik. 237
bürgerlichen, gefühlvollen Wesens, besonders in der Jugend- und
Leidensgeschichte Christi und in den Szenen des Marienlebens;
ferner durch die starke Zunahme bald mehr natürlicher, bald mehr
verfeinernd-preziöser Details; endlich durch die größere Bedeutung
des Momentan-Unwillkürlichen.
Bekannt ist ja das Interesse der Zeit fih- Marter- und Sterbe-
szenen: dem entspricht das ungeheure Anwachsen der Klage- und
Mitleidsgebärde. Zum Teil hängt das auch mit der Vorliebe der
Zeit für die volkreiche, gefüllte Szenerie zusammen : man muß alle
diese Menschen beschäftigen. Das bedeutet aber auch jetzt noch
keineswegs lauter neue Gesten, vielmehr nur ein absolutes Ver-
fügen über die ganze mittelalterliche Instrumentation der Klage-
szenen. Nun werden auch wiederum, wie schon früher in geringerem
Maße zu konstatieren war, die Gesten aus Szenen, in denen sie
sonst stabil erschienen, in andere, die man nun gefühlvoller ge-
staltet (so etwa Maria und Johannes in der Kreuztragungsszene),
oder in andere, die man jetzt erst entwickelt (die neuen Szenen
der Passionsfolge), übernommen. In der gleichen Richtung wirkt
auch jetzt das gebräuchliche Zusammenschieben mehrerer Szenen
auf ein Bild. Dasselbe, was von den Schmerzgebärden gilt, ist auch
von den früher nur auf eine Szene beschränkten Hohn- und Grau-
samkeitsgesten und -mienen zu sagen.
Charakteristisch für das larmoyante Wesen der Zeit ist etwa
die neue Gestaltung der Ohnmacht Marias am Kreuz. Neben das
bisher Gebräuchliche tritt nämlich jetzt ein klägliches Dastehen mit
einknickenden Knien und schiefer Haltung des Oberkörpers oder
Kopfes 1), während die Hände in einer der typischen Klagegesten be-
schäftigt sind. Was über die geringe Distanz der tröstenden Frauen
von der Gottesmutter für das 14. Jahrhundert gesagt wurde, gilt
jetzt erst recht; sie sind oft nicht mehr als gute Nachbarinnen, zu-
weilen verflechten sie ihre Hände mit den herabsinkenden Händen
Marias. Dieses betuliche Wesen macht auch die andern Passions-
szenen der Zeit oft kleinbürgerlich, während es den Jugend szenen
einen intim traulichen Zug gibt. Für Johannes und Magdalena
werden auch jetzt noch die leidenschaftlicheren und interessanteren
Haltungen reserviert ; aber selbst ein so fein empfindender Quattro-
centist, wie J. Syrlin d. J. findet ein Ausreiben des Auges mit dem
Handrücken für Johannes nicht zu niedrig gegriffen. Die Mani-
risten der Spätgotik lösen dies kleinbürgerliche Wesen übrigens
meist durch ein krampfiges, den Schmerz zur Schau stellendes
Winden und Renken der Glieder ab oder durch nervöse detaillierte
Feinheit, während die Stimmung des letzten Jahrzehnts bei einigen
1) Diese schräge Kopfhaltung ist ein beliebtes Ausdrucksmittel der Zeit auch als
Zeichen der Huld und des Anteils.
238 Die Gebärde der Spätgotik.
Meistern, noch im Rahmen der bürgerhchen Empfindung, wieder
auf eine schhchtere und würdevollere Äußerung hinzielt, bei andern
(schon vor dem italienischen Einfluß) auf die neue, für die Re-
naissance charakteristische leidenschafthche Haltung. Wie fein ein
Spätgotiker zuweilen durch die Komposition traditionelle Gebärden
lyrisch neu betont, dafür ist etwa Riemenschneiders Himmelfahrt
Maria ein Beispiel, wo die betend gehobene überfeine Hand des
Johannes der enteilenden Maria unwillkürlich nachzutasten scheint.
Der seelenvolle Blick: Auge in Auge zwischen dem Tod und dem
Jüngling beim Meister des Amsterdamer Kabinetts hat seinesgleichen
kaum in der früheren deutschen Kunst i).
In dieser Zeit vielfiguriger Bilder muß sich naturgemäß auch
die soziale Gebärde, die früher auf wenige Zeichen beschränkt war,
ausgestalten.
Bei den Gesten und Mienen der Grausamkeit und des Hohnes,
in denen sich der Stoff- und Reizhunger der Generation nach der
dem Sentimentalen entgegengesetzten Richtung genug tut, geht man
oft bis zur Unflätigkeit, und es ist nicht immer nur ein naturalistischer
Hang, sondern oft gerade eine dekorative Steigerungslust, die das
bewirkt. Die sakrale Geste früherer Epoche wandelt sich ins Bürger-
lich-Gemütliche; die Kindheitsszenen bieten hierzu genug Beispiele:
so das Rücken und Lüften des Hutes bei den drei Königen statt
der abgelegten Krone, das Handgeben und Handküssen statt der
Umarmung bei der Heimsuchung, die vielen anmutigen kleinen Züge
elterhcher Zärtlichkeit bei den Sippenbildern. Vielfach sind auch
jetzt noch die neu wirkenden Gesten nur in neuem Sinne em-
pfundene Überlieferung. Daneben sind aber doch auch viele neu
gefundene Gebärden da. Wie vielfältig und neu sind etwa jetzt
die Gesten des Diskutierens und Redens und die der Überraschung,
des Schrecks und der Scheu : wenn die geöffneten Hände ruckartig
emporfahren als wollten sie sich zusammenschlagen, oder wenn eine
aufgestützte Hand mit nervöser Fingerbewegung emporzuckt, wenn
die scharf modellierte Hand mit kräftiger Gebärde zornig oder nach-
denklich in den Bart greift usf. Wie stimmt vor allem die ganze
Haltung des Körpers zu der einzelnen Geste! Jetzt erst beginnt
recht eigentlich die Kunst, der Gebärde physiognomische Individuali-
sation zu geben: die Geste von Mann und Weib, Greis und Kind
anders herauskommen zu lassen. Neu sind in den Klagegebärden
die verschiedene Form des Händefaltens mit umgebrochenem Hand-
gelenk, das Dastehen mit herabgesenkten gefalteten Händen, die
Handrücken nach außen, als Zeichen der Andacht, das Hände-
1) Das überfeinert Seelenzarte ist ja am vollkommensten in der Formensprache
Schongauers lebendig, von dem man gesagt hat, der Beschauer glaube, die Nasenflügel
seiner Gestallen vibrieren zu sehen.
Die (Jebärde der Spätgotik. 239
winden, wobei die Handteller nach außen kommen usw. Das Um-
armen des Kreuzstammes oder auch das Emporfalten der Hände
am Kreuz ist ja geradezu bezeichnend für den Kreuzigungstypus
mancher Schulen. Sehr wechselvoll sind in den Vesperbildern die
Zärtlichkeits- und Schmerzgesten der um den Leichnam Bemühten
verteilt und variiert : das Küssen des Gesichts, das Aufnehmen der
Hand, das Empfangen des herabsinkenden Armes bei der Kreuz-
abnahme, das Umschlingen der Füße, das Sichherabbeugen über
den Körper; selten wohl so groß und ergreifend wie auf dem
Kraftschen Relief des Nürnberger Johanneskirchhofs in der Art, wie
die knieende Frau mit zurückgelegtem Kopf an den eben ins Grab
Gesenkten herandrängt, um den letzten Kuß zu nehmen, oder auf
dem Altar in Calcar, wo die knieende Magdalena sich vorwärtsreißt.
Dem Charakter der Zeit entsprechen die großen Klagegesten, die
den ganzen Körper ergreifen: das Ringen der Hände über dem
Kopf, das Sichzubodenwerfen, das Emporschleudern und Ausstrecken
der Arme ganz gewiß nicht. Jedenfalls sind sie kaum je bildwirk-
sam; völlig verschwunden sind sie anderseits keineswegs. Ganz
realistisch neu ist die Mienensprache. Die neue Mimik des Mundes,
ein ausdrucksvolles Spiel der Wangenmuskeln ergänzen die gebräuch-
licheren Mienen. Das Weinen wird oft sehr realistisch dargestellt;
die glitzernden Tränen sind aber nicht nur Genauigkeitsangabe,
sondern auch dekoratives Mittel, ebenso wie der Materialreichtum
der Kleidung (beim Bartholomäus-Meister). Das Öffnen und Schließen
der Augenlider wird als neues Ausdrucksmittel gehandhabt; so paßt
sich etwa das etwas klhiimerliche Lidersenken und Zusammen-
drücken des Mundes, das jetzt der Maria auch außerhalb der Ohn-
macht eignet, ihrer nonnenhaften Haltung und Physiognomie an.
Blick und Gesamtausdruck umspannen eine sehr reiche Skala von
Empfindungen, die hier aufzuzählen zwecklos wäre. Wie der Weg
vom allgemein gehaltenen Ausdruckskopf zum belebten Charakter-
kopf geht, hat die Forschung an einzelnen Meistern bereits auf-
gezeigt. Am Ende dieses Zeitabschnittes erhält auch der geringere
Künstler eine überreiche Fülle mimischer Ausdrucksmöglichkeiten
als erlernbaren Besitz. Wenn das individuelle, kräftig Natürliche
in Geste und Mienenspiel, das intim Zierliche, das verfeinert Seelen-
volle der Erwerb dieser Zeit ist, bürgerliche Rührseligkeit, plebe-
jische Natürlichkeit auf der einen Seite, preziöser Manierismus auf
der andern, ihre Gefahr, so fehlt es ihr fast völlig an dem Aus-
druck der großen Leidenschaft. Die stille Hoheit der Erscheinung
wie die volle pathetische Kraft des Ausdrucks sind ihr bis zum
letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts im allgemeinen fremd. Hier
muß erst eine neue Empfindungsweise den Umschwung bringen,
die in dem von Italien beeinflußten Dürer ihren stärksten Aus-
druck hat.
240 Völlige Verschiedenheit der Gestik in den drei Künsten.
Wir stehen am Ende unserer vergleichenden Betrachtung der
Gestik, wie sie auf dem geistlichen Theater, im geistlichen Epos
und in der geistlichen Bildkunst des deutschen Mittelalters sich
gestaltete, und als Ergebnis bleibt die Feststellung: die Entwicklung
vollzieht sich jedesmal unter völlig andern Bedingungen, sie geht
auf grundverschiedenen Wegen und gelangt im ganzen zu durch-
aus verschiedenen Zielen. Wohl ist ihnen allen gemeinsam die
mittelalterliche Gebundenheit durch die Überlieferung und die Ab-
neigung dagegen, sich durch stete Wirklichkeitsbeobachtung zu er-
neuern; die bildende Kunst aber bleibt, trotz ihrer Verarbeitung
altüberlieferten Gutes und der inneren Stetigkeit ihrer Geberden-
tradition, auch in dieser Beziehung für sich allein: sie steht auf
einer wirklichen Kunsthöhe, wie sie weder das christliche Epos
noch das Theater auch nur annähernd erreicht haben, und ent-
wickelt daher entsprechend ihrem inneren Verhältnis zur Sicht-
barkeit in ihren grossen Augenblicken gerade die Erscheinungs-
form der Geberde zu einer Kunstwahrheit, von der naturgemäß
in die andern Gattungen nichts eingehen kann. Die Folge
davon aber ist die, daß, während sonst zwischen den drei Kunst-
gebieten mancherlei Austausch stattfinden kann, während nament-
lich die gegenseitige Anregung von Theater und bildender Kunst
mannigfach ins Auge fällt i), eine solche Einwirkung der Künste auf-
einander hinsichtlich der Gebärdensprache im allgemeinen ziemlich
ausgeschlossen ist. Die paar ganz seltenen Ausnahmefälle bestätigen
nur die Regel: so wenn Otfrid, der sich ja öfter durch die bildende
Kunst beeinflussen läßt, gelegentlich auch einmal eine nicht litera-
rische Geste von dorther übernimmt, und so gibt es auch einige
Fälle, in denen gegen die Bibel oder wenigstens ohne daß die
Bibel eine direkte Anregung böte, das Theater dieselbe Geste wie
die bildende Kunst hat. Zwei solcher Übereinstimmungen seien
hier angeführt — mag sein, daß eine vergleichende Betrachtung,
die statt, wie es hier geschehen, den Blick auf das Ganze zu richten,
die einzelnen Szenen gesondert behandelte, noch einige weitere
Fälle ermitteln würde. Bei der Verehrung des Christkindes durch
die Magier pflegt einer der drei, sowohl auf dem Theater wie in
1) Wichtige Arbeiten : C. M e y e r , Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst :
Vierteljahrschr. f. Kultur und Litt. d. Renaissance 1 (1886), S. 183 ff. ; P. Weber,
Geistl. Schauspiel u. bild. Kunst (Stuttgart 1894); K. T s c h e u s c h n e r , Die deutsche
Passionsbiihne u. d. dtsche Malerei des 15. u. 16. Jh. in ihren Wechselbeziehungen :
Repertoriuin f. Kunstwiss. 27 (1905) und 28 (1906); E. Male, L'art religieux de la fin
du moyen age en France (Paris 1908); Greiz enach Bd. 1, 2. Aufl. (1911), S. 2U ff.
Auf das Problem der Gebärdensprac^he geht keine dieser Arbeiten ein. — Einen trefflichen
ersten Orientierungsversuch für das Verhältnis von Poesie und Bildkunst (ohne Be-
schränkung auf das geistliche Gebiet) bietet F. Panzer, Dichtung u. bild. Kunst des
dtschen MA in ihren Wechselbeziehungen : Neue Jahrbücher f. d. klass. Altert., Gesch
und dtsche. Litt. 13 (1904), S. 135—61.
Die Scliauspieikunst des ausgehenden Mittelalters. 241
den bildlichen Darstellungen, mit erhobener Hand nach dem Sterne
zu weisen, und mit der gleichen Geste zeigt häufig hier wie dort
der Zenturio nach Christi Tode empor nach dem Manne am Kreuz,
in dem er Gottes Sohn erkennt. Da aber diese Hinweisgebärde
zu den sowohl theatralisch wie bildlich zulässigen Gesten gehört
und der Wortlaut der Bibel {ecce Stella und namentlich hie . .) die
Anwendung der Gebärde sehr nahelegt, braucht es sich hier nicht
um einen unmittelbaren Zusammenhang zu handeln i), sondern beide
Künste können hier unabhängig voneinander zu dem gleichen Er-
gebnis gekommen sein. Im übrigen bleibt die biblisch-liturgische Aus-
druckskunst des Theaters in ihrer Spärlichkeit und Strenge bewahrt.
Die Schauspielkunst des ausgehenden Mittelalters.
Bleibt — bis schließlich in der zweiten Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts das neue Blut dieser Zeit zu stürmisch pulsiert, als
1) H. Kehr er (Die heiligen drei Könige in Literatur und Kunst. Leipzig 1908). 2,
S. 159 ff.) will allerdings einen direkten Zusammenhang beweisen: eine Abhängigkeit
der jüngeren Darstellungen der Dreikönigsszene in der Bildkunst von der Aufführung des
Dreikönigsspiels, und zwar eben auf Grund von Übereinstimmungen in der Gestik;
die Darlegungen des sonst offenbar ausgezeichneten Buches vermögen aber schwerlich von
der Notwendigkeit einer solchen Annahme zu überzeugen. Die Darstellungen der Szene
in der französischen Bildkunst zeigen seit etwa 1170 einen neuen Grundtypus, dem man
sich dann später auch anderwärts anschließt : der erste König kniet jetzt, während er
frülier das Knie nur neigte, der zweite deutet mit erhobener Hand nach dem Stern; in
Frankreich haben die Dreikönigspiele ihren Ursprung, und ihnen, so meint K., hat die
bildende Kunst damals sowohl das Knien wie das Hindeuten entnommen. Dem ist
dreierlei entgegenzuhalten. 1) Daß die in der szenischen Bemerkung übrigens nur eines
Spieltextes erwähnte genuflexio auf dem Theater wirkliches Niederknien und nicht bloße
inclinatio bedeutet, ist durch nichts zu erweisen (vgl. o. S. 204; noch weniger das von K.
ebenfalls behauptete Hochheben des Geschenks durch den König); umgekehrt mußte auch
erst gezeigt werden, daß die Wandlung der inclinatio in das Knien nicht einer allge-
meinen bildkünstlerischen Neigung jener Perlode entstammt. 2) Die Deutgebärde läßt
sich auch schon vor jenem von K. für entscheidend gehaltenen Zeitpunkt und an
anderm Orte nachweisen: in dem englischen Albanipsalter v, i. 1114 {vgl. K.s.
Abbildung 137) und auf der von K. nicht erwähnten deutschen Elfenbeintafel des Berliner
Museums (Voeges Kat. Nr. 40), die jedenfalls aus dem 11. Jh. stammt. Und 3) nach jener
Theorie, daß das Mutterland des Spiels um 1170 die heimische Bildkimst beeinflußt habe,
sollte man annehmen, daß das Spiel eben damals sich entwickelt habe ; tatsächlich aber
existiert es damals, wie auch K. selbst (1, S. 55 ff.) auseinandersetzt, schon seit mehr als
100 Jahren und nicht nur in Frankreich, sondern auch anderwärts. Es ist demnach sehr
wohl möglich, daß wir nicht erst eine so komplizierte Übertragung des Einfachen anzu-
nehmen brauchen, daß vielmehr ein bildender Künstler aus erneuter Ausnutzung der
Matthäusstelle und aus rein bildkünstlerischer Gestaltungskraft heraus auf die Verwendung
jener emporzeigenden Gebärde gekommen ist. — Aber auch wenn K.s Hypothese zu
Recht bestehen sollte, handelt es sich nur um Einwirkung des Theaters auf die bildende
Kunst, nicht um das in imserer Darstellung für die Gebärdensprache besonders geleugnete
umgekehrte Verhältnis. Und ferner: selbst wenn wir auf Grund der K.schen Anschauung
die jüngeren Dreikönigsskulpturen und -bilder als Spiegelbilder der Theateraufführung be-
nutzen könnten, würden sie uns nichts anderes lehren als was wir schon wissen : die
Verwendung der „labilen Gesten" an allen geeigneten Stellen.
H e r r m a n n , Theater. 16
242 Umschwung durch die Gestik der dramatischen Marienklagen.
daß ihm gegenüber die strenge und stille Art des Theaters sich
noch vollständig die alte Ruhe bewahren konnte. Es wird eine
Bresche gelegt, und bezeichnenderweise ist die Stelle, an der der
erste siegreiche Angriff erfolgt, dieselbe, an der einst Jahrhunderte
vorher eine Umwälzung in der Gebärdensprache der geistlichen
Epik erfolgt war, dieselbe, an der auch in der bildenden Kunst
des ausgehenden Mittelalters in jenem Zusammentreffen von Alt
und Neu die stärkste Pathetik zum Ausdruck kam. Diese Stelle
ist die Marienklage. Daß hier am leichtesten auch in der theatra-
lischen Darstellung Konzessionen ans Moderne gemacht werden
konnten, ist durchaus begreiflich: hier fehlt jene kanonische Grund-
lage, die sonst immer wieder die Einhaltung der strengen Art sich
erzwang — diese Marienklagen führen ja nicht auf die Bibel,
sondern auf jene späte lateinische Literatur des zwölften Jahr-
hunderts ihren Ursprung zurück und sind nicht immer dem Ganzen
des Passionsspiels eingefügt, sondern haben zunächst auch ein
selbständiges Dasein als eigene kurze Spiele. Zunächst freilich
hält auch hier die Gebärdensprache den strengen Stil der mittel-
alterlichen Theaterkunst gegenüber der Pathetik der erzählenden
Grundlage fest, während offenbar in der Gesamtanlage der Vor-
führung ein starker Einfluß der erzählenden Kunst und der bil-
denden Kunst und ihrer in den Beweinungsbildern gipfelnden Dar-
stellungen der Schmerzen Maria in einer Wechselwirkung vorliegt,
die noch der zusammenfassenden Betrachtung harrt i). In der
zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts aber wird auch der
darstellerische Gefühlsausdruck vom Geist des Pathos ergriffen,
und die ausgeprägteste Form der neuen Darstellungsmethode liegt
in der niederdeutschen Bordesholmer Marienklage vor uns 2), die
aus dem Jahre 1475 oder 1476 stammt. Hier finden wir neben dem
theatralisch auch sonst Gebräuchlichen, neben dem gemibus flexis,
dem elevat [oculos, der vox lacnmabüis usw., in den szenischen
Bemerkungen auch völlig Neues: nicht nur taucht das lange be-
seitigte prosternere se ad teiram hier wieder auf und zwar diesmal
nicht als Zeichen der Anbetung, sondern als Ausdruck für den
furchtbarsten Schmerz der Maria, es erscheinen vielmehr zur Kenn-
zeichnung des Schmerzes immer wieder die bisher völlig verpönten
Vorschriften elevat brachia und plangit cum manibiis. Hier sind
die Scheidewände zwischen der theatralischen Gestikulation und
1) Die Abhängigkeit der dramatischen Gedichte Deutschlands von jener epischen
Darstellung des 13. Jh. „Unser Frauen Klage" ist nachgewiesen von Schönbach, Über
Marienklagen (Graz 1875); vgl. ferner W. Meyer, Carmina Burana (I5erlin 1901), S. 68ff.
VÄn gelegentlicher Hinweis auf den Zusammenhang der dramatischen Aufführung mit der
bildenden Kunst in Italien bei Creizenach 1 (1. Aufl.), S. 310, Anm. 1.
2) Sie ist neu herausgegeben von G. Kühl: JbVNiederdSpraclif. 24 (1898), S. 1 ff., —
leider kommt in der Einleitung das Theatergeschichtliche sehr zu kurz.
Umschwung (iurcli die Gestik der dramatischen Marienkiasen. 24B
den auf den Bildern und in der geistlichen Erzählung herrschenden
Ausdrucksart wenigstens an einer Stelle niedergelegt; wie sehr
man sich dessen bewußt ist, damit gefährliches Neuland betreten
zu haben, zeigt die umfangreiche lateinische, auch sonst theater-
geschichtlich sehr interessante Vorrede der Bordesholmer Klage,
in der es heißt: Aliquando beata uirgo expandit brachia sua, ali-
qiiando leuat manus suas ad filiiim cum oculis; omnia cum
moderamine. Keineswegs aber darf man glauben, daß diese
Bordesholmer Klage nur eine vereinzelte Erscheinung sei: Spuren
einer Beeinflussung des Schmerzensausdrucks finden sich auch in
der Marienklage von Wolfenbüttel, und die lebhafte Trauersprache
der Hände ist auch in der Trierer Marienklage hervorgehoben.
Indem nun das Alsfelder Passionsspiel, das dem Ende des 15. Jahr-
hunderts angehört, sich diese Trierer Marienklage verarbeitet ein-
verleibte, hält das entscheidende plangendo cum manibus ebenso
wie das se ad ferram residendo der Maria und ähnlichen dem Epos
und den Gemälden nahestehenden Vorschriften auch in die szenischen
Vorschriften des großen geistlichen Dramas seinen Einzug — aller-
dings auch hier eben nur in dem Bezirk der Passionsklagen,
während der allgemeine Charakter der Gestikulation der alte bleibt.
Daß es sich dabei um einen symptomatischen Hergang handelt,
zeigt der Sterzing-Pfarrkircher-Passion oder sein Urbild aus dem
i\usgang des 15. Jahrhunderts, wo ebenfalls an Christi Kreuz Maria
ihren Kummer expansis manibus austönen läßt; hier allerdings
ohne daß wir die der Einschmuggelung zugrunde liegende Marien-
klage schon nachzuweisen vermöchten.
Nachdem nun aber jetzt einmal an einer Stelle der Bann
der biblisch-liturgischen Gebärdenstrenge gebrochen ist, kann nun
endlich der Versuch gewagt werden, jenem Geist beginnender
Individualisierung, Wirklichkeitsberücksichtigung und Pathetik, der
uns in der bildenden Kunst des ausgehenden Mittelalters entgegen-
trat, auch auf dem Theater Eingang zu verschaffen. Freilich haben
wir dafür nur ein einziges Beispiel: das Donaueschinger Passions-
spiel, in bezug auf dessen Entstehung man nur sagen kann, daß
es der Schrift nach noch ins 15. Jahrhundert gesetzt wirdi). Hier
sind nun freilich auch noch keineswegs alle Bande frommer Scheu
gelöst; so gut wie auf den spätmittelalterlichen Bildern jene alte
Gebärdensprache sich neben den modernen Elementen erhält, so
gut bleiben auch hier auf dem Theater die gewohnten Seelenzeichen:
Seufzer und Murmeln; Knien, Sichbücken, Fußkuß, Winken, mit
dem Finger hinzeigen (sehr häufig!) und dergleichen mehr. Da-
neben aber tritt nun das Neue ganz deutlich z-itage. Das Agieren
1) Auch die neue Arbeit von Dinges (Breslau 1910) gibt keine weiteren
Aufschlüsse.
16*
244 Pathetik, Individualisierung, Naturalismus im Donaueschinger Spiel.
mit Armen und Händen zum Zeichen der Trauer findet sich freilich
nur einmal angedeutet, aber das Ausstrecken der Arme im brünstigen
Gebet ist hier nun in Übereinstimmung mit der Liturgie und der
bildenden Kunst häufig verwandt, das früher vermiedene Zuboden-
stürzen wird hier neubelebt, und etwa in der Ölbergszene zeigt
sich in voller Übereinstimmung mit der Darstellung des geistlichen
Erzählers unter Benutzung aller sonst als ungeeignet verschmähten
Quellenandeutungen die stärkste Pathetik: denn gat der Salvator
zum dritten mal von inen an den Ölberg und falt nider vff das
antut criitzwiss eins guten paternosters lang, denn rieht er sich
zitternde mit vff gehepten handen, und sol im der blutig schweiß
vss gan, vnd mit forchtsamlicher stim facht er also zitternde an.
So sinkt auch Maria am Ki'euz mit großem Ächzen und Jammern
nieder. Zu solcher erweiterten Pathetik kommt endlich Naturahstisch-
Individuahstisches der neuen Zeit, zum Teil dem Leben, zum Teil
aber auch den Bildern abgesehen : so wenn die Wächter bei Christi
Auferstehung — ohne Anregung der Quelle und eher beinahe im
Gegensatz zu ihr — erschreckt emporfahren. Schreck wird auch
dadurch ausgedrückt, daß der Betreffende etwas fallen läßt ; Jesus
wischt die Augen bei seiner Trauer um Lazarus; Petrus zuckt mit
dem Fuß, den der Herr ihm waschen will; Maria Magdalene stost
das spil frävenlich von ir vnd wüst vff . . . Man droht mit der
Hand, man stößt jemand mit der Hand von sich, man inacht mit
der Hand ein Kreuz, man nimmt einen teuren Menschen freundlich
bei der Hand und so fort. All das ist hier durchaus neu ; und wie
auf den Gemälden kann nun Alt und Neu auch miteinander un-
mittelbar verbunden sein: Caijphas wüst vff sölliche des Salvators
wort zornklich vnd facht an seine kleider zerrissen.
Mit dieser Entschiedenheit der Modernisierung steht das Donau-
eschinger Spiel allerdings allein; auch die Tiroler Passionsspiel-
bearbeitungen des 16. Jahrhunderts (z. B. Hall 1511?, Brixen 1521)
weisen wohl den älteren Vorgängen gegenüber einige der neuen
Züge auf, halten im Ganzen aber doch mehr die konservative Ai't
des alten Spieles fest.
Und nun dürfen wir wieder einlenken in den Hauptweg unserer
Untersuchung und uns fragen: wie steht die Gebärdensprache des
Hans Sachsischen Theaters zu der des mittelalterhchen Theaters:
zu ihrer gewöhnlichen, sparsamen, biblisch-liturgischen Art und
zu jener nicht ganz unwesentlich modernisierenden Form, die wir
soeben ganz am Ausgang des Mittelalters beobachten konnten?
Die Gebärdensprache der Meistersingerbühne.
Versuchen wir demgemäß zunächst die Gebärdensprache der
Hans Sachsischen Meistersingerbühne in sich zu überschauen, so
fällt zu allererst der gelegentlich schon einmal hervorgehobene
Die Gebärdensprache der Meistersingerbühne. Mimik, Gesammtkürper. 245
Mangel an Gesichtsmimik auf. Nur in bezug auf den Blick finden
sich einige szenische Vorschriften. Auch sie sind aber nur recht
spärlich. Ferner: es ist eigentlich nur in einem einzigen Drama
an zwei Stellen direkte seelische Charakteristik des Blicks gegeben:
KG. 15, S. 41 (1557): Saul . . . sieht düsterlich und S. 55 Saul sieht
düekiseh^). Sonst handelt es sich um Kennzeichnung der Blick-
richtung — in manchen Fällen dabei um reine Aktion : das schaiffe,
starcke, fleissige Ansehen zum Zweck des Erkennens, das, mit einer
Bewegung des ganzen Körpers verbundene Vmb sieh - Sehen beim
Suchen usw. ; gelegentlich, wenn jemand (KG. 11, S. 408) sieht vmb
verzagt, handelt es sich um ein Verhalten, das in der Mitte steht
zwischen Kennzeichnung der Situation und psychischer Charakte-
ristik. So bleibt für den eigentlich seelischen Ausdruck nicht viel
übrig, und auch dann ist das Mimische kaum ganz isoliert: wenn
hier und da die Scham durch vndter sich sehen, die Andacht und
Verwandtes nicht ganz selten durch über sieh sehen angedeutet
wird, so kommt jedenfalls die Haltung des Kopfes dem Blick zu
Hilfe, ebenso wenn gelegentlich (KG. 11, S. 263) Verlegene einander
ansehen. Im ganzen also eine ganz auffallend geringe Rolle des
Gesichtsausdrucks; die Haltung des Kopfßs für sich allein kommt,
wenn wir von hier und da einmal vorgeschriebenem Kopfschütteln
und Kopfnicken absehen, ebenfalls nicht in Betracht. Ganz isoliert
ist es, daß zum Zeichen der Wut im Jüngsten Gericht 1558 (KG. 11,
S. 415) Satanas ausspeit 2).
Etwas häufiger ist die Verwertung des ganzen Körpers und im
besonderen der Beine — aber eine irgendwie entscheidende Rolle
spielen auch die Ausdrucksbewegungen dieser Art nicht. Von der
aus einer vorgeschriebenen Stimmung heraus zu leistenden Nuan-
zierung des Ganzen ist in anderm Zusammenhang schon oben
(S. 147 ff.) die Rede gewesen, und ganz außerhalb der Betrachtung der
Schauspielkunst ist (S. 47) bereits davon gesprochen, daß der Nürn-
berger Darsteller die traurige Gemütslage der von ihm verkörperten
Person auf die einfachste Weise zur Anschauung bringt: indem
er auf dem Chorstuhl Platz nimmt. Das sehr oft geforderte Sich-
neigen ist die bei Hans Sachs gewöhnhche Form der Begrüßung,
ohne eigentlich seelischen Nebeninhalt. In den biblischen Dramen
wird hin und wieder bei einer göttlichen Erscheinung, die ja vom
bibhschen Text gelehrte, völhge Niederwerfung des Körpers ge-
1) Das Sicht ernstlich, des 1559 (KG. 15, S. 110) in der erweiterten Esther gebraucht
wird, ist nur ein Rest des sieht sie ernstlich an aus der ersten Esther von 1536 (KG. 1,
S. 122), kommt also für die klassische Zeit nicht voll in Betracht; damals, in der Frühzeit,
auch (1546, KG. 2, S. 53) einmal: sieht im sehnlich nach.
2) Mit dem zweiten Fall, dem Ausspeien Hamans in der erweiterten Esther (KG. 1 5.
S. 106) steht es wie mit dem ernstlichen Blick (vgl. oben Anm. 1): es ist ein Überbleibsel
der alten Esther von 1536 (KG. 1, S. 119).
246 Gesammtspiel. Arme und Hände.
fordert: man feit auff sein angesicht, und ein paarmal (KG. 10,
S. 277, 337), im Anschluß an die biblische Vorlage des Dichters,
fällt man auch vor Kummer oder Angst auf die Erde. Auf seine
weltlichen Dramen hat Hans Sachs derartiges nur ganz ausnahms-
weise übertragen: Fortunat (1553, KG. 12, S. 199) küßt vor dem
Sultan, den er begrüßt, die Erde; trauernde Frauen stürzen auf
einen geliebten Toten nieder (Isald, Hekuba, Polixena, auch Krim-
hild) ; ohne dieses Sehnen, mit dem teuren Körper sich zu berühren,
sinkt nur Melusine (KG. 12, S. 550) vor Kummer nider zu der erden.
Auf der Grenze zwischen Aktion und Zeichen der Gemütsbewegung
steht das hier und da vorkommende Sichumsehen: es bedeutet
sowohl das Suchen nach einer Person oder einem Gegenstand wie
auch die damit verbundene Verzagtheit. Ganz isoliert aber ist es,
daß Belsazar (KG. 11, S. 50) vor Schreck vom Tisch auffährt i); ein
Aufspringen vor Freude (KG. 2, S. 14) gehört ins Jahr 1530, also
in Hans Sachsens Frühzeit. Im übrigen spielt nur das Knien (auf
beiden Knien) eine nicht ganz unbeträchtliche Rolle; manchmal
in Verbindung mit dem Aufheben der Hände, manchmal aber auch
allein verwendet. So gut wie ausnahmslos bedeutet es eine starke
Bitte und zwar fast immer Bitte um Begnadigung'^); die Bitte richtet
sich nicht so häufig an Gott wie an Menschen: Könige oder an-
dere Fürsten. Allzuhäufig aber ist auch der Kniefall nicht ver-
wendet — ein charakteristisches Gepräge wird der Nürnberger
Schauspielkunst durch die Aktion des ganzen Körpers oder im be-
sondern der Beine auch nicht gegeben, wenn auch jenes fast
völlige Ausfallen das Mimischen hier doch kein Seitenstück findet.
Das charakteristische, entscheidende Gepräge gibt vielmehr
durchaus die starke Bewegung der Arme und der Hände. Auch
hier freilich ist der Reichtum an Gesten und die Differenzierungs-
möglichkeit nicht groß, im Gegenteil: die sehr geringe Zahl (es
handelt sich um wenig mehr als ein Dutzend) und die Gleichförmig-
keit der Anwendung weisen auf eine streng stilisierende Kunst und
auf die Berücksichtigung eines Schauspielerpersonals, dessen Lei-
stungen, wie wir schon in anderm Zusammenhang hervorhoben,
wesentlich erlernbar sein mußten. Von diesen wenigen, in steter
Sicherheit zur Verfügung stehenden Mitteln macht der Dichter-
regisseur aber verhältnismäßig lebhaften Gebrauch. Und weiter: dafür
daß über die bloße Rücksichtnahme auf leichte Erlernbarkeit hinaus
eine strenge Stilisierung hier Selbstzweck ist, spricht der Umstand,
daß unter den Hand- und Armbewegungen qualitativ und quanti-
tativ diejenigen die wichtigsten sind, die ohne Beteihgung anderer
Körperteile lediglich Arme und Hände und zwar in ganz gleich-
1) Das LendenschiUtorn und IJeinezillcrn, von dem die IJibel spricht, war theatralisch
unverwendljar.
2) Einmal Dank an Gott, einmal Knien vor einem Mönch bei der Beichte.
Bewegungen der Arme und Hände. 247
mäßiger Funktion beide Hände und beide Arme angehen. So
stehen im Zentrum der Hans Sachsischen Schauspielkunst sechs
Gesten, die sich zu einer Art Bewegungsskala zusammenreihen
lassen: Händezusammenlegen, Händeaufheben, Händewinden, Hände-
zusammenschlagen, Armeaufheben, Händeüberdemkopfzusammen-
schlagen. Und wenn wir zunächst zusammenfassend den seelischen
Inhalt feststellen wollen, der mit solchen Mitteln zum Ausdruck
gebracht wird, so können wir sagen: es sind die beiden drama-
tischen Haupttrümpfe, die das Hans Sachsische Drama — wie jedes
Drama des 16. Jahrhunderts im letzten Sinne stark rhetorisches
Passivitätsdrama — auszuspielen hat, die auch durch jene zentrale
Gestenreihe schauspielerisch urgiert werden sollen: rasch eintretendes
furchtbares Leid auf der einen, flehentliche Bitte [auf der andern
Seite.
Es mag charakteristisch sein für die innere Zusammengehörig-
keit dieser beiden bedeutsamsten seelischen Akzentuierungen des
Hans Sachsischen Dialogs: Jammern und Bitten, daß zwei jener
Hauptgesten: das Händezusammenlegen und das Händeaufheben für
Klage und für Bitte verwendet werden können; allerdings sind sie
auch darüber hinaus noch mehrdeutig: können gelegentlich auch
Ehrfurcht, Dank, Freude, auch wohl Reue zum Ausdruck bringen.
Die Bitte des Händezusammenlegens (das öfters mit dem himmel-
wärts gerichteten Blick verbunden erscheint) ist nur Gebet, richtet
sich also nur an Gott (oder an Götter) ; das Händeaufheben dagegen
(zuweilen ebenfalls durch den Aufbhck, zuweilen auch durch den
Kniefall verstärkt) wendet sich sowohl an Gott wie an Könige, hie
und da auch auch an minder hochstehende Fürsten. Außerdem
unterscheidet sich das Zusammenlegen von dem Emporheben der
Hände dadurch, daß die Gemütsbewegung des Bittenden oder
Klagenden beim Händezusammenlegen ruhiger zu sein pflegt. Und
in der gleichen Richtung bewegt sich nun auch die Tendenz, in der
Hans Sachs die noch übrigen Hand- und Armbewegungen unter-
scheidend anwendet, die zunächst sämthch für die Bezeichnung des
großen Jammers da sind. Je heftiger der Kummer des Redenden,
je näher den Affekten der Verzweiflung und des Schreckens,
um so heftiger ist die Bewegung, um so weiter die Pose von
der normalen Haltung entfernt; so ist es beinahe die Regel,
daß der Überbringer einer grauenvollen Nachricht gleich bei dem
Auftreten die Hände überm Kopf zusammenschlägt. „Beinahe
die Regel" — denn zu einer maschinenmäßigen Anwendung der
Vorschriften bringt Hans Sachs es überhaupt nicht. Die Tendenz
aber scheint durchaus vorhanden. Besonders deutlich tritt das
Bestreben, in solchem Sinne zu steigern, etwa in dem Trauerspiel
Jokaste v. J. 1550 (KG. 8, S. 29 ff.) hervor. Als die Heldin erfährt, daß ihr
Gatte Layos gefallen ist und daß sie den Oedipus zum Manne nehmen
248 Bewegungen der Arme und Hände,
soll, da heißt es von ihr: sie wint ir hend^ ebenso auch, als dann
später Merkur kommt und ihr kündet, daß Oedipus ihr Sohn sei;
als der König darauf selbst erscheint und die Entdeckung des Klein-
ods, das er am Halse trägt, die Richtigkeit der Angabe Merkurs
bestätigt, da wird die Bewegung stärker: sie schlecht ir hend zamen
und schlecht an ir brüst (es kommt also noch eine Klagebewegung
dazu, von der gleich die Rede sein wird) ; Oedipus aber, auf den nun
mit einem Mal das ganze Entsetzen hereinbricht, schlecht seine hend
ob dem kopjf zusamen, und als er sich dann die Augen ausgestochen
und das Land verlassen hat, da geht nun auch Jokaste zu dieser
heftigsten Bewegung über und schlecht ir hend ob dem haupt zu-
samen. In der Handschrift des Dichters allerdings fehlen die Worte
ob dem haupt — gewiß soll hiermit der nun gemäßigteren Geste
des bloßen Händezusammenlegens schon wieder ein gewisser Rück-
gang der .Entsetzensstimmung angedeutet werden, da der dann
folgende Monolog wieder mehr in die ruhige Klage übergeht, mit
dem Entschluß zur Übernahme der Regierung endet und durch die
szenische Bemerkung beschlossen wird : Jocasta geht trawrig ab ;
eine ähnliche Abdämpfung der Heftigkeit findet sich auch sonst.
Alle andern Bewegungen der Hände und der Arme haben
neben den eben charakterisierten wieder nur sekundäre Bedeutung;
nicht selten erwähnt wird allerdings noch, daß der dauernd Be-
kümmerte sein Haupt in der Hand hält : eine Pose, die wohl, auch
wo sie nicht besonders angeführt wird, stets mit dem öfter er-
wähnten sitzt trawrig verbunden ist. Das Kleiderzerreißen, das
Angesichtverhüllen, das eben schon einmal erwähnte Schlagen der
Brust — alle diese Gesten Zeichen der großen Trauer, das Brust-
schlagen auch Ausdruck der Reue, der Ergebung — kommen im
ganzen nicht eben häufig und zwar wesentlich nur in den biblischen
Dramen vor im Anschluß an den heiligen Text oder doch unter Be-
nutzung dieser von der Bibel überlieferten Trauerzeichen für andere
Klagesituationen des biblischen Stoffkreises. Nehmen wir dazu
noch das Fingerrecken beim Gelöbnis, das Sichgesegnen, das be-
sonders bei großer Enttäuschung und bei Staunen und Angst, nament-
lich gelegentlich wirklicher oder vermeintlicher Geistererscheinungen
hie und da angewendet wird, und das nicht seltene Handgeben,
das aber nie an die Stelle des gewöhnlichen Grußes, des Neigens
tritt, sondern stets einen eigenen Gefühlsanteil an der Begrüßung
oder am Abschied, ihre besondere Bedeutung bekundet, außerdem
Glückwunsch, Anteilnahme, Beileid, großen Dank bedeutet und beim
Gelöbnis, bei Verabredungen und Bundesschlüssen zur Anwendung
kommt — dann sind wir auch schon am Ende, dann ist der enge
Kreis der einigermaßen stereotypen Gesten der Hans Sachsbühne
durchaus geschlossen. Ein paar andersartige Bewegungen, die noch
vorkommen, bleiben völlig isoliert; als das einzige mehrfach er-
Venvandtscluift mit der Gestik des mittelalterlichen Theaters. 249
scheinende Herausfallen aus der feierlichen, dem Alltag abgewandten
Art dieser Kunst mag hervorgehoben werden, daß dreimal (KG. 1,
S. 1481); 10, S. 46; 15, S. 116) Verlegenheit und Ärger dadurch be-
zeichnet wird, daß der Betreffende sich im kopff kratzt.
Wie verhält sich diese Gebärdensprache der Hans Sachsbühne
nun zu der des mittelalterlichen Theaters? Wir erinnern uns zu-
nächst jener eigentümlichen Festigkeit, mit der das alte Passions-
spiel eine Anzahl charakteristischer Mienen und Gesten der bi-
bhschen Vorlage in prägnanten Situationen der Peripetie in Christi
Leben immer wieder heraushob. Sind diese „stabilen Gesten" auch bei
Hans Sachs zu finden ? Diese Frage ist mit Ja zu beantworten, sobald
wir zur Entscheidung sein eigenes Passionsspiel vom Jahre 1558
(KG. 11, S. 256 ff.) heranziehen. Christi Niederknien im Ölberggebet,
das Zurückfallen der Juden, der Judaskuß, des Hohepriesters Kleider-
zerreißen, Christi Umblicken nach Petrus, der ihn verleugnet, und
des Jüngers reuige Tränen sind hier wie im mittelalterlichen Passions-
spiele als die entscheidenden Gesten in der Peripetie des Heilands-
schicksals deutlich herausgearbeitet. Ebenso deutlich aber ist es,
daß das nur die Konsequenz der Abstammung auch des Hans
Sachsischen Passionsdramas vom mittelalterlichen Passionsspiel ist,
die auch in manchen andern Zügen entschieden hervortritt; es ist
nicht etwa allgemeines Kunstprinzip Hans Sachsens geworden, den
Höhepunkt eines Dramas durch eine Geste oder eine Gestenfolge
zu charakterisieren, wenn schon derartiges gelegenthch vorkommen
kann, wie in der Kindheit Mosis, 1553 (KG. 10, S. 92), wo die szenische
Bemerkung in bezug auf den kleinen Moses vorschreibt: Mose reist
die krön vom kopff herab, tritt mit fassen clrauff. Ein Prinzip kann
Hans Sachs schon darum nicht daraus machen, weil ihm nicht ge-
nügend individualisierende Bewegungen zur Verfügung stehen.
Eine gewisse Verwandtschaft aber der meistersingerischen
Schauspielkunst mit der mittelalterlichen ist auch sonst nicht zu
verkennen. Zunächst mag das fast völhge Ausfallen der Gesichts-
mimik auf einen, wenig sinnvollen, Anschluß an das alte Dar-
stellungsideal hinweisen; wenig sinnvoll: denn was auf der Markt-
platzbühne des Mittelalters tatsächhch zwecklos gewesen wäre,
würde im engen Raum der Marthakirche den nahe sitzenden Zu-
schauern gewiß etwas geboten haben. Hier wie dort ferner eine
entschiedene Sparsamkeit der Bewegungen im ganzen, wenngleich
von der auffallenden Dürftigkeit der alten Kunst nicht mehr die
Rede ist; hier wie dort das Prinzip der Stilisierung der Bewegungen
unter fast völligem Ausschluß aller Individualisierung — nur frei-
1) Tobias v. J. 1530, aber späterer Überarbeitung der szenischen Bemerkungen stark
verdächtig.
250 Unterschiede von der Gestik des mittelalterlichen Theaters.
lieh, daß die Art der Stilisierung eine im wesentlichen ganz andere
geworden ist. Erkennbar, wenigstens noch in Rudimenten, ist aber
noch jenes zweite Hauptprinzip der alten Spielkunst, das wir als
das Prinzip der „labilen Gesten" bezeichnet hatten: jene Neigung der
älteren Bühne, eine Anzahl von Gestus- und Tonangaben der er-
zählenden Quelle nicht nur an die Stellen zu übernehmen, an denen
sie sich dort finden, sondern mit eben diesem Kapital auch sonst
zu arbeiten, findet sich auch bei Hans Sachs. Sie findet sich aber
bezeichnenderweise — und eben darum haben wir das Recht, hier
von einem direkten Zusammenhang mit dem früheren Theater bei
ihm zu reden — nicht in seinen weltlichen, sondern nur in seinen
biblischen Dramen: einige charakteristische Bewegungen der heiligen
Quelle, das Aufsangesichtfallen, das Kleidzerreißen, das Andibrust-
schlagen kommen nicht nur an den Stellen, an denen die Bibel es
anführt, sondern auch sonst in den geistlichen Dramen Hans
Sachsens vor, von wo sie sich dann ganz ausnahmsweise wohl auch
einmal in ein weltliches Stück verirren. Den nicht biblischen
Quellen gegenüber scheint dagegen ein entsprechendes Verfahren
nicht vorzuliegen.
An der Möglichkeit, Hans Sachsens Schauspielkunst noch
an die mittelalterliche Tradition anzuknüpfen, fehlt es somit nicht.
Anderseits aber treten uns die Unterschiede mit entscheidender
Deutlichkeit entgegen. Jener kanonisch-hturgische Grundcharakter
der alten Kunst ist fast verloren gegangen — begreiflich : wir stehen
in der Reformationszeit; ein Neues ist an seine Stelle getreten.
Woher stammt es? Wir sahen um die Wende des 15. Jahrliunderts
zum 16. im Donaueschinger Passionsspiel den Versuch, neben dem
starren alten Stil, der sich ohne Zweifel im katholischen Deutsch-
land auch während des 16. Jahrhunderts noch erhalten hat, eine
vielfach neue Art der Darstellung auf dem geistlichen Stadttheater
einzuführen. Knüpft die Nürnberger Kunst an den hier wenigstens
symptomatisch erhaltenen Wandel an ? Unbedingt spüren wir aller-
dings eine gewisse Verwandtschaft der beiden Stile: die Zunahme
der Zahl der Gesten, die gesteigerte Lebhaftigkeit, das pathetische
Element, die stärkere Freiheit gegenüber jenem Kirchlichen sind
schon in jenem Passionspiel zu finden. Aber um eine geradlinige
Fortentwickelung vom ältesten Stil über die Art des Donaueschinger
Spiels zur Nürnberger Bühne kann es sich doch nicht handeln.
Von einer gewissen zuckenden Unruhe des Donaueschinger Spiels
ist auf Hans Sachsens Bühne kaum etwas zu spüren, der Naturalis-
mus spielt bei ihm eine wesentlich geringere Rolle; anderseits
treten die bei Hans Sachs entscheidenden Bewegungen in jenem
Passionsspiel noch sehr zurück. Woher also der neue Charakter
der Nürnberger Kunst? Handelt es sich vielleicht um eine HerübiM--
nahme des Gestenapparates, mit dem Hans Sachs als Dichter außer-
Die Gestik in Hans Sachsens erzählender Dichtung. 251
halb der dramatischen Poesie arbeitet, in seine theatraUsche Sphäre?
So wird es nötig sein, den BUck auf die Ausdrucksbewegungen in
Hans Sachsens epischer Dichtung zu richten.
Und indem wir dies unternehmen i), belohnt es sich nochmals,
daß wir früher in anderm Zusammenhange (S. 178 ff.) die Art und die
Entwicklung der Gestik, der Mimik und des stimmlichen Vortrags in
der erzählenden Dichtung des deutschen Mittelalters zu erfassen
versucht haben : denn Hans Sachs ist als Epiker ein Ausläufer der
dort festgestellten Tradition. Wie die bürgerlichen Dichter des 15.
Jahrhunderts arbeitet er in der Hauptsache mit einer beschränkten
Zahl von Ausdrucksmitteln aus dem Schatz der ritterlichen und
spielmännnischen Epik, ohne daß dabei noch ein Zusammenhang
mit dem alten inneren Leben dieser Gebärdensprache bestände;
daneben, aber ganz in zweiter Reihe zeigen sich auch einige Züge
neuer Beobachtung des wirklich geschauten Gegenwartslebens.
Ein paar ganz fremde Elemente kommen wohl auch gelegentlich
zum Vorschein — kein Wunder: Hans Sachs beutet für Historien
und Schwanke die ganze Weltliteratur aus, und die Versifikation geht
oft so schnell vor sich, daß manchmal auch Gebärden einer andern
Welt: antike, italienische mit herübergenommen werden. Doch
bleibt das Ausnahme: abgesehen von den biblischen Erzählungen,
in denen ein Rest jener mittelalterlichen Pietät auch die Gebärde
konservativer behandeln ließ, wird im allgemeinen die Gestik der
Vorlage gemäß der deutschen Tradition verändert, getilgt, auch
wohl ergänzt ; letzteres freilich nicht allzu häufig, denn von einem
besonders großen Interesse an der epischen Gestik ist bei Hans
Sachs, zumal in den großzügigen Historien, nicht die Rede.
So ist denn, wenn wir zunächst einmal die eigentlich tradi-
tionellen Elemente verfolgen, auf dem akustischen Gebiet, abgesehen
von dem Lachen und Weinen, das doch mitunter visuell gemeint
ist (so beim Freundlich-Anlachen und wenn die roten Augen, die
fallenden Tränen erwähnt werden) und von den schon einmal (S.169ff.)
herangezogenen Stimmnuancierungen wesentlich nur das hier wie
in der Epik des Mittelalters nicht seltene Seufzen zu bemerken;
ferner das Schreien in Jammer und Schreck; daneben allenfalls
noch das Schluchzen, das aber hier wie in der alten Dichtung nicht
eben häufig begegnet. Im Mimischen spielt der Farbenwechsel die
alte Rolle : man wird bleich in Furcht, Zorn oder Trauer, umgekehrt
rot in Zorn oder Scham, auch wohl vor Furcht oder als Zeichen
der Liebe; vielfältig ist der Bück: man sieht heblich, freundlich,
inniglich, sehnend, lechzend, strenge, zornig, tückisch, so wie es
die Helden der alten Epen auch tun, und besonders häufig
1) Hineingezogen ist mit Rücksicht auf die oben S. 38 gebotene Begründung auch
das im dramatischen Dialog enthaltene Material.
252 Diß Gestik in Hans Sachsens erzählender Dichtung.
„sauer", was im Mittelalter auf die spielmännische Dichtung be-
schränkt ist, man schlägt die Augen nieder, man richtet sie gen
Himmel, man wendet sie ab im Zorn und weiß vor Scham
nicht, wohin man sehen soll. Endhch stehen in Übereinstimmung
mit der Epik des späteren Mittelalters dem Entsetzten die Haare zu
Berge; man bleckt beim Lachen die Zähne und knarzt und gries-
gramt mit ihnen beim Gefühl des Neides wie in der mittelalter-
lichen Heldendichtung.
Unter den Bewegungen der Arme und Hände steht das Hände-
winden und Haarraufen, meist zu einer formelhaften Wendung zu-
sammengekoppelt, so obenan, daß sie in der Hans Sachsischen
Erzählung als der typische Ausdruck des großen Jammers, der
Verzweiflung gelten können ; in der ruhigeren Trauer legt man, und
zwar entschieden häufiger als in der mittelalterlichen Epik, die
Wange in die eine Hand; in der Angst und im Schreck segnet man
sich. Seltener ist das Zerreißen der Kleider, das schmerzliche
Schlagen des Hauptes und der Brust, das Aufrecken der Finger
beim Schwur. Ganz gelegentlich kommen schließlich auch noch
andere Arm- und Handbewegungen der mittelalterlichen Erzählung
vor: das Zusammenlegen der Hände bei der Bitte, das Zusammen-
schlagen der Hände im Schreck, im Zorn oder auch in der Freude;
wenn einmal ein Wütender den Kopf mit beiden Händen kratzt,
so ist auch das bei Wolfram schon zu finden.
Endlich Bewegungen des ganzen Körpers. Man umarmt sich
und küßt sich, man bückt sich in Ehrerbietung, man fällt, wenn
auch nicht so häufig, auf die Knie: wenn man Gott verehren, ihm
danken, wenn man von Menschen etwas inständigst erbitten will.
Alles andere ist selten: das Auffahren vor Schreck, das Springen
vor Freude; etwas häufiger kommt es nur vor, daß jemand im
Jammer auf die Erde fällt, daß dem Ängstlichen der Schweiß aus-
bricht, und ganz typisch ist es endlich, daß man in der Angst
zittert.
Gegenüber der steten Anwendung der wenigen Stücke dieses
kleinen, ererbten Schatzes tritt, wie erwähnt, das Neue, Bürgerhche
stark zurück; von dem bösen Blick des alten Wittenweiler ist bei
Hans Sachs doch nichts zu splu-en, und vor allem : von diesem Neuen
ist fast nichts so typisch verwendet wie jene Reste mittelalterlicher
Tradition. Einiges ist wohl auch schon aus der Überlieferung des
15. Jahrhunderts genommen, anderes individuell beobachtet oder
doch sprachlich individuell nuanciert — hier, wo Andeutungen ge-
nügen müssen, soll kein Versuch gemacht werden, diese Kategorien
im einzelnen zu scheiden. Die stärkste Freude an der Neugestaltung
zeigt sich auf phonetischem Gebiet: da ist das hart anschnauffen
im Zorn nicht selten und ist ebenso wie das schnupfen vnd plasen
der Klage, das murren vnd marren des Unmuts modernen Gepräges;
Epische u. theatralische Gestik h. Hans Sachs. Gebärdensprache d. Fastnachtsplels. 253
aber auch das alte Seufzen erhält neue bürgerliche Wendung als
swfzzen, achizen, kreißen und gemern, als seufzen und schmatzen,
und für das bloße Weinen wird etwa rullen, weinen und schupffen
gesetzt. In der Mimik ist es wohl neu, daß man in der Wut die
Zähne zusammenbeißt oder ausspeit, daß man im Lachen den Mund
aufreißt; das bürgerliche Rümpfen der Nase fehlt nicht, und es
kommt vor, daß ein Klagender nicht Tränen vergießt, sondern rocz
vnd Wasser weint. Die Hände bekommen neu zu tun: das Kratzen
des Kopfes in Verlegenheit, Angst und Scham, das auch in der
bürgerlichen Kunst des vorangehenden Jahrhunderts noch selten
vorzukommen scheint, wird in Hans Sachsens Epik sogar verhältnis-
mäßig häufig angewendet; das meiste Andere tritt ganz gelegent-
lich auf, beweist aber um so mehr wirklich beobachtenden Blick:
man klopft dem andern vertraulich die Achsel, drückt ihm innig
die Hand; man droht mit dem Finger; man wischt sich schaden-
froh das Maul, man zeigt den Esel oder die Feige; man reibt die
Augen vor Scham; der Zornige dreht den Bart oder legt auch den
Kopf in beide Hände. Endhch der ganze Körper: wie schon in der
bürgerlichen Kunst des ausgehenden Mittelalters kehrt man wohl
dem Verachteten das Hinterteil, den ars zu; neu aber scheint es,
daß ein Zorniger hin- und herläuft, daß einer in Angst und Schreck
sich dreimal umdreht; besonders originell gesehen ist es, daß
ein jäh Erschreckender wie ein Sackpfeifer steht, das heißt also:
die beiden Hände sind mit gekrümmten Fingern übereinander vor
der Brust erhoben. An Bildern, die ein gelegentliches mimisches
Interesse des Dichters verraten, fehlt es auch sonst nicht ganz, und
eigenartigerweise sind sie mit Vorliebe dem Tierleben entnommen :
jemand sieht auf ein Weib, das er begehrt, gleich wie ein geyer
auff ein aß, die Blicke eines andern Verliebten erinnern an ein dod
saw auf eim misthawffen, der Lachende reißt das Maul spannen-
weit auf wie ein ackergawl, und ein Verdrossener sieht sauer wie
ein dawße maus.
Es bestätigt sich hier also, was wir früher (S. 138) ganz all-
gemein ausgesprochen hatten, nun im einzelnen: die epische und
die theatralische Gestik Hans Sachsens sind im ganzen getrennte
Welten. Wenigstens was die Darstellung des großen Dramas be-
trifft, die ja hier hinsichtlich der Ausdrucksbewegungen bisher
allein behandelt worden ist. Viel näher steht der epischen Gestik
das theatrahsche Grundelement des Fastnachtspiels; richtiger ge-
sagt: nicht der gesamten epischen Gestik des Dichters, sondern
jenen neubürgerlichen Elementen, die sie enthält. Dieses Grund-
element der Fastnachtspielgestik ist im Gegensatz zu der stilisierten
Art des großen Theaters der Naturalismus. Wir haben diesen
Gegensatz im allgemeinen schon hervorgehoben (S. 137 ff.), wir
haben ihn gelegenthch der Gestaltung des körperlichen Erlebens
254 Gebärdensprache des Fastnachtspiels. Epos und Theater.
(S. 152 ff.), der Verwendung der Stimme (S. 171) bemerkt und hätten
ihn in bezug auf die Vorführung der eigenthchen Aktion noch stärker
betonen können, als es vorher (S. 184) geschehen ist: dieses Ohrfeigen,
dieses Fäusten der Hand, dieses Stoßen, dieses Laufen und Schleichen,
dieses Maulwischen nach der Mahlzeit usw. wäre im großen Drama
unmöglich. Jetzt aber finden wir den nämlichen Gegensatz auch
in bezug auf die visuellen Ausdrucksmittel der Seelenbewegung
wieder. Der schärferen Beobachtung der Wirklichkeit entspricht
eine stärkere Verwendung der Gesichtsmimik in den theatralischen
Anweisungen des Fastnachtspiels: der Unlustige blickt schiechlich,
der sich Ekelnde sieht sawr; die Wütende krumbts maul, der
Höhnende lacht lawt mit aufgespertem maul; voll Abscheu speit
jemand aus. Auch die Hände werden anders beschäftigt als auf
dem stihsierenden Theater: das Kopf kratzen ist hier gang und
gäbe, spottend zeigt man Esel oder Feige, vertraulich klopft man
jemand auf die Schulter, bescheiden bittend zupft man einen andern
am Rock, wütend schlägt man die Tür zu. Zum Teil also Mienen
und Gesten, die wir direkt unter jenen nicht altüberkommenen
Ausdrucksformen der Hans Sachsischen Epik getroffen haben, im
übrigen solche, die dort zu treffen uns nicht Wunder nehmen
würde. Trotzdem aber wird man nicht sagen dürfen, daß Hans
Sachs solche Anweisungen aus seiner Epik in seine Theatralik
übernommen habe, obschon die im Gegensatz zu den stereotypen
Wendungen des großen Theaters zuweilen frisch volkstümliche
Ausdrucksweise in den szenischen Bemerkungen des Fastnacht-
spiels (vgl. oben S. 138) einigermaßen an jene lebendigere Formu-
herung erinnert, die wir hie und da auch in der Epik fanden: in
der Hauptsache wird es sich um Wirkhchkeit handeln, die in die
erzählende Dichtung und in die theatrahsche Darstellung des Fast-
nachtspiels hineingelassen wurde. Auf dem Umwege über das
Fastnachtspiel aber kommt der Naturalismus auch ausnahmsweise
einmal in das stilisierende Drama hinein: so wie umgekehrt von
den eigentlich dem großen Spiel zukommenden Gesten, zumal
denen der Arme und Hände, manches auf die Fastnachtspielbühne
übernommen ist, so sind etwa das gelegentliche Kopfkratzen oder
Ausspeien, das für Personen der großen Dramen vorgeschrieben
ist, als fastnachtspielmäßig-naturalistische Entgleisungen anzu-
sprechen, nicht aber als Anleihen beim Gestenstil des Epos.
An eine völlig reinliche Scheidung zwischen dem Epos und
dem Theater dürfen wir hier natürlich nicht denken. Hans Sachs
schreibt szenische Bemerkungen und epische Angaben über Aus-
drucksbewegung — offenbar der erste deutsche Schriftsteller, bei
dem das der Fall ist — , und da ist es begreiflich, daß ganz gelegent-
lich einmal etwas aus dem einen sich ins andere Revier verirrt.
Daß das Stützen des Kopfes auf die Hand als Klagegebärde in der
Epos und Tlieater. Das Zusammenschlagen der Hände über dem Kopf. 255
Hans Sachsischen Erzählung so viel häufiger ist, als es sich bei
der geringen Rolle, die diese Geste in der epischen Tradition spielt,
eigentlich erwarten läßt, ist gewiß auch auf die große Bedeutung
zurückzuführen, die sie auf Hans Sachsens Theater hat. Eine
andere Geste, die wenigstens hin und wieder in Hans Sachsens
Erzählung erscheint, ist bei der Behandlung seiner epischen Gebärden-
sprache noch nicht erwähnt worden : das Aufrecken der Arme bei
der Bitte. Weder stammt sie aus der epischen Überlieferung des
Mittelalters, noch ist es wahrscheinlich, daß sie der wirklichen
bürgerlichen Welt entnommen ist. Ein paarmal läßt ihr Ursprung
sich nachweisen : Hans Sachs hat sie aus seinen antiken Vorlagen
einfach übernommen; in einigen andern Fällen aber ist sie erst
durch ihn eingeführt, und da sie ihm durch jene gelegentliche
Begegnung in der Antike unmöglich eine feste Formel werden
konnte, bleibt nur übrig anzunehmen, daß hier die Hans Sachs so
sehr geläufige theatralische Verw^ertung der Geste dem Dichter den
Rückhalt für eine gelegentliche epische Verwendung geboten hat;
das umgekehrte Verhältnis ist bei der Seltenheit der epischen und
der Häufigkeit der theatralischen Gebärde undenkbar. Und so
würde das Ergebnis dieser Betrachtung insofern rein negativ sein,
als wir sagen müßten, daß Hans Sachs aus seiner Epik nichts
Wesentliches für die Schauspielkunst genommen haben kann, wenn
nicht eine besonders eigenartige Gebärde noch zu behandeln wäre.
Wir erinnern uns des Höhepunktes jener Reihe von Klagegebärden
des Hans Sachsischen Theaters: der Verzweifelnde schlägt die
Hände über dem Kopf zusammen. Diese eigentümhche, in der
vorangehenden deutschen Erzählung nirgends nachzuweisende Geste
kommt auch in Hans Sachsens Epik wiederholt vor, und in diesem
Falle ist es unmöglich, das Theatralische für das Ursprünghche
und das Epische für das Abgeleitete anzusehen: denn Hans Sachsens
Erzählung verwendet diese Gebärde bereits zu einer Zeit, in der
das Abfassen von Dramen ihm noch fern lag, und ohne daß er
einfach die Angabe seiner Quelle herübergenommen hätte. In dem
Meistergesang von Andreola und Gabriolo, den Hans Sachs im
Jahre 1516 nach Boccaccio gedichtet hat, heißt es (FSchw. 3,
S. 33, ZI. 107) von der Heldin, die ihren Gehebten plötzhch sterben
sieht: Ir hent vor leit ob dem haüpt sie zam schlüge. Woher
stammt denn diese große Geste ? Ist es eine realistische Geste des
neuen bürgerlichen Lebens, eine von den wenigen, denen die spät-
mittelalterliche Dichtung Eingang in die Gebärdentradition der
Ritterdichtung gewährt hat, und ist sie in solchem Sinne auch bei
Hans Sachs und in seiner Zeit lebendig? Das Gegenteil läßt sich
beweisen. In einer Abhandlung, die uns weiterhin noch Dienste
leisten wird, in der Schrift De promintiatione rheiorica, die der
Frankfurter Professor Jodocus Willich im Jahre 1540 hat drucken
256 Epos und Theater. Die Schauspielkunst des Schultheaters.
lassen, findet sich auch ein Abschnitt De aetate gestuum und hier
heißt es u. a.: Olim ad extremum moesti manus supra caput colli-
debant. Auch diese Stelle gibt freilich keinen eigenthchen Anhalt
für die Beantwortung der Frage, wo diese nun ausgestorbene Geste
denn einstmals in Gebrauch gewesen sei. Auch der Verfasser der
Ars dicendi sive perorandi, die 1484 in Cöln erschienen ist und ihre
Erörterungen im wesentlichen an die damals für ein Werk Ciceros
geltende Herenniusrhetorik anknüpft, scheint diese Geste im Auge
zu haben, wenn er neben andern für den Vortragenden verpönten
Klagegebärden auch das tendere manus iiinctas ad celiim nennt.
Ob es sich um volkstümliche Rednergebärden handelt, die die beiden
humanistischen Rhetoriker für unschicklich oder für veraltet er-
klären, die aber Hans Sachs sowohl episch wie theatralisch ver-
wertet hätte? Sicheres wird darüber kaum zu ermitteln sein und
ebensowenig wird sich bestimmt entscheiden lassen, ob Hans Sachs
diese Gebärde auf dem Umwege über das Epische auf sein Theater
übernommen hat oder ob es sich um doppelte Verwendung ohne
Abhängigkeitsverhältnis handelt; der Umstand, daß das Auftreten
der Geste in der Erzählung nicht eben häufig ist und daß sie dort
nichts von der Prägnanz ihrer theatralischen Ausbeutung hat,
macht es nicht eben wahrscheinlich, daß das Epische hier einmal
mit suggestiver Kraft auf das Theater gewirkt habe. Aber selbst
wenn es der Fall sein würde, könnte es sich nur um eine doch
nicht belangreiche Ausnahme von dem Grundtatbestand handeln, daß
die epische Gestik Hans Sachsens nicht die Grundlage für die
Ausdrucksbewegungen seines Theaters hergegeben hat.
Aber wo haben wir sonst den neuen Urgrund der Nürnberger
Schauspielkunst des großen Dramas zu suchen? Wenn es sich
wirklich um eine Nachbildung und nicht um eine selbständige Neu-
bildung handelt, so bliebe eigenthch nur eine Möglichkeit: Hans
Sachs könnte versucht haben, die Schauspielkunst der gelehrten
Aufführungen nachzubilden. Daß das Schultheater Leonhard Cul-
mans für seine Entwicklung von Bedeutung gewesen ist, wurde
schon in ganz anderm Zusammenhang (S. 15) hervorgehoben ;
ohne jeden Zweifel aber haben auch in Nürnberg wie anderwärts
schon vorher lateinische Aufführungen der römischen Komiker
stattgefunden, und es ist sehr wohl möglich, daß Bürgersleute wie
Hans Sachs sich Zutritt zu ihnen verschaffen konnten. So erhebt
sich die Frage, in welcher Weise ist hier gespielt worden?
Die Schauspielkunst des Schultheaters.
Fast scheint es zunächst, als sei das Problem, die Schauspiel-
kunst des Schultheaters näher zu bestimmen, ziemlich unlösbar.
Denn hier fehlt das Grundmaterial, durch dessen kritische Behand-
lung wir an den übrigen Stellen unserer Untersuchungen zu be-
Unmöglichkeit einer Wieiierl)elebunK der römischen Schauspielkunst. 257
stimmten Ermittlungen gekommen sind, vollständig: die szenischen
Bemerkungen in den Dramentexten, deren Verfasser in naher Be-
ziehung zu den Aufführungen gestanden haben. Die gelehrten
Autoren der lateinischen Dramen und später auch der im Anschluß
an sie entstandenen deutschen legen bei ihrer Arbeit in erster
Reihe Wert darauf, Gebilde zu liefern, die mindestens in bezug auf
die äußere Anlage den klassischen Werken der Römer, den Komödien
des Plautus und des Terenz, so ähnlich wie möglich sehen, und da
die lateinischen Dramatiker szenische Bemerkungen nicht bieten, so
begnügen sich auch ihre Nachahmer im 16. Jahrhundert damit, die
Namen der redenden Personen anzugeben.
Versuchen wir demgemäß zunächst rein hypothetisch den wahr-
scheinlichen Tatbestand zu ermitteln, so ist im Voraus eines
klar: das Ziel, dem das Zeitalter der Wiederbelebung des klassischen
Altertums hier am ehesten hätte zustreben mögen, die Wieder-
belebung der römischen Schauspielkunst, w^äre selbst für die Ge-
lehrtesten der Renaissanceperiode nicht zu erreichen gewesen.
Beginnt doch unsere eigene Zeit eben erst in mühsamer Einzel-
arbeit dem Problem einer theoretischen Rekonstruktion dieser Kunst
näher zu treten i), indem man die nicht eben zahlreichen Stellen,
an denen der plautinische Dialog Stimme oder Ausdrucksbewegungen
erwähnt, mit den verstreuten Notizen in dem unter Donats Namen
gehenden Kommentar und den gelegentlichen Angaben in Ciceros
und Quintilians rhetorischen Schriften in Zusammenhang bringt.
Auf die Donatstellen mußte allerdings die starke Berücksichtigung,
die dieser Kommentar bei den Humanisten fand, frühzeitig die
Aufmerksamkeit lenken, und in den deutschen Anmerkungen
zu den Terenzübersetzungen: dem Nithartschen Eunuchus vom
Jahre 1486 und dem Straßburger Gesamtwerk vom Jahre 1499 sind
solche Vortragsbearbeitung auch zum großen Teil mehr oder w^eniger
w^örtlich wiedergegeben-), ja es kommt sogar gelegentlich (so zu Eun.
317) ein auf den Vortrag bezüglicher selbständiger Zusatz vor.
Keinesfalls aber entspringen solche Bemerkungen der gelehrten
Übersetzer der festen Vorstellung einer auf Donats Angaben ge-
gründeten antikisierenden Schauspielkunst: dazu sind die Angaben
doch gar zu verstreut und auch meist gar zu allgemein, so daß
mehr der psychische Inhalt der für den Vortrag notwendigen Stimm-
nuance, Miene und, viel seltener, Gebärde als der äußere Ausdruck
gekennzeichnet erscheint; und vor allem: die eigentümliche, durch
die berühmte Mißdeutung des Ego Calliopius recensiii verschuldete
Vorstellung, daß es sich bei diesen terenzischen Dramen nicht so-
1) B. W am ecke, Gebärdenspiel und Mimik der römischen Schauspieler: Neue
Jahrbl. f. d. klass. Altert. 25 (1910), S. 580—94.
2) Einige Beispiele bei J. B. Hartmann, Die Terenzübersetzung des Valentin Boltz
und ihre Beziehungen zu den älteren Terenzübersetzungen. Münch. Diss. 1911, S. 6.
He rrmann, Theater. 1^
258 Schauspielkunst und Rhetorik.
wohl um theatralische Aufführung wie um Vorlesung durch einen
Rezitator handele i), nahm noch eine ganze Anzahl dieser verstreuten
Bemerkungen aus der eigentlichen Sphäre der Schauspielkunst
heraus und stempelte sie zu sonst nicht erhörten Vorschriften für
eine mimische Vorstellungskunst, die durch einen einzelnen Künstler
geübt wird.
Und wenn sich somit herausgestellt hat, daß es nicht in der
Macht der gelehrten Regisseure gelegen hätte, die antike Schau-
spielkunst neu zu beleben, so mag man zum Überfluß noch hervor-
heben: eine solche Wiederbelebung konnte auch gar nicht so ihr
Ideal sein, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Der
Zweck der Schulaufführungen, die ihren Ausgangspunkt in Dar-
stellungen der antiken Komödien haben, ist nicht etwa der, daß
man die Theaterkunst fördern und junge Schauspieler heranbilden
will, man spielt vielmehr, wie z. B. Jörg Binder im Vorwort zu
seinem „Acolastus" hervorhebt, Theater, damit „die Jugend fleißig im
Reden geübt, auch das Gedächtnis gestärkt und etliche gute Sprüche
behalten würden" 2); es handelt sich also um eine Unterstützung
des Unterrichts in der Rhetorik, in der ja auch die Lehre vom Ge-
dächtnis eine wichtige Rolle spielt. Sobald man dieses Ideal für
den dramatischen Vortrag der Schüler aber einmal aufgestellt hatte,
mußte man sich jedem Bestreben, eine eigentlich schauspielerische
Vorstellung zu bieten, gerade vom Standpunkt der humanistischen
Pädagogik aus mit Entschiedenheit entgegenstellen: denn die großen
antiken Theoretiker der Rhetorik: der Autor der Herenniusrhetorik,
Cicero und Quintilian, betonen, obschon sie eine gewisse Verwandt-
schaft der Redekunst und der Schauspielkunst anerkennen, doch
viel deutlicher die Notwendigkeit einer Unterscheidung der beiden
Vortragsarten und verwerfen manchen gestiis deswegen, weil er
scaeniciis sei; von den auf ihre Lehre sich stützenden Rhetorikern
der Renaissancezeit wird solche Meinung gern aufgenommen, und so
konnte es für die Theaterpraktiker des Schuldramas kein Interesse
haben, nach einer Wiederbelebung der eigentlichen Schauspielkunst
des Altertums zu streben. Wohl aber mußte umgekehrt jene ständige
Erklärung der Theoretiker der Rhetorik, daß Redekunst und Schau-
spielkunst auch allerlei Zusammenhänge hätten, zu der Überzeugung
führen, daß man auch dem theoretisch Wirksamen besondere nahe
käme, wenn man die an der Aufführung des Dramas beteiligten
Schüler ihre Rollen nach den von der Rhetorik gebotenen Regeln
1) Diese Vorstellung wurde vielleicht auch durch die irrtümliche AuIIassung des
Wortes lectio Adelphi 321 unterstützt. Vgl. ferner die Erörterungen über das Titelbild
der Senecaillustration und der Pariser Terenze des 15. Jh. unten S. 280, 282 f., 284, 28(i f.
2) Vgl. P. Expeditus Schmidt, Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramas
im 16. Jahrh. (Berlin 1903) S. 20 f., wo der pädagogische Shin der Auffülirungen noch ge-
nauer behandelt ist.
I'ronunciatio und actio. ' 259
der Vortragskunst durchführen Keße ; ihre Gewalt könne man, wie
der schon genannte Jodocus WiUich hervorhebt, nicht nur in templis
aiii in sacris concionibus erproben, sondern auch in theatro auf in
theatralihus ludis. Und so liegt die Vermutung nahe, daß wir uns
von der theatralischen Vortragsart der Schulbühne ein deutliches
Bild machen können, wenn wir uns an jene von den Rhetorikern
gegeben Vortragsregeln halten.
Immerhin : das ist nur Vermutung; sie läßt sich aber zur ur-
kundlich gestützten Gewißheit erheben. Im Jahre 1594 wurde für
das reichsstädtische Gymnasium in Speyer eine in vieler Hinsicht
bedeutsame Schulordnung erlassen, die vermutlich den Rektor David
Weltz zum Verfasser hat^). Hier heißt es in den Bestimmungen für die
erste Klasse, da wo von der Behandlung der antiken Komiker und dann
namentüch des ihnen fast ebenbürtig erscheinende N.Frischlin die Rede
ist 2) : . . . Diesen Authorem sollen die knaben auswendig lernen, vnnd
sunderliche Mores, vnnd hoff lichkeit daraus zufassen, wie auch sich
Jn pronuntiatione vnnd geberden zu üben, jn massen es die
ratio einer Jeden person erfordert, und die Rhetores, de Actione
jn jren praeceptis viel Iheren, vffs fleissig st jnformiret vnd ab-
gerichtet werden. Und im Zusammenhange damit gewinnt nun auch
eine Stelle der Breslauer Schulordnung vom Jahre 1570 entscheidende
Bedeutung, an der es heißt 3) : Wir sehen auch vor gut an, das die
Knaben dieses ordinis den Tereniium als ihren für nomen vnd gantz
eigenen Authorem außwendig lernen, also daß man die Personas der
Jugend deren Comödien so sie zum ende gehöret haben, außteile vnd
sie wöchentlich nach Tische eine stunde oder zwo recitiren lasse
vnd sie also in der Pronunciation vnd Adlon vbe. Pro-
nunciatio und actio hier wie dort; das aber sind nicht irgendwelche
Ausdrücke, die die dramatische Aufführung direkt bezeichnen, son-
dern es sind die stehenden Ausdrücke der antiken und antikisieren-
den Lehrbücher der Rhetorik für den rednerischen Vortrag.
Und man soll nicht sagen, daß es sich hier um eine Neuerung der
humanistischen Spätzeit handele und daß wir solche streng rhe-
torische Schauspielkiuist für die erste Blütezeit des deutschen Schul-
theaters noch nicht annehmen dürften: die Speyerische Schulordnung
atmet im ganzen den pädagogischen Geist Johannes Sturms, und
Sturms Theorie und Praxis bedeuten zwar in gewissem Sinne schon
eine gewisse Wegentwickelung von dem strengen Melanchthonismus ;
aber sie steht ja nicht allein, sondern hat ein schon wesentlich
1) Sie ist zum ersten Mal gedruckt von Reißinge r, Dokumente zur Geschichte der
humanistischen Schulen im Gebiete der bayerischen Pfalz. Bd. 2 = Monumenta Germaniae
Paedagogica 49 (Berlin 1911), S. 372 ff.
2) a. a. 0. S. 385f.
3) Vorm bäum. Die evangelischen Schulordnungen des 16. .lahrhundert (Gütersloh
1860) I, S, 198f.
17*
260 ' Jodocus Willich.
älteres Seitenstück in der Breslauer Ordnung, und deren Verfasser
Petrus Vincentius war ein unmittelbarer Schüler und orthodoxer An-
hänger Melanchthons.
Es zeigt sich also: wir werden die Rhetores zu befragen haben,
wenn wir uns von der Schauspielkunst der älteren Schulbühne ein
Bild machen wollen. Freilich, die Autoren, die die Speyerer Ordnung
unmittelbar im Auge haben mag, wenn sie auf diese Rhetores hin-
weist, bleiben für uns wesentlich außer Betracht; denn das Ideal
des rednerischen Vortrags mag sich ja gegen Ende des Jahrhunderts
etwas gewendet haben, für unsern Zusammenhang aber kommt
im ganzen doch nur die Darstellungsart der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts in Betracht. Sehr eingehend pflegte in den Lehrbüchern
der Rhetorik die Proniinciatio und Actio nicht behandelt zu werden,
meist geben sie nur kurze Anweisungen, die sich ganz und gar an
die antiken Meister anlehnen, ja, es hat den Anschein i), als ob die
humanistischen Rhetoriken deutschen Ursprungs in der älteren Zeit
die Vortragskunst vielfach ganz fortlassen (zu den wenigen Früheren,
die sie mitaufnehmen, gehört, vielleicht bezeichnenderweise, der
Dramatiker Jacob Locher) und daß sie erst seit den dreißiger
Jahren eine bedeutende Rolle spielt: also seit der Zeit, in der die
eigentliche Wichtigkeit des Schultheaters aufzufallen beginnt. Und
charakteristisch genug erscheint eben um diese Zeit ein Büchlein
von 40 Oktavseiten, das die Vortragskunst für sich allein verhält-
nismäßig ausführlich darstellt, der schon öfter hier herangezogene
Liber de pronunciatione rhetorica des Jodocus Willich, gedruckt zu-
erst zu Basel im Jahre 1540 und bis in die fünfziger Jahre hinein
wiederholt aufgelegt: eben jene Schrift, die die Wirksamkeit des
rednerischen Vortrags in theatro aiit in theatralibus ludis gebührend
hervorhebt. Und nicht nur eine derartige Äußerung weist uns darauf
hin, daß wir es hier nicht mit einer rein der eigentlichen Rhetorik
dienenden Leistung des Frankfurter Hochschulprofessors zu tun
haben, wir können vielmehr nachweisen, daß sein Interesse für die
Schuldramatik besonders rege gewesen ist und daß er demnach
wohl auch an die Schulbühne gedacht hat, als er über die bisher
am meisten vernachlässigte Seite der Redekunst eine besondere
Monographie vorlegte : er hat nicht nur eine kommentierte Ausgabe
des Terenz veranstaltet, sondern auch in seinem Kommentar zur ars
poetica mannigfaches Interesse fürs Drama, ja auch für die moderne
Schulkomödie bekundet 2), und er hat den Druck der in Frankfurt
entstandenen Studentenkomödie des Ch. Stymmelius mit einem Vor-
wort begleitet, das zu einem bedeutsamen Zitat eine Stelle aus
1) Genaueres wird sich erst s;.«gen lassen, wenn die von der Gesellschaft für deutsche
Erziehungs- und Schulgeschichte unlernommene bibliographische Sammlung der älteren
Schulbücher Deutschlands zum Abschluß gekommen ist.
2) Vgl. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. 2 (Halle 1901), S. 113, -iS».
Jodocus WiUk'li. ■ 261
Ciceros rhetorischer Hauptschrift benutzt; sein Stiefbruder ist jener
Gregorius Wagner, der ReuchUns Henno deutsch bearbeitete und
in Frankfurt a. O. aufführen heß. Kurz, es ist durchaus wahr-
scheinUcli, daß der Verfasser der Prominciatio in der Frankfurter
Theatergeschichte 1) eine gewisse Rolle gespielt hat.
Aus dieser Prominciatio nun die Grundzüge der damaligen
Schauspielkunst der Schulbühne herauszulesen, wird sich um so
eher empfehlen, als ihre Anweisungen auch für die Praxis der Ein-
studierung eine wohl brauchbare Mitte bildeten zwischen der gar
zu großen Knappheit der meisten zeitgenössischen Rhetoriken und
der kaum zu bewältigenden Ausführlichkeit, mit der Quintilian im
elften Buche der Institutionen die Vortragskunst behandelte; immer-
hin sind die für die Anleitung der jungen Mimen notwendigen Regeln
immer noch so umfänglich und damit ihre Anwendung so schwierig,
daß man Johann Sturms Seufzer versteht 2): Eariim personanim,
qiiae paiica loqinintiir, facilis est actio; plus laboris reqiiiriint pri-
mariim partium actores. Quintilians Lehren liegen Willichs Dar-
stellung in erster Reihe zugrunde, obschon er auch Cicero und
namentlich den Herenniusautor stark heranzieht; aber er steht
diesen Vorbildern doch nicht rein kompilatorisch gegenüber : er strebt
nach einer höchst bemerkenswerten Universalität, sichtlich bemüht,
eine klassisch orientierte und doch moderne Normalgestik zusannnen-
zubringen, indem er in einer heute nicht mehr zulässigen, für jene
Zeit aber äußerst fortschrittlichen Art eine Fülle von Ausdrucks-
bewegungen von den verschiedensten Orten zusammenträgt und in
den quintilianischen Schubfächern unterzubringen sucht. Da sind
nicht nur die sacri scriptores, vor allem die Bibel, auf charakte-
ristische Gesten durchmustert, damit auf solche Weise die zeit-
gemäße Konkordanz zwischen biblischem und heidnischem Altertum
zustande komme, auch die antiken Profanschriftsteller und zwar
nicht nur die landläufigen müssen Material hergeben, ja sogar in
der bildenden Kunst der Antike, den vetenim imagines, werden Be-
obachtungen gemacht; weiter wird auch die Geste der neueren Zeit
nicht unbeachtet gelassen : die rituelle Geste des geistlichen Gottes-
dienstes ist berücksichtigt, die lebhafte Gebärdensprache der Sar-
mates fällt dem Autor auf, in deren Nähe zu stehen besser ver-
mieden werde, ne qua alapa impingatur per illorum bracchia nimis
proiecta, und wie Hans Sachs hat er einen Blick für die tierischen
Ausdrucksbewegungen und weiß durch charakteristische Bilder
aus dem Tierleben das Menschliche- anschaulich zu machen. Er
häuft aber nicht nur, sondern er scheidet auch aus, indem er
1) Bauchs vorher zitiertes, sonst so materialreiches Buch macht uns hier leider keine
Mitteilungen.
2) Joannis Sturmii Classicarum epistolarum lih. 111 (Straßburg 1567) p. 68a (vom
Jahre 1565).
262 stimme, Mimik mid Gestik.
gelegentlich manche Bewegungen der antiken Rhetorik für tot er-
klärt, ja sogar in einem (S. 255 f.) schon erwähnten besonderen Ab-
schnitt gebärdengeschichtlichen Charakters (De aetate gestuum) eine
Anzahl literarisch überlieferter Gesten aussondert: hi in desiietii-
dinem abienint, et alii siirrogati sunt.
Lassen wir nun von der eigentlich praktischen Anleitung
Willichs beiseite, was wesentlich nur dem rednerischen, nicht
dem theatralischen Vortrag zugute kommen kann, so zeigt sich,
daß er ganz unselbständig da ist, wo er den Ausdruck der Affekte
durch die Stimme erörtert; hier variiert er eigentlich nur stilistisch,
ohne etwas hinzuzufügen oder fortzulassen, die Ausführung Quinti-
lians Inst. Or. XI, 3, 63 — 65 1). Quis non animadveiierit, sagt Willich,
in hilaritate plenam esse et simplicem [seil, voceni]; in certamine
seil conteniione erectam iotis viribus et veliit omnibiis nervis in-
tentam; in ira acriorem, asperam, densam, cum crebra respirafione ;
in blandiendo, rogando et fatendo lenem et submissam; in siia-
dendo, monendo et pollicendo et consolando grauem; in metu et
vereciindia contraciam, in adhortatione fortem; in disputationibus
gravioribiis teretem; in miseratione flexam, flebilem et consiilto
quasi obscuriorem; in expositione et sermone rectam et mediam
inter acutum et sonum grauem; in egressione fiisam et claram
esse. Quid miiltis? In concitatis affectibiis attollitiir, in compositis
descendit plus minusue pro utriiisque rei modo.
Viel genauer und selbständiger werden Mimik und Gestik be-
handelt: gerade hier finden sich jene Zusätze und Fortlassungen,
und auch die zahlreichen starken Anlehnungen an Quintilian —
sie sind im folgenden durch besondere Schrift herausgehoben —
zeigen zuweilen eigene Erweiterung und Ausdeutung. Auch die
scharf heraushebende Einteilung mit den besonderen Überschriften
ist Willichs Eigentum.
De capite.
Ex membris . . ., quorum opera in pronunciatione utimur,
primiim est caput, qiiod secundiim natiiram rectum esse debet,
attamen mobile, non rigidiim et durum, in quo magna mentis bar-
baries est, quasi Tsravo; corripuisset. Sed cum siibmissiim fiierit,
hiimilitatis est et pudoris, humiles enim fere caput inchnant; cum
siipinum, arrogantiae est; cum inclinatiim est in latus, languoris
est et somni; cum in transversum nutat, renuimiis; cum in pronum,
annuimus et asseveramus . . . Cum in supinum versum fuerit,
advocamus; cum modice vacillarit, dubitamiis et admiramiir; cum
ita surrectum fuerit, ut antica pars faciei declinet lanquam mina-
bunda, indignationem significat; cum vibratur illusionem . . .
1) UnboriicksiclitiKt bleibt nur Quintilians Aii<>;itM': Patiliini in invidia ßciendalentior . . .
Mimik und (Jestik. 263
Vitiosum autem hie iiidicatur frequens nutus: et subinde iacfare
Caput et comam rotare iiixta Quintilianum fanaticum est.
De fronte.
Frons vero est meiitis significatrix. Quae si serena et expiicata
fuerit, hilaritatis, blanditiae et clementiae nota est, nam porrectiore
fronte sunt qui maxime exhilarescunt. Si corrugata seu obducta
seu contracta seu caperata, iracundiae, severitatis, tristitiae et
tyrannidis ... Si niodice demissa et corrugata fuerit, pudoris
Signum est; quibus autem talis non est, effrontes, hoc est impu-
dentes dicuntur. Verum ex huius membri gestu multae sunt natae
paroemiae, quae aliunde petendae sunt
De siipercüiis.
At proxime frontem supercilia sunt constituta. Quae si sublata
fuerint, arrogantiam notant . . .; si demissa, verecundiam; si re-
missa hilaritatem ; si addiicta, iracundiam et torvitatem; si compo-
sita, lenitatem; si deducta, tristitiam ; si inaequalia, videlicit cum
umim fuerit sublatum et alterum compositum, crudelitatem porten-
dunt ... Si subito deflexa, concessionem et asseverationem ; sin
autem subito retorta sursus versus fuerint, abnegationem monstrani.
De oculis.
Ceterum sub his latitant oculi, qui animi indices sunt, sicut
vultus eiusdem imago . . . Rubentes autem oculi, sed ardentes,
instar scintillae micantes iracundiam notant . . ., intenti et intuentes
attentionem , f iduciam et autoritatem . . . Suspicientes vero anxie-
tatem seu dolorem portendunt, qui gestus est deum invocantibus
et gratias agentibus . . . Clausi autem et aversi inimicitiam, aperti
amicitiam et favorem monstrant . . . honesti honestatem, nimium
deducti stoliditatem (tales enim sunt vitulis), rigidi stuporem seu
zy,nTX(ji\, languidi et subinde nictantes pudorem et verecundiam,
torpentes torporem et segnitiem, paeti, qui et venerei sunt, lasciviam,
limi seu semiclusi insidias et adulationem, mobiles veluti innatentes
aut volantes voluptatem et libidinem . . . Ceterum de saltu oculi
vel dextri vel sinistri tanquam superstitiosum et inutiliter actori
relinquimus.
De naribus.
His succedunt nares, quae efflantes iram significant, quemad-
modum in equis ferocientibus conspicitur . . . Corrugatae vero
illusionem prae se ferunt . . . Frequens autem nariuni emunctio
damnatur . . .
264 Mimik und Gestik.
De buccis.
Proximum his locum buccae retiiient, quae inflatae arrogantiam
et fastum, apud Horatium tarnen et iracundiam significant . . .
demissae autem tristitiam et desperationem . . .
De labiis.
lam succedunt labia, quae cum porrigiintiir, stultorum sunt;
cum astringiintiir, humilium; cum didiiciintiir, illudentium; cum
mordentur, iratorum /. . sed ea lambere vitiosiim est. In rictu autem
Sit moderatis, ore enim magis quam labris loquendum est.
De dentibus.
Sub haec sunt dentes, quibus irati frendebant . . .
De cervice.
Ceterum post faciem est cervix, quae primum erecta esse debet,
non rigida . . . deinde non sit siipina . . . postremo neque semper
decet eam in alterum humerum inclinare, nisi quid admodum triste
acciderit . . . Sequitur autem motum capitis cervix, quare utrius-
que eadem paene erit ratio. Id tamen non est negligendum, quando
illa breviatur, qiiod gestiim faciat Inimilem, servilem et fraiidulentum.
De collo.
Verum pars illi paene opposita est collum, quod nunc contrahitur
ut in tristitia, nunc e.xtemlitiir ut in superbia et hilaritate . . .
De bracchiis.
Ab his [humeris] autem dependent bracchia, quae modice proici-
untur, magis tamen quando dictio incalescit, hoc est quando obiur-
gamus, quando exhortamur, quando contendimus; liaec tamen
proiectio moderata esse debet. Nam si immodica fuerit, atliletis et
antagonistis rectius conceditur atque Sarmatis quibusdam incivili-
oribus, a quorum pronuntiantium latere non satis tutum est sedere
aut stare, ne qua alapa impingatur per illorum bracchia nimis
proiecta.
De manibus.
At horum partes sunt manus, quae loquacissimae sunt, sine
quibus actio debilis est et manca. Haec autem pectori admovetur,
cum quis de se loquitur, cum vero de alio quopiam, ad eundem
intenditur öely.tiymq, sed percussione seu strepitu pronae manus
Silentium commonstratur. Eadem sublata et inflexa ad nos ilHcimus
et invitamus; eadem a nobis reflexa et depressa aversamur et
repellimus; eadem in ecciesia pectus tundimus tanquam pubüco
poenitentiae signo ; eadem admirantes veteres femur percutiebant.
Eadem quoque cum sensu incipiat et cum eodem deponatur. \\\
exordio quidem, quia ibi fere VjOo; est, non 7rai)o:, haec vix veste
Scluiltheaterkuiisl und Meistersingerkunst. 265
aut pallio exeritur, donec oratio magis inealuerit. Nunc pariter
dextra in facie crucem signamus admirantes, qui gestus quoque
servatur, qiiando abeuntibus bene precamur et bene valere iubemus.
Sed manibus iunctis et expansis ariorainus et hodie . . . Dextram
autem in altum porrectam vibrare est militare Signum laetitiae et
ebriorum, qui Euan Euan ingeminant.
De digitis.
Porro manus pars una est digitus, qui ori impressus silentiuni
indicat . . . Indice autem sublato caelum seu superna, sicut depresso
terram seu interna demonstramus ...
De genibus.
Succedunt bis [pectori, ventri, lateribus] deorsum versus in
actione genua, quibus flexis hodie honorem impendimus . . .
De pedibus.
Porro infimum locum sortiti sunt pedes, in quibus duo tamen
observantur: status et incessus . . . Sed ad pedes revertemur,
quorum alter porrigatur: iunctis enim pedibus stare potius muHerum
est . . . Vitiosa est immoclica pediim divaricatio, siipplosio autem
pedis ohm in loco opportunior fiiit quam hodie.
Überschauen wir nun den Gesamtcharakter dieser schulmäßigen
Schauspielkunst, um sie mit der Meistersingerkunst zu vergleichen
und dabei festzustellen, was Hans Sachs ihr etwa für sein Theater
entnommen haben kann, so diu-fen wir wohl in erster Reihe sagen:
eben das Schulmäßige, den Gedanken an die Möglichkeit, Dilettanten
nach bestimmten Regeln für die Aufführung wechselnder Spiele
heranzubilden ; gegenüber der Anleitung, die die Mitwirkenden beim
älteren geistlichen Drama erhielten, in dem es sich um eine be-
stimmte Reihe immer wiederkehrender Szenen und eine sehr kleine
Zahl feststehender Vortragsformen handelte, war das immerhin
doch etwas Neues. Und ferner: wenn wir bei Hans Sachs (vgl.
oben S. 174 ff.) eine ganz kleine Anzahl von Gemütsverfassungen
fanden, in denen übereinstimmend mit mittelalterlicher Art dem
Darsteller überlassen bleibt, seinen körperlichen Habitus von innen
heraus zu gestalten, so kennt auch die klassizistische Rhetorik eine
prominciatio naturalis, quae ductu naturae in voce et motu cor-
poris fit, ja die Zahl der ihr anheimgegebenen Seelenzustände ist
sogar größer als die der Nürnberger Bürgerkunst; in der Haupt-
sache aber ist es doch hier wie dort so, daß jedem einzelnen
psychischen Element die ihm zukommende Ausdrucksbewegung
von außen her zugewiesen wird. Und da es sich bei diesen
psychischen Elementen auf der Schulbühne ganz wesentlich um
die stilisierte Verdeuthchung von Affekten und Leidenschaften
266 Schultheaterkunst und Meistersingerkunst.
handelt, so würde auch der stark pathetische Grundcharakter der
nürnbergischen Scliauspielkunst hier ihr Vorbild haben können.
Weiter geht die Vergleichbarkeit allerdings nicht: ob das Lyrisch-
Sentimentale auch auf der Schulbühne so stark hervortritt wie in
Hans Sachsens Darstellungen, läßt sich nicht entscheiden, und
fast noch weniger ist im einzelnen auszumachen, welche Gefühle
und Affekte in bezug auf die Häufigkeit und Entschiedenheit der
Ausdrucksbewegung auf dem Schultheater im Vordergrund stehen.
Nicht vergessen darf man auch, daß uns für die Schulkunst unser
Material in bezug auf all die Gesten im Stich läßt, die die An-
wesenheit eines zweiten Menschen voraussetzen, dessen Körper
mit in die Bewegung hineinziehen; und gar nichts Sicheres läßt
sich darüber sagen, ob jener feierlich-zeremonielle Charakter, der,
wie oben (S. 161) hervorgehoben wurde, der meistersängerischen
Kunst zu eigen ist, dem Schultheater ebenfalls zugesprochen werden
kann: die Vorschriften über das Grüßen und dergleichen spielen
in der Rhetorik keine Rolle; immerhin ist anzunehmen, daß eine
Wissenschaft, die, solange sie vor allem Briefstilkunst war, die
Lehre von der Salufatio: den schriftlichen Grußformen, besonders
eifrig anbaute, später auch ihre lebendigen Korrelate nicht ver-
nachlässigt haben wird.
Im Gegensatz zu solchen nicht unwahrscheinlichen oder wenig-
stens gut denkbaren Zusammenhängen zwischen Schulbühne und
Meistersingerbühne 1) tritt uns nun aber der allerstärkste Unter-
schied entgegen, sobald wir die hier und dort gebräuchlichen Aus-
drucksbewegungen im einzelnen, ja auch nur die Hauptbetätigungs-
gebiete nebeneinander halten. Schon die karge Zahl der den
Schauspielern Hans Sachsens zu Gebote stehenden stimmlichen
Vortragstöne ergibt ein anderes Bild als die bedeutend größere
Reihe, über die- im Anschluß an Quintilian die Schulbühne ver-
fügen soll; wohl entspricht dem weinerlichen Ton, den wir früher
(S. 168) als eine Vortragsart auf dem Hans Sachstheater feststellten,
die üox flebiUs der Schulspieler, und auch das Lachen hat sein
Seitenstück in der iocatio, dem risiis pudens et liberalis, in quo vox
leniter tremebunda est; aber für so allgemeine Dinge braucht ge-
wiß nicht erst die Schulbühne die Lehrmeisterin abzugeben. Und
sobald wir aufs visuelle Gebiet übergehen, schwindet die Überein-
stimmung durchaus. Die Haupttätigkeit des Schulschauspielers
liegt auf dem mimischen Gebiete, für das ja die eingehendsten
1) Wie sehr solche Annahme mehr als bloße Hypothese ist, beweist uns Hans
Sachsens Augsburger Schüler Sebastian Wild, indem er im Vorwort zu der 1560 er-
schienen Gesamtausgabe seiner Comedien viul Tra(;edien zwölf/' als den Zweck solcher
dramatischen Dichtungen angibt : . . sonderlich für die Jiigent,' sich darinnen zu üben vnnd
zu kurtzweylenj darauß ein gute Memorij' oder gedechtmißl vnnd auffmercken volget
mit sprechen vnnd gehe rden sich gegen einander zuerzeggen.
Schultheaterkiinst und Meislersingerkunst. 267
Vorschriften gegeben werden; die stilisierende Kunst der Nürn-
berger Bürger aber leistet gerade hier so gut wie nichts. Um-
gekehrt fällt, wie wir sahen, bei Hans Sachs die Hauptleistung den
Armen und Händen zu; die Schulbühne dagegen setzt ihre Ver-
wendung auf ein möglichst geringes Maß herab: so sehr, daß in
Willichs Vortragslehre, die doch von Quintilians Vorschriften, so-
weit sie sich auf die mimischen Ausdrucksbewegungen beziehen,
nur verschwindend wenig beiseite läßt, die große Affektenreihe
des Meisters, in welcher aufgezählt wird, was wir alles mit den
Händen auszudrücken vermögen (Inst. orat. XI, 3, 86 f.), völlig
getilgt ist; ebenso sind die genauen Anweisungen über die Bered-
samkeit der Finger (ibid. 92 ff.) durchaus unberücksichtigt ge-
blieben — sie werden dann später in dem 'Generale artificium
orationis cuiascumque componendae' des Jesuiten J. Voellius
(Cöln 1590) um so eingehender behandelt, aber das gehört schon
in die alles losbindende Zeit des Barock hinein und müßte im Zu-
sammenhang mit der Kunst des Jesuitentheaters gewürdigt werden, i)
Jene Fesselung der Arm- und Handgebärden aber, die das Schul-
theater zu Hans Sachsens Zeit erstrebt, ist eine Folge seines ober-
sten Vortragsgrundsatzes, den schon die Rhetorik des Altertums
hervorhebt, den die neue Zeit aber mit doppelter Energie betonen
mußte : In gestu mediocritas requiritiir, w^eil offenbar der eigentliche
Zug der Zeit der großen Geste zustrebte; so wie schon mehr als
ein Menschenalter vorher die geistliche Regie ihren Spielern ein
Omnia cum moderamine ! zurufen mußte. 2) Vielleicht ist jenes
Bemühen der Schultheateregisseure, durch die Übertragung der
antikisierenden Rhetorik auf die Aufführung der lateinischen Dramen
der zu lebhaften Aktion der Arme und Hände entgegen zu treten,
geradezu eine Reaktion gegen die Terenzaufführungen des älteren
Humanismus im ausgehenden 15. Jahrhundert: die im zweiten
Teil dieses Buches gebotene kritische Untersuchung der Terenz-
illustrationen jener Zeit wird wenigstens für die wichtigste Leistung
der Epoche die nicht ganz selten gebotene Abbildung der großen
Affektgeste als eine Darstellung wirklicher Theatergebärde zu er-
weisen suchen. Auf der Schulbühne war eine Bändigung solchen
Überschwangs zu Hans Sachsens Zeit im allgemeinen erreicht ; in der
bürgerlichen Schauspielkunst dagegen, wie sie das Nürnberger
Theater uns vor Augen führt, spricht sich der laute Charakter der
Geste aus, den die rhetorischen Schultheaterregisseure bekämpfen
mußten: ihre Leistungen haben also kein Vorbild für die bürger-
liche Kunst abgegeben. Unsere Betrachtung endet mit der Er-
1) Eine eingehende Untersuchung über das Jesuitentheater von W. Fl e mm in g
tritt demnächst hervor.
2) Vgl. aucli die von Creizenacli 2. S. 93 Anm. 4 angeführte Äußerung des
spanischen Neulateiners Petrejus.
268 Selbständigkeit der Nürnberger Theatergestik. Die Gestik der Bildkunst.
kenntiiis: die Nürnberger Theatergestik ist doch wohl nichts Ab-
geleitetes, sondern eine selbständige Schöpfung des Zeitgeistes,
eine Fortbildung jener Ansätze zu einem bürgerlichen Schauspiel-
stil, die sich um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert bei der
Emanzipation von dem kirchlich-liturgischen Stil zuerst gezeigt
hatten; vielleicht nur, daß die damals neben der neuen großen
Gebärde sich eindrängenden Wirklichkeitsgesten in einer ähnlichen
Mischung während der ersten Zeit der dramaturgischen Tätigkeit
Hans Sachsens noch erhalten geblieben sind i) und dann erst durch
eine gewisse allgemeine Einwirkung der ganz unnaturalistischen
Schultheaterkunst zugunsten einer wesentlich stilisierenden Art
verdrängt wurden. Die Art der Stihsierung aber hält im all-
gemeinen an der weitausgreifenden Gestik fest, die sich in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durchzusetzen begann.
Eine letzte Möglichkeit bleibt allerdings noch zu erörtern. Man
könnte daran denken, daß die Nürnberger Schauspielkunst ihre am
meisten charakteristischen Züge aus den Schöpfungen der zeitge-
nössischen Bildkunst entlehnt hätte. In der bildnerischen Gebärden-
sprache nämUch ist seit dem Zeitpunkt, bis zu dem wir sie früher
verfolgt hatten (S. 239), ein gewaltiger Umschwung eingetreten. Er
wird vornehmlich durch die Kunst des Mannes dargestellt, an den
wir in erster Reihe zu denken hätten, wenn wir einen Einfluß der
Malerei auf die Schauspielkunst des Nürnberger Theaters annehmen
wollten : durch Albrecht Dürer, Man wird hier nicht erwarten dürfen,
eine eingehende Betrachtung der Dürerschen Gebärdensprache zu
finden.2) Nur in wenigen Sätzen sei hervorgehoben, daß jener
Mangel an Pathos, der die letzte Generation des 15. Jahrhunderts
kennzeichnete und der die großen Leidenschaftsgesten der Arme
und Hände auf die nebensächlichen Stellen der Bilder zu verbannen
pflegte, nun einer ausgesprochenen Pathetik Platz macht, die aus
dem Blute des Künstlers stammt und sich an italienischen Meistern,
zumal an Mantegna schulen darf und die begreiflicherweise am
stärksten in der Gebärdensprache zutage tritt. Dies Wort muß man
freilich, wie es sich bei einem ganz großen Meister von selbst ver-
steht, im allerweitesten Sinne nehmen und vor allem etwa auch
die Ausdrucksbewegungen mit einbeziehen, die durch die völlig
veränderte Behandlung des Gewandes erzielt werden. Die Leiden-
schaftlichkeit äußert sich weiter in der pathetischen, ausdrucks-
gesättigten Art, in der das gesamte Lineament, in der auch die
eigentlichen Aktionsbewegungen gehalten zu sein pflegen, ja, in der
ganzen Art der neuen Behandlung des Körpers: man spürt, selbst
1) Auf gewisse Reste, die trotz der stilisierenden Tündie späterer Überarbeitung
bewahrt geblieben sind, haben wir gelegentlich hingewiesen.
2) Die wichtigsten Hinweise finden sich an vielen Stellen des Wolf fl in scheu
Buches „Die Kirnst Albrecht Dürers" (München 1'JÜ5).
Dürer und Hans Siiclis. 269
wenn er in Ruhe gezeigt wird, daß iiun, sobald er in Bewegung
kommen wird, die großen Gesten besonders gemäß sein werden.
Wo diese sich nun umnittelbar dem Beschauer zeigen, sind sie von
einer Fülle der individualisierenden Kraft, die hier auch nicht an-
gedeutet werden kann, sie tritt in allen möglichen Arten zutage,
an die das Theater nicht denkt; immerhin erscheinen auch jene in der
Tradition nie völlig untergegangenen großen Bewegungen beider
Hände und beider Hände nun wieder in entschiedener Bildwirk-
samkeit, und Jene wichtigsten Gesten der Hans Sachs-Bühne:
Händezusammenlegen, Händeaufheben, Händewinden, Händezusam-
menschlagen, Armeaufheben, Händeüberdemkopfzusammenschlagen,
sind auch bei Dürer, und zumal in seiner Schwarzweißkunst, sehr
häufig zu beobachten. Und er steht in dieser Beziehung keines-
wegs allein in der Kunst seiner Zeit: nicht alle, aber doch sehr
viele seiner Zeitgenossen und seiner unmittelbaren Schüler haben
den gleichen Zug zur leidenschaftlichen Gebärdensprache und durch-
aus verwandte Ausdrucksformen.
Soll man auf Grund solcher unverkennbaren Übereinstimmungen
nun annehmen, der Informator der Nürnberger Schauspieler habe
die Hauptzüge seiner Anordnungen den Schöpfungen der Bildkunst
entnommen ? Dem wird zunächst die rein äußere Erwägung eini-
germaßen entgegenstehen, daß alle Verbindung mit der bildenden
Kunst, in der wir Hans Sachs auf der Höhe seines Schaffens nach-
weisen können,!) sich auf die jüngeren Nürnberger Künstler, zu-
nächst auf Hans Sebald Beham bezieht; hätte er aber deren Arbei-
ten auf die Gebärdensprache durchmustert, so würde er dort
die große Pathetik der Gesten nicht mehr so ausgeprägt gefunden
haben: die jüngere Generation übt, sei es aus einem neuen Lebens-
gefühl heraus, sei es in einem Bemühen um stärkere Klassizistik,
größere Zurückhaltung. Wichtiger ist schon der Umstand, daß
Hans Sachsens Blick bei der Betrachtung von Bildwerken offenbar
immer so stark an das Reinstoffliche gebunden erscheint, daß ihm
eine entscheidende Aufmerksamkeit für ein so wesentlich formales
Element, wie es die Gebärdensprache immerhin ist, kaum zuzu-
trauen sein wird. Erinnert mag hier ferner daran werden, daß
unsere Untersuchungen für die vorangegangenen Jahrhunderte das
Vorhandensein von beträchtlichen Zusammenhängen zwischen der
Gestik des Theaters und der der Bildkunst durchaus haben leugnen
müssen; ist nun inzwischen auch der Hauptfaktor solcher Verschie-
denheit, die ständige geistliche Gebundenheit der Schauspielkunst,
in Fortfall gekommen, so ist doch umgekehrt bei der jetzt einge-
tretenen stofflichen Differenziertheit der beiden Kunstübungen kaum
II Vgl. Buchwald: Zeitschrift für Bücherfreunde N. F. 2, 2 (1911), S. 233ff. und
das Illustrationsmaterial in der hübschen Hans Sachs- Ausgabe des Inselverlags: 2. Aufl.
Leipzig 1911. 2 Bde.
270 Hans Sachsens Leistung: Systeniatisierung der theatralischen Tradition.
anzunehmen, daß sich mit einem Male die Tlieaterkunst die Ge-
bärdensprache der Bildkunst sollte zum Muster genommen haben.
Das Entscheidende aber ist wohl die Unmöglichkeit, daß ein Be-
obachter sich jene dem Theater und der Bildkunst gemeinsamen
großen Arm- und Handbewegungen etwa aus Dürers Bildern und
dem Ganzen ihrer Ausdrucksdarbietungen allein sollte heraus-
gesehen haben. In der höchst primitiven Kunst der Meistersinger-
bühne allerdings fallen die spießbürgerlichen Persönlichkeiten der
Darsteller und ihre stilisierten Leidenschaftsgebärden unorganisch
auseinander; wenn man aber auch treffend darauf aufmerksam ge-
macht hat,i) daß mitunter auch bei Dürer „der Rock großartiger ist
als der Mann'^, die Ausdrucksgewalt des Gewandes zu stark ist für
den etwas kleinbürgerlichen Kopf darüber, so ist doch im Ganzen
in dieser Hochkunst eine organische Einheit erzielt, die das Heraus-
reißen jener Einzelzüge beinahe undenkbar erscheinen läßt.
Trotz solcher Erkenntnis aber wird der Hinweis auf jenen Um-
schwung in der bildenden Kunst hier nicht ganz zwecklos gewesen
sein. Dieser Umschwung ist auch für uns wichtig als das spürbarste
Symptom des neuen Lebensgefühls der Dürer- und Luthergeneration ;
dieser Generation gehört auch Hans Sachs noch an, mögen gleich
seine wichtigsten Leistungen auf dem Gebiet der Theaterkunst in
eine Zeit fallen, in der jene Generation im ganzen schon einer
neuen Platz gemacht hat, und als ein von der Bildkunst unabhän-
giges Kennzeichen des gleichen Lebensgefühls sind, freilich auf un-
vergleichbar tieferem Niveau, auch die großen Gesten der Nürn-
berger Schaubühne anzusehen.
Ihr Seil Opfer ist Hans Sachs schwerlich gewesen. Daß die Ge-
neration, der er noch zugehört, schon um die Wende des 15. zum
16. Jahrhundert auf der Schulbühne zur großen Geste neigte, wurde
unter den Hinweis auf den zweiten Teil dieser Untersuchungen
schon angedeutet; in ihnen wird sich ferner zeigen, daß auch auf
dem bih'gerlichen Theater in Basel im zweiten Jahrzehnt des
16. Jahrhunderts die gleiche Tendenz sich geltend macht. Hans
Sachs hat offenbar nur das von der Tradition Überkommene syste-
matisiert und normalisiert, nach dem Vorbilde des meistersänge-
rischen Betriebs der Lyrik, dem sich ja die theatralische Tätigkeit
unmittelbar zur Seite stellt, und durch solche Feststellung fügt sich
auch seine Wirksamkeit für das Theater ganz und gar in sein Ge-
samtbild ein: das Bild eines Mannes, der, vom Humoristischen ab-
gesehen, nur mit einem recht durchschnittlichen Können, den von
Vergangenheit und Gegenwart ihm zuströmenden Stoff meisterte,
der aber durch die Fülle und die systematische Anordnung seiner
kleinbürgerlichen Polyhistorie beinahe einen Zug von Größe erhält.
1) Wöiniin S. 148.
Zweiter Teil:
Dramenillustrationen des 15. und 16. Jahrhunderts.
Erstes Kapitel:
Ziele und Wege.
Die Erörterung des Verhältnisses zwischen Theater und bildender
Kunst hat sich die kunstgeschichtliche Forschung nicht entgehen
lassen. In eindringenden Untersuchungen i) ist uns gezeigt worden,
daß in den vorzüglichsten Leistungen der geistlichen Kunst des
Mittelalters — mag es sich um Skulpturen oder um Bilder handeln
— die dramatischen Aufführungen jener Jahrhunderte sich spiegeln.
Natürlich haben die Künstler nicht etwa beabsichtigt, Spiegel-
bilder des mittelalterlichen Theaters zu liefern, der Hergang ist
vielmehr der, daß sie in der Darstellung der heiligen Vorgänge
vielfach nicht mühsam mit Beobachtungsübertragung und Phantasie
arbeiteten, sondern sich, im wesentlichen unbewußt, an die Erinne-
rung der Bilder hielten, die ihnen durch die alljährlichen Vorfüh-
rungen von Oster-, Passions- und Weihnachtsspielen vermittelt
waren. Jene Untersuchungen aber sind durchaus im Interesse der
Kunstgeschichte angestellt; ihre Aufgabe ist es nicht, die Elemente
jener Aufführungen aus den Bildern heraus festzustellen, sie wollen
vielmehr, indem sie die Art der Aufführungen als bekannt voraus-
setzen, die mittelalterlichen Kunstwerke erläutern, sie wollen zeigen,
bei wie vielen der scheinbar in ihnen enthaltenen Lebenselemente
es sich tatsächlich um Theatralisches handelt.
Das auf solche Art wissenschaftlich zurechtgelegte Material ist
aber umgekehrt für die Zwecke der Theatergeschichte nicht oder
nur schwer zu brauchen, ganz abgesehen davon, daß es im besten
Falle nur über die Art der öffentlichen Aufführungen des Mittel-
alters Licht verbreiten könnte. Über ganz allgemeine Vorstellungen
hinaus wird es uns für die Einzelheiten spezieller Theaterauffüh-
rungen schwerlich zuverlässig unterrichten können.
Von dieser Richtung her also kommen wir nicht an unsere
Aufgabe heran. Nicht von Bildern dürfen wir ausgehen,
die ohne Wissen der Künstler theatralische Elemente in sich auf-
genommen haben. Unsere Grundlage müssen vielmehr solche
Darstellungen bilden, die absichtlich zu dramatischen Dichtungen
oder gar zu ihren Aufführungen in Beziehung gesetzt worden sind :
wir werden uns an Bühnenbiljder oder, wo solche noch nicht vor-
1) Vgl. o. S. 240, Anm.
Herrmann, Theater. 18
274 Die theatralischen Elemente der Dramenillustrationen.
banden sind, an D r a m e n i 1 1 u s t r a t i o n e n zu halten haben. Auch sie
aber sind tatsächhch wissenschaftlich erst zu benutzen, nachdem wir
denVersuch gemacht haben, die wirklich in ihnen enthaltenen Thea-
terelemente von den daneben in ihnen steckenden Elementen der
bildenden Kunst zu sondern. Denn es ist natürlich, daß es sich
zumal bei Dramenillustrationen der älteren Zeit niemals um
Surrogate für photographische Abbildungen der betreffenden Vor-
stellungen handeln kann: immer sind es Handschriften- oder
Buchillustrationen, mit denen wir zu tun haben. In der älteren
Zeit hat der Illustrator nur ausnahmsweise die Absicht, ein Theater
seiner Zeit abzubilden, und auch nachdem Sebastiano Serho im
zweiten Bande seiner Architettura (Paris 1545) mit derartigen
wissenschafthch-technischen Illustrationen den Anfang gemacht
hat, wird es zunächst kaum anders.
Ungemein schwierig aber ist die Aufgabe, jene Sonderung der
theatralischen von den bildkünstlerischen Elementen in solchen
Dramenillustrationen vorzunehmen. Denn einmal sind oft in jenen
Elementen der bildenden Kunst, die wir aussondern müssen, ehe
wir die Darstellungen für die Theatergeschichte benützen dürfen,
nach den eben angeführten kunsthistorischen Untersuchungen schon
theatralische Elemente vorhanden. Anderseits braucht es nicht
erst der Illustrator gewesen zu sein, der für seine Zeichnungen
Rücksicht auf Gesetze und Tradition der bildenden Kunst seiner
Zeit genommen hat: schon der Regisseur mag bei der Anordnung
der Bühnenbilder oft genug, bewußt oder unbewußt, zu bildlichen
Darstellungen des gleichen Stoffes in Beziehung getreten sein, zumal
da seit dem 16. Jahrhundert immer häufiger Maler an der Inszenie-
rung beteiligt sind.
Auf sehr verschiedene Weise können solche Dramenillustrationen
zustande kommen. Erstens braucht der Illustrator, zumal in jener
Zeit, wo der theatralische Charakter des antiken Dramas und
seiner Nachahmungen erst sehr allmählich dem gelehrten und dann
dem allgemeinen Bewußtsein einging, den theatrahschen Zug seiner
Vorlage überhaupt gar nicht erkannt oder doch gar nicht berück-
sichtigt zu haben, er kann vielmehr an die Aufgabe genau so
herangegangen sein, als ob es sich um die Illustration eines epischen
Werkes gehandelt hätte. Er kann zweitens, ohne daß er eine Auffüh-
rung des betreffenden Dramas mit angesehen hätte, sich künstlich
eine Vorstellung von ihrem Verlauf gemacht haben. Das wird,
wo es sich um Illustrationen der antiken Dramen in einer Zeit
handelte, in der eine Tradition für die Art ihrer Aufführungen
noch nicht bestand, durch rein gelehrte Forschung und eine im
gelehrten Sinne arbeitende Phantasie geschehen sein; es kami sich
aber auch um eine Art Entwurf zu einer künftigen Aufführung des
betreffenden Stückes handeln, in jenem Sinne, wie auch der moderne
Die theatralischen Elemente der Dramenillustrationen. 275
Regisseur für die Anlage einer Vorstellung gern die Zeichenkunst
— wenn auch nur skizzierend — in Anspruch nimmt. Endlich —
und das ist der fin* unsere Zwecke günstigste Fall — können wir
es mit Zeichnungen zu tun haben, die mit einer wirklich stattge-
habten Vorstellung des Dramas tatsächlich in Beziehung stehen,
sei es, daß der Illustrator während der Vorstellung sich Skizzen
von den Bildern angelegt hat, die seinem Auge geboten wurden,
sei es, daß er nachträglich aus der Erinnerung noch das Eine oder
das Andere der Wirklichkeit entsprechend zu erhaschen suchte.
Möglich auch, daß es sich dabei um mehrfach gestützte Erinnerung
gehandelt hat: der Zeichner kann als Mitspielender an der Vor-
stellung beteiligt gewesen sein, oder er kann auch nicht nur der
Aufführung, sondern auch schon den vorangegangenen Proben bei-
gewohnt haben.
Während in der ersten auf solche Art gekennzeichneten Kate-
gorie der Illustrationen lediglich das Bildkünstlerische in Betracht
kommt und das wirklich Theatermäßige ganz fortfällt, spielt in die
beiden andern das Bildkünstlerische nur mehr oder weniger ent-
schieden mit hinein. Durch kritische Betrachtung den rein rein illu-
strativen Charakter der Bilder festzustellen oder anderseits aus jenen
Mischungen, die unter Umständen sehr kompliziert sein können,
das tatsächlich Theatralische herauszuholen, das ist die schwierige
Aufgabe, die die Forschung sich zu stellen hat.
Mit der Lösung dieser Aufgabe soll nun systematisch ein An-
fang gemacht werden, systematisch auch insofern, als hier nicht
die dankbareren Gebiete des 17. und 18. Jahrhunderts in Angriff ge-
nommen sind, sondern — auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis
mehr im Abbauen von Hoffnungen als im Aufbauen positiven
Wissens besteht — wirklich die ersten Leistungen, die überhaupt
in Betracht kommen. So beginnen wir mit den Illustrationen, die
seit den Anfängen des Humanismus und zumal seit dem Einsetzen
des Holzschnittes den antiken Dramen zuteil geworden sind, und
behandeln dann das wichtigste Sondergebiet der Illustrationen zu
deutschen Dramen aus der gleichen Periode, nämlich die
Schweiz 1). Wir werden jedesmal zuerst versuchen, die Ent-
stehungsgeschichte der wichtigsten dieser Bilder oder Bilderzyklen
zu skizzieren und auf solche Weise jene Sonderung in die oben
gekennzeichneten Kategorien vorzunehmen, die die Voraussetzung
für die weitere Scheidung der einzelnen Elemente ist. Wir werden
dann endlich diejenigen Bilder, in denen wir irgendwie größere
oder geringere Rücksichtnahme auf tatsächliche Aufführungen nach-
weisen können, unter einem zwiefachen Gesichtspunkte betrachten:
1) Absolute Vollständigkeit ist nicht das Ziel und wird bei der Schwierigkeit, des
zerstreuten Materials habhaft zu werden, wohl nur das Werk vereinter Kräfte sein können.
Immerhin hoffe ich, daß mir des Wesentlichen nicht zu viel entgangen ist.
18*
276 Di^ theatralischen Elemente der Dramenillustrationen.
wir werden sie einmal vergleichen mit dem, was wir etwa sonst
über die betreffenden Aufführungen wissen, um von dem etwaigen
Nachweis tatsächlicher Aufführungselemente auf das Vorhanden-
sein weiterer theatralischer Bestandteile einen Schluß zu tun; wir
werden anderseits diese Illustrationen mit verwandten Darbietungen
der bildenden Kunst zu vergleichen haben, die nicht zur Illustration
dramatischer Werke bestimmt sind. Wir werden in den besonders
glücklichen Fällen, in denen die Entstehungsgeschichte uns die
Möglichkeit gegeben hat, den Künstler der betreffenden Bilder zu
ermitteln, seine sonstigen Leistungen heranzuziehen haben, um
festzustellen, in welchen Elementen er bei seiner freischöpferischen
Tätigkeit sich von denjenigen Arbeiten unterscheidet, die er als
Dramenillustrator zu schaffen hatte. Wo die Möglichkeit, den ein-
zelnen Künstler zu kontrollieren, nicht vorliegt, werden wir den Blick
auf die gleichzeitige Praxis der bildenden Kunst überhaupt in dem-
selben Sinne zu richten haben. Die letzten Fragen endlich würden die
sein: sind die Abweichungen von der üblichen Art der bildenden
Kunst theatergeschichtlich zu erklären und zu stützen? Und um-
gekehrt : lassen sich die etwa hervortretenden Übereinstimmungen
zwischen Dramenbildern und freien Kunstschöpfungen statt auf eine
rein künstlerisch bedingte Veränderung des ganz abweichenden
wirklichen Bühnenbildes vielleicht darauf zurückführen, daß die
Regie der betreffenden Aufführung durch die bildende Kunst be-
einflußt worden ist?
Zweites Kapitel:
Illustrationen antiker Dramen.
überschauen wir das gesamte Material der in der Renais-
sancezeit gedruckten und mit Holzschnitten ausgestatteten Aus-
gaben antiker Dramatiker, so fällt uns zunächst rein biblio-
graphisch etwas Merkwürdiges ins Auge. Es handelt sich fast
ausschließlich um Illustrationen zu Terenz. Bekannt genug ist freilich,
daß Terenz der eigenthche Lieblingsautor des 16. Jahrhunderts ge-
worden ist. Aber zu der Zeit, in der die wichtigsten und maß-
gebenden Illustrationen hervortraten, war Terenzens Sieg doch noch
in keiner Weise entschieden. Und auch noch später steht namentlich
Plautus und, da wir hier von internationalen Verhältnissen reden,
auch Seneca, von den Griechen ganz abgesehen, im Mittelpunkte
humanistischen Interesses, und die Zahl der alten Plautusaus-
gaben kann sich mit der der Terenzeditionen wenigstens einiger-
maßen messen. Dagegen fällt für die Holzschnittillustration Seneca
ganz aus, und Plautus tritt erst ganz spät und sichtlich als Nach-
zügler im Gefolge der Terenzillustrationen in den Gang der Ent-
wicklung ein. Terenz aber ist früh schon mit bildhchen Dar-
stellungen geschmückt worden, und wenigstens für zwei derjenigen
Stellen, die zuerst Terenzholzschnitte hervorbrachten, läßt sich
irgend eine Abhängigkeit der einen von der andern Darstellung
nicht nachweisen: von einander unabhängige Kunstbestrebungen
sind zweimal auf die Illustration nur des Terenz verfallen, und zu-
nächst nur an seiner Ausstattung mit Szenenbildern hielten
Renaissance und Humanismus fest.
Zur Erklärung dieser auffallenden Erscheinung werden wir
vielleicht den Umstand heranziehen dürfen, daß es für die Illu-
stration der Terenzischen Dramen eine ältere Tradition gab, auf
deren Spuren und auf deren Nachahmung humanistische Interessen
an verschiedenen Punkten führen konnten. Terenz nämlich ist der
einzige antike Dramatiker, der der Renaissancezeit in Handschriften
des Altertums oder, richtiger gesagt, [der ottonischen Renaissance
mit Illustrationen geziert überliefert worden ist i). Eine ganze An-
1) Auf die Streitfrage, ob diese alten Terenzbilder noch in der Tradition der antiken
Kunst stehen oder erst das Erzeugnis der byzantinisclien Kunst jener ersten Renaissance
sind, brauchen wir hier nicht einzugehen.
278 D'6 alten Terenzbllrter. Miniaturen des ]■!. und 1 5. Jahrhunderts.
zahl solcher alten, bildergeschmückten Terenzhandschriften ist auch
noch auf uns gekommen — die berühmtesten sind der Cod. Vat.
Lat. 3868, der Pariser Codex Bibl. Nat. 7899 und der Cod. Ambros.
H. 75 1) — , gewiß aber hat die Renaissance eine weit größere An-
zahl besessen, die dann erst durch die Stürme des 16. und 17.
Jahrhunderts verweht worden sind.
Daß die Humanisten für eine derartige Handschrift die größte
Verehrung und das größte Interesse gehabt haben, können wir
gewiß annehmen, obschon keines der erhaltenen Manuskripte so
unmittelbar die Beweise für die humanistische Hochschätzung liefert,
wie der uralte, aber bilderlose Cod. Vat. Lat. 3226 durch die in ihm
enthaltenen ehrfürchtigen Notizen Bembos und Polizianos 2). Die
erhaltenen Handschriften zeigen alle durchaus die nächste Verwandt-
schaft hinsichtlich der Illustrationen : diese gehen offenbar alle auf
einen Grundtypus zurück, und so werden uns die genannten
Codices durchaus ein Ersatz sein können für etwa verlorene, die
die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts noch benützen konnten.
Jedenfalls haben wir durchaus Veranlassung, da, wo wir das Ein-
setzen der modernen Terenzillustrationen beobachten, nach einem
etwaigen Zusammenhange mit dieser alten Bildertradition zu
suchen.
Miniaturen.
Der eigentliche Gegenstand unserer Untersuchungen sind die
Holz Schnittillustrationen zu den Ausgaben antiker Dramen, denn
erst sie fallen in die Periode, in der diese dramatischen Dichtungen
auch zur Aufführung gekommen sind, erst in ihnen also kann man
nach Spuren solcher Aufführungen zu suchen unternehmen. Immer-
hin aber werden wir an den entsprechenden Leistungen, die die
Zeit vor der Erfindung der Buchdruckerkunst hervorgebracht hat,
an den aus dem 14. und 15. Jahrhundert stammenden Miniaturen
in Seneca- und Terenzhandschriften 3) nicht ganz vorübergehen
dürfen: einmal können sie uns vielleicht die Vorstellung anschau-
lich vermitteln, die man in der Frühzeit des Humanismus rein
theoretisch von der Art des antiken Theaters gehabt hat, und
ferner wäre es ja denkbar, daß eine bewußte oder unbewußte
Identifikation des antiken und des mittelalterlichen Dramas seitens
der Miniatoren vorgenommen worden wäre und daß wir im Zu-
sammenhange damit Reste der mittelalterlichen Inszenierungsart
1) 7 weitere Handschriften oder Handschriftenfragmente verzeichnet z. B. 0. Engel-
hardt, Die Illustrationen der Terenzhandschriften. Diss. Jena 1905. S. 8 ff.
2) Terenti Comoediae ed. Umpfenbach (Berlin 1870) p. IV ff.
3) St. B eissei, Vatikanische Miniaturen (Freiburg 1893) S. 45 nennt den Cod.
Ollol). lat. 2003 als einen illustrierten PI au tus; tatsächlich ist es, wie mich Hr P.Kranz
Ehr](; gütigst belehrt, ein nicht illustrierter Properz.
Miiiiatiireii. Frühliuinanistisches Interesse für Seneca. 279
in diesen Bildern vor uns liätten; freilich muß hier gleich darauf
hingewiesen werden, daß sich urkundhche Zeugnisse für eine
solche Identifikation erst aus wesentlich späterer Zeit finden i) und
daß die sehr eigentümliche Auffassung, die das Mittelalter vom
antiken Drama und Theater hat, eine Identifikation mit dem wieder-
um ganz eigenwüchsigen mittelalterlichen Theater nicht eben
leicht macht.
Sollten diese Miniaturen also etwa nur Buchillustrationen dar-
stellen wie andere Buchillustrationen auch, ohne jeden theatralischen
Charakter auch in jenem sehr eingeschränkten Sinn ? Es kann keinem
Zweifel unterliegen, daß wir sie zunächst von diesem Standpunkt
aus anzusehen, sie einzuordnen haben in die Geschichte der
Klassikerillustration dieser Zeit. Wenn nun die historische Behand-
lung der Miniaturkunst im allgemeinen unter allen Zweigen der
mittelalterlichen und frühneuzeithchen Kunstübung am wenigsten
zum Gegenstand zusammenfassender Betrachtung gemacht zu sein
scheint, so fehlt es im besonderen ganz an einer Geschichte der Klas-
sikerillustration, in der der Bund der fortschreitenden Miniaturkunst
mit der fortschreitenden Altertumsbegeisterung in seiner Entwick-
lung dargestellt würde. Daß auf einen solchen Bund schon in den
Anfängen der Renaissancebewegung hingearbeitet wird, dafür ist
Petrarcas lebhafte und erfolgreiche Bemühung um illustrierte Hand-
schriften ein deutUcher Beweis 2). Doch erscheint unter ihnen kein
Codex mit antiken Dramen, wie man denn mit Recht hervorgehoben
hat, daß Petrarcas und ebenso Boccaccios Interesse für das Drama
des Altertums und namentlich auch für die Tragödie sich mit
seiner Neigung für andere Schriftsteller wie Vergil und Cicero nicht
vergleichen läßt 3). Wohl aber ist an andern Stellen Italiens das
Interesse besonders für Seneca geradezu brennend: man behandelt
ihn mit dem regsten Eifer zumal in der zweiten Hälfte des 14. Jahr-
hunderts an den Hochschulen, und auch an Erläuterungsschriften
fehlt es nicht, nachdem sich der auf Veranlassung eines italienischen
Kirchenfürsten um 1310 verfaßte Kommentar des englischen Domi-
nikanermönchs Nikolaus Treveth gerade in Italien weit verbreitet
hattet). Diese Senecaverehrung spiegelt sich nun in der Anfertigung
illustrierter Handschriften seiner Dramen eben gegen Ende des
1) Vgl. u. beim Straßburger Terenz.
2) Vgl. P. Nolhac, Manuscrits ä miniatures de le bibliotheque de Petrarque: Gazette
archeologique 15, S. 25 ff. Auf die Bedeutung dieser Codices hat uns Burdach wieder-
holt energisch hingewiesen: Vom Mittelalter zu Reformation (Halle 1893) S. 113 und Ab-
handhmgen der BerUner Akademie 1903, S. 12. VieUeicht darf man hoffen, daß eine der
künftigen Arbeiten Burdachs, der systematisch so viele Handschriftensammlungen auch
des Auslands für die Erörterung der großen Kultlirprobleme des internationalen Huma-
nismus durchforscht, auch die hier gestreifte Frage völlig zur Erledigung bringen wird.
3) Greiz e nach 1, 2. Aufl., S. 513 ff., 530 ff .
4) Vgl. Creizenachs treffliche Ausführungen S. 492 ff., 517 f.
280 N. Treveth und die Auffassung des antiken Theaters.
14. Jahrhunderts in Italien i); die Miniaturen solcher Codices aber^)
halten sich, soweit wir uns aus zugänglichen Reproduktionen ein
Urteil erlauben können, so völlig im Stil der sonstigen Hand-
schriftenillustrationen, daß es nicht lohnt, hier in eingehende Un-
tersuchungen über die etwa auf das Konto einer Theateranschauung
zu setzende Besonderheiten einzutreten: schon daß es sich durch-
aus um Initialenausschmückung handelt, ist bezeichnend, und von
dem Trevethschen Kommentar, der auch die Theorie des Dramas
und des Theaters berücksichtigt, scheinen sie nichts zu enthalten.
Wohl aber finden sich Trevethsche Auslegungen in dem Cod. Lat.
Urbin. 355 der Vatikanischen Bibliothek 3), der auch textkritisch
mit Treveths Lesungen zusammenhängt 4) und in einem Initialbuch-
staben Treveths Bild bringt. Hier beschränken sich die eigenthchen
Dramenillustrationen auf eine Darstellung der „Medea" in ihrem
ersten Buchstaben; der Codex enthält aber auf seinem ersten Blatt 5)
etwas was uns mehr interessiert als jene Initialausschmückung: die
von uns (Abb. 17) verkleinert^) wiedergegebene Darstellung der öffent-
lichen Vorführung der ersten Tragödie, des »Hercules furens«, so wie
die italienischen Frühhumanisten sie sich vorstellten. Man hat
schon bemerkt 7), daß diese Auffassung im engsten Zusammenhang
steht mit der Erklärung des Theaters, die Treveth in der Einleitung
zum Herculeskommentar gibt 8): Et nota, qiiod tragoediae et comoe-
diae solebant in theatro hoc modo recitari: Theatnim erat avea semi-
circularis, in cuins medio erat parva domiincnla, qiie scena dicebatiir,
in qua erat piüpitum, super quo Poeta carmina pronuntiabat. Extra
vero erant mimi, qui carminum pronunciationem gestu corporis efficie-
1) Ebenda S. 518 f.
2) Der schönste ist der Innsbriicker Cod. 87; er ist jetzt genau beschrieben durch
H. J. Hermann im 1. Bande des „Beschreibenden Verzeichnisses der illuminierten Hand-
schriften in Österreich" (Leipzig 1905) S. 146 ff., und hier sind auch die Bilder wiedergegeben :
sie rühren von Niccolo da Bologna her und scheinen seine einzige Klassikerillustration
darzustellen. Der Anfangsbuchstabe jedes Senecaischen Dramas zeigt hier zwei neben-
einander gerückte Szenen aus der betreffenden Tragödie. Das gleiche Prinzip findet sich
wenigstens teilweise in einer der beiden Senecahandschriften durchgeführt, aus der
d'Agincourt, Historie de l'art V, tab. 74 (vgl. II, S. 79 f.) Proben gibt; die eine ist
von einem Petrus theotunicus de Nurnberga 1.373 in Italien geschrieben, die andere ist
der Cod. lat. Urb. 356 der Vaticana, den Stornajolo, Codices Urbinates Latinil (Rom 1902)
S. 329 f., 575 genau beschreibt. Vgl. auch Codd. Vatt. latt. 1644, 1645, 1650.
3) Beschreibung bei Stornajolo S. 328 f., 375 f.
4) R. Peiper, Festschrift z. 250 j. Jubelfeier des Gymnasiums zu St. Maria Magda-
lena zu Breslau (Breslau 1897) S. 130 f., vgl. auch S. 159 f.
5) Stornajolos Angabe: „fol. 81 v" beruht, wie mir Herr P. Franz Ehrle gütigst
mitteilt, auf einem Druckfehler.
6) Nach einer Originalaufnahme von P. Sansaini in Rom, Via Corsi 45. Größe des
Originals: 19,3x30,2 cm.
7) Creizenach P S. 519.
8) Hier wiedergegeben nach der Lesung von Pei])er a. a. O. S, 164 f., zu der icii
Ms. Berol. lat. fol. 547 |fol. 1 b] herangezogen habe.
Darstellung des 'Hercules turens'
281
Abb. 17. Darstellung des 'Hercules f
urens' im Cod. Lat. Urbin. 355 (vgl. S. 280).
282 N. Treveth und seine Quellen.
bant, per adoptionem ad qiiemlibet, ex cuius persona poeta loquebatiir.
Unde cum hoc primiim Carmen [d. h. Hercules furens, Scaena I] lege-
batur, mimus effigiebat Junonem conquerentem et inuocantem furias
infernales ad infestandum Herculem. Über Treveths Quelle kann
man nicht im Zweifel sein: er beruft sich in vorangegangen Er-
läuterungen über das Wesen des Dramas wiederholt auf die Ety-
mologien des Isidorus, und hier finden sich im 18. Buch Cap. 42 ff.
verschiedene Stellen, die — selbst schon weit davon enfernt, die
antiken Zustände richtig darzulegen — in einer argen Um- und
Mißdeutung, wie sie sich schon das frühere Mittelalter erlaubt
hatte, auch von Treveth benutzt worden sindi). Da heißt es u. a.:
Theatrum: est quo scena includitur, semicirculi figuram
Habens, in quo stantes omnes inspiciunt. Cuius forma primum ro-
tunda erat sicut et amphitheatri; postea ex medio amphiiheatro thea-
trum factum est. Theatrum autem ab spectaculo nominatum, quod in
eo populus stans desuper atque spectans ludos contemplaretur. . .
Scena autem erat locus infra theatrum in modum domus instructa
cum pulpito, qui pulpitus orchestra vocabatur ; ubi cantabant comici,
tragici, atque saltabant histriones et mimi. . Ibi poetae comoedi et tra-
goedi ad certamen conscendebant, hisque canentibus alii gestus ede-
bant^). . . Die sonderbare Umwandlung aber, die bei Treveth mit der
scena dieser Definition, mit domus und pulpitus vor sich gegangen ist:
die Umformung in ein auf dem Theater stehendes Häuschen, in dem
ein Pult für den vorlesenden Poeten aufgestellt ist, geht wohl auf
eine Kombination zurück, die Treveth oder ein älterer Autor, den
Treveth benutzte, mit mehreren Sätzen des aus dem 11. Jahrhun-
dert stammenden, im ganzen ausgehenden Mittelalter viel ge-
brauchten >'Vocabularium« des Papias vorgenommen hat; hier heißt
es3): Scena umbraculum, ubi poetae recitabant (also ohne Beschränkung
auf die dramatischen Dichter). . . Scena est camera, quae obumbrat
locum in theatro. . Scena domus in theatro est structa cum pulpito.
Jene Worte des Isidorus aber oder mittelalterliche Auseinander-
setzungen, die mit ihnen zusammenhingen, muß — mindestens
neben jener Erklärung des Treveth — der unbekannte Gelehrte im
Sinn gehabt haben, der dem ebenso unbekannten Miniator^) unseres
Theaterbildes die orientierende Skizze entworfen hat : nur hier und
nicht bei Treveth ist der populus [exjspectans erwähnt, nur hier
steht das Wort amphitheatrum — dieses Wort hat offenbar jener
1) Auf den Ziisanimenhanf^ mit Isidorus weist C reizen ach hin: 1-, S. 496.
2) Tatsächlich kommt es auf dem römischen Theater vor, daß der actor nur gestikuliert,
während ein anderer singt, aber nur bei den Monodieen, bei denen des Schauspielers
Stimme nicht zureichte.
3) Ich benutze eine Ausgabe Venedig 1485.
4) Stornajolo S. 329 hält es für möglich, daß es sich um einen Franzosen handelt.
Ich habe darüber kein Urteil und möchte nur darauf liinweisen, dat.5 ich in französischen
Handschriftenkalalogen keinen illustrierten Senecacodex zu finden vermochte.
Die Senecaminiatur Französische Terenzilluslration. 283
skizzierende Gelehrte an den Rand des Halbkreises geschrieben,
der Künstler aber hat es nicht verstanden, es für den Namen einer
der gestikulierenden Personen gehalten und so einen ap/üi'co zwischen
Hercules und Theseus gestellt, dem in Senecas Tragödie auch nicht
die leiseste Beziehung entspricht. Die ganze Auffassung aber ver-
bildlicht in sehr charakteristischer Weise die wiederholt i) erörterte
Verständnislosigkeit des Mittelalters gegenüber der dramatischen
Poesie des Altertums, die völlige Niederreißung der Grenzpfähle,
die sie von der Epik trennen: in der hier vorgeführten Art kann
schließlich auch jede erzählende Dichtung vorgetragen werden.
Wieweit diese epische Auffassung geht, zeigt besonders deutlich
der Umstand, daß hier außer den wirklich redenden Personen auch
die fiirie infernales'^) abgebildet werden, die doch nirgends auftreten,
sondern nur in Junos Monolog genannt sind: Juno weist abwärts
auf sie, so wie sie mit der andern Hand aufwärts auf den eben-
falls ganz in epischem Sinne angedeuteten Sternenhimmel zeigt 3).
Ob und in welcher Art ein allgemeiner Zusammenhang zwischen
der italienischen Klassikerillustration des ausgehenden 14. und der
französischen des beginnenden 15. besteht, kann hier nicht erörtert
werden, und auch ein direkter Zusammenhang zwischen der ita-
lienischen Seneca- und der französischen Ter enz illustrierung im be-
sonderen wird hier nicht behauptet. Wohl aber wird man hervor-
heben dürfen, daß Terenz in Frankreich die Bewegung einleitet,
die dann so viele wundervolle Leistungen hervorgebracht hat und
die ihren Ursprung sicher in Kreisen hatte, die zu den Bibliophilen
am französischen Hofe in engsten Beziehungen standen. Während
die illustrierte Liviushandschrift erst 1413, die ebenfalls mit Bildern
verzierte Handschrift der Metamorphosenübersetzung Ph. de Vitrys
erst 1416 sich nachweisen läßt, hat die eine große Terenzhand-
schrift bestimmt schon im Januar 1408 existiert^). Für die der
Terenzillustination besonders nahestehende Handschrift der Bucolica
und Georgica*^) haben wir kein Datum, schwerlich aber werden
die 14 Miniaturen dieses Codex die Anregung für die 132 der
Terenzhandschriften geboten haben, das Umgekehrte ist durchaus
wahrscheinlich, und vor allem: die große Neuerung ist der Über-
gang von der Initialillumination zur Situationsillustrierung, und für
1) Besonders durch Cloetta, Komödie und Tragödie im Mittelalter (Halle 1890
S. 14ff. u. Creizenach 1- S. 9ff.
2) Der Ausdruck wieder bei Treveth a. a. 0.
3) Dieser Sternenhimmel findet sich auch in dem zum »Herculus furens« gehörigen
Initialbuchstaben des oben S. 280, Anm 2 erwähnten Innsbrucker Codex.
4) Vgl. Delisle, Le Cabinet des manuscrits de la bibliotheque nationale 3 (Paris
1881), S. 191.
5) Cod. 307 der Bibliothek des Lord Leicester zu Holkham Hall, Norfolk, vgl. Dorez,
Les manuscrits ä peintures de la Bibliotheque de Lord Leicester (Paris 1907), S. 81 f. u.
Tafel 40/1.
284 Das 'Theatruni Ronianuni' im französischen Terenz.
sie haben wir beim Vergil gar keine, beim Terenz dagegen die ein-
leuchtendste Erklärung. Die Anregung hat jedenfalls beim Terenz
jene Illustration der früheren Jahrhunderte gegeben, die sicherlich
als antik galt und gerade in Frankreich durch besonders viele
alte Manuskripte vertreten war, so durch den jetzigen Cod. 7899
der Pariser Nationalbibliothek, der damals der Abtei von St. Denis
gehörte i). In den Einzelheiten der Szenenillustrationen findet sich
zwar keine schlagende Übereinstimmung 2); wohl aber ist die Ge-
samtanlage merkwürdig gleich : im allgemeinen zu jeder Szene ein
Bild und vor dem Ganzen eine Doppeldarstellung, die zwar nicht
völlig identisch ist, aber doch beidemale ein Bild der Persönlich-
keit des Dichters und eine Theatereinrichtung bietet.
Das hierbei (Abb. 18) unter Fortlassung der an sich reizvollen Um-
rahmung wiedergegebene Titelbild 3) aus der französischen Terenz-
handschrift^) bietet in seinem unteren Teil links eine uns kaum
interessierende Darstellung aus Terenzens Leben: der Dichter, der
der Freigelassene des Terentius Lucanus ist, überreicht seinem Schutz-
patron ein Exemplar seiner Komödien. Darüber und auf der rechten
Seite sehen wir wohl Römer, die durch die Straßen der Stadt zum
Theater gehen oder eben in dessen Türen eintreten. Die obere
Hälfte aber zeigt die Theateraufführung selbst, deren Gesamtauf-
fassung lebhaft an die Darstellung der Senecahandschrift erinnert,
ohne daß es nötig ist, einen unmittelbaren Zusammenhang anzu-
nehmen. Vor allem sitzt auch hier in der Mitte des Ganzen und
wiederum in einem scena genannten besonderen Häuschen der
poeta oder richtiger diesmal der berühmte Calliopius als sein Ver-
treter 5) und liest das Drama dem Publikum vor, und andere Ge-
1) Neuerdings herausgegeben: Bibliotheque nationale. Departements des manuscrits.
Comedies de Terence (Paris o. J. = 1907).
2) Auffallend ist vielleicht, daß beidemale die große Szene Andria, II 3 (Pamphilus-
Davus) ganz ohne Bild geblieben ist und daß III, 1 die nicht auftretende Glycerium hier
wie dort mit dargestellt ist (in dem modernen Terenz freilich auch in einigen andern
Szenen).
3) Nach einer eigenen Aufnahme des Ateliers St. Thomas d'Aquino, Paris,
45 rue Jacob. Originalgröße.
4) Es handelt sich eigentlich um mindestens zwei Codices, die den ältesten neu-
französischen Typus verkörpern : den Cod. lat. 7907A der Nationalbibliothek und den Cod.
Lat. 664 der Arsenalbibliothek. Eine genaue Untersuchung ihres Verhältnisses und der
Beziehungen zu den jüngeren Terenzhandschriften kann nur in Paris vorgenommen werden;
ich hatte dazu keine Möglichkeit, und die zu erwartenden Ergebnisse wären für unsere
Zwecke auch ohne große Wichtigkeit. So begnüge icii mich mit der Behandlung der be-
rühmten Arsenalhandschrilt , deren Miniaturen neuerdings mit einer sehr eingehenden
Einleitung vollständig veröffentlicht sind: Le Terence des Ducs par H.Martin (Paris
1907); dort aucii p. 18—20, 38, 9, 54 Behandlung der andern Handschriften. Eine —
minderwertige — Wiedergabe des Titelbilds im Codex der Nationalbibliothek bietet das
Magasin pittoresque 1842, S. 169; sie reicht aus, um erkennen zu lassen, daß die beiden
Titelbilder, ohne identisch zu sein, in allem für uns Wesentlichen übereinstimmen.
5) Vgl. o. S. 257 f.
Das 'Tlieatniiii [{oiiiaiuim' im fianzösisclien Terenz.
285
stalten gestikulieren dazu. Anderseits fallen auch die Unter-
schiede ins Auge. Hier ist nicht der eigenthche Schauplatz ein
Halbkreis, an dessen Außenseite völlig abgesondert einige Zuschauer
sitzen, sondern das ganze Theater ist ein ovaler Bau, dessen
Abb. 18. Tlieatnim Komamim im Cod. Lat. Ars. ö64 (vgl S. 284 it.).
größter Teil innen von dem zuschauenden populus Romanus einge-
nommen ist. Dieses hat wie das mittelalterliche Publikum bei
einer Fastnachtspielaufführung die sämtlichen Mitwirkenden ohne
trennende Schranken in seiner Mitte. Zu diesen Mitwirkenden ge-
hören hier auch zwei Musikanten zur Linken der scena, und aus
ihr stürmt rechts eine eigentümliche gestikulierende Gestalt hervor.
Endhch sind die mimischen Künstler keine bestimmten Personen
286 Das 'Theatruin Romanum" im französischen Terenz.
aus einem terenzischen Drama, sondern vier seltsame, verlarvte,
vermummte Gestalten, iociilatores, die noch mehr zu tanzen als zu
gestikulieren scheinen. Fragen wir nach der theoretischen Grund-
lage dieser Darstellung, so haben wir uns zunächst an die dem
illustrierten Codex vorangehende „Vita Terentii" zu halten '^), die offen-
bar die von dem französischen Frühhumanismus des 14. und be-
ginnenden 15, Jahrhunderts vertretenen Anschauungen über das
Wesen des terenzischen Lustspiels vorträgt. Der völlige Mangel
an einem Verständnis für das Wesen des antiken Theaters, den
wir bei Treveth und den ihm folgenden Senecaphilologen Italiens
gefunden haben und der uns in gleicher Weise bei den eigent-
lichen Leuchten des italienischen Frühhumanismus, auch bei Petrarca
und Boccaccio begegnet^), ist auch hier zu spüren: die Komödie
w ird von einem Mann, von dem ominösen Calliopius vorgetragen.
Unmittelbare Angaben über den antiken Theaterbau aber bietet
die Abhandlung nicht; der den Miniator beratende Gelehrte muß
sich also noch aus andern Quellen unterrichtet habend). Zunächst
jedenfalls aus den oben (S. 282) zitierten Auseinandersetzungen des
Isidorus, aus denen er inbezug auf die Grundform des Theaters
im Gegensatz zu dem Senecaillustrator die Worte gewählt hat:
Ciiiiis forma primiim rotiinda erat; aus Isidorus stammen zweifellos
auch die beiden Musikanten neben der Scena: Et dicti thymelici,
qiiod olim in orchestra stantes cantabant super piilpitiim, qiiod thy-
mele vocabatiir, — allerdings hat der Künstler sie nur mit organis,
Blaseinstrumenten, und nicht auch mit lyris et citharis ausgestattet.
Daneben muß der unbekannte Gelehrte den früher (S. 208 f.) zitierten
Senecakommentar des Treveth oder dessen mittelalterliche Quelle
gekannt haben; denn erst hier war, wie wir sahen, der pulpitiis
des Isidor, der die Orchestra bedeutet, auf der die comici und tragici
singen und die histriones et mimi tanzen, zu einem Katheder für
den vorlesenden Dichter gemacht und in das kleine Haus auf dem
Theater hineingestellt, zu dem die scena des Isidor — locus infra
theatrum, in modum domus instructa — geworden ist. Endlich aber hat
1) Martins sonst so eingehende Einleitung zu seiner großen Ausgabe erwähnt
diese Vita niclit, wohl aber sein gedruckter Katalog der Handschriften der Arsenalbiblio-
thek Bd. 2 (Paris 1886) S. 1 : fol. 2 Brevis descriptio vite Terencii poete comici, et pre-
ambulus sermo scolastici cujusdam explanantis fabiilas sex comediarum ejusdem. Inc.:
Quamvis Terencii probatissinium opus satis illiim commendet. Der so anhebende Terenz-
essay aber ist gedruckt von J. Abel: Azo-es közepkori Terentiusbiograhiäk (Budapest
1887) S. 40ff. und zwar nach dem Cod. 7907 A, dem andern jene Miniaturen enthaltenden
Pariser Codex, der somit den Essay ebenfalls hat. Er ist dort bei Abel schon in einer
Pariser Hs. des 14. Jh. belegt.
2) Vgl. o. S. 279.
3) Wie er dann aucii über (Um unten auf dem Titelbild dargestellten Lucanus in
der hier behandelten Biographie nichts fand; von ihm wußte er vielleicht aus Petrarcas
Terenzbiographie (Abel S. 49).
Das 'Theatrum Romanuin" im französischen Terenz. 287
sich jener Gelehrte offenbar noch an einer dritten Stelle unterrichtet:
in dem aus dem Ende des 12. Jahrlmnderts stammenden, aber noch
im 15. handschrifthch verbreiteten 'Liber derivationum' des Hugutius,
in dem von der scena, die hier wie bei Papias mit ov.fivog, Schatten
zusammengebracht ist, folgende Erklärung gegeben wirdi): ...est
umbraciilam sive locus obumbratus in theatro et cortinis coopertiis
similis tabernaciilis mercennariorum, quae sunt asseribus vel cortinis
opertae, et secundum hoc scena potest dici a scenos, quod est domus,
quae in moduni donius erat constructa. In umbraculo latebant perso-
nae larvatae, quae ad vocem recitatoris exigebantur ad gestus facien-
dos. In engster Verwandschaft mit dieser Darlegung des Hugutius steht
auch die einzige theatertechnische Erklärung, die jene dem Codex
beigegebene „Vita Terentii" enthält2). Die beiden ganz verschiedenen
scenae aber: das kleine Haus des Treveth, in dem der Vorleser
des Stückes am Pult sitzt, und das aus Balken gebaute, mit Vor-
hängen versehene Haus des Hugutius, aus dem die stummen Per-
sonen kommen, um die Gesten zu jener Vorlesung zu machen, hat
unser Terenzerklärer bei der Information seines Miniators zu einem
Gebilde verschmolzen, und auf solche Art ist jene seltsame Dar-
stellung auf unserm Bilde entstanden: das von Balken gebildete
Häuschen, scena genannt, in dem vorn Calliopius lesend am Pult
sitzt, während rechts aus dem die Seite des Häuschens verhüllen-
den Vorhang eine Gestalt heraustanzt, offenbar bestimmt, die vier
andern abzulösen, die augenblicklich vorn gestikulieren und springen.
Scena est portio actus multarum aut solius personarum solitariam
vel alternam ostendens prolocutionem cum gestibus — dieser neben
dem oben herangezogenen Passus der ,,Vita Terentii" stehende Satz
wird auf solche Art illustriert.
Wenn aber trotzdem oben nicht nur diese Vita neben Isidorus
und Treveth für die Quelle des Pariser Terenzphilologen angesehen,
sondern auch auf Hugutius verwiesen wurde, so geschah das vor
allem auch im Hinblick auf die eben erwähnten tanzenden Gestal-
ten. Joculatores heißen sie in der Unterschrift unseres Bildes
— dieser Ausdruck für histriones und niimi aber findet sich
lediglich im „Liber derivationum" und den von ihm abhängigen
Nachschlagewerken: mimus ioculator et proprie reruni humanaruni
imitator, sicutolim erant in recitatione comediarum, quia quod verbo
1) Icli benutze das Werk in dem Berliner Ms. lat. 511 [fol 213j, das aus dem
14. Jh. stammt. Jener Terenzphilolog kann statt des Hugutius ülirigens aucli den Johannes
de Janua vor sich gehabt haben, dessen 'Catholicon' den 'Liber derivationum' ungeniert
ausschreibt, so wie noch im letzten Viertel des 15. Jh. die Weisheit des unter Reuchlins
Namen gehenden "Vocabularius breviloquus' aus der gleichen Quelle stammt.
2) . . scena vere dicatur iimbracuhim Habens cortinam protensam a quo emithintur
personae quae luquuntur \^cum gestibusJi vocem recitatoris imitantes . . Abel,
S. 43, ZI. 18 ff.
288
Das 'Theatrum Roinanum' im franzüsischeii Terenz.
recitator dicebat mimi motu corporis exprimebanü). Diese ioculatores
sind hier mit Masken versehen; man hat die Wahl, diese Masken
entweder auf einen Zusammenhang mit den frühmittelalterlichen
Terenzillustrationen zurückzuführen, auf denen die Personen ja
Masken tragen, oder auf den Ausdruck personae larvafae, den Hugu-
Abb 19. Terentius, Andria 1, ö im Cod. Ars. ß()4, links v. 240 ff., rechts v. 2fi7ft. (vgl. S. 290).
tius braucht, oder endlich darauf, daß die populären ioculatores,
die „Jongleurs" tatsächlich im Mittelalter gern maskiert auftraten'^).
Dafür daß die zuletzt angedeutete Vorstellung wenigstens mit
hineinspielt, spricht wohl die phantastische Vermummung der Ge-
il In entschiedenem Ansciiluü an Papias, bei dem sich aber der entscheidende Ans-
dfuck ioculator nicht findet.
2) Vgl. H. Reich, Der Mimus 1 (Berlin 1903), S. 807 ff. — Über die a/We .s/)e/en s.u.
Die Szent'iil)il(ier im fiaiizösi.scheii Terenz.
289
stalten, auf die der Zeichner gewiß nur durch den Gedanken an
die Verkleidungen der Jongleurs geführt wurde.
Hat dieses Titelbild somit ein gewisses theatergeschichtliches
Interesse, weil es uns .vielleicht die mittelalterlichen ioculatores
zeigt, die immerhin in einem wenn auch losen Zusammenhang mit
dem Theater stehen, und weil es uns die Vorstellung deutlich
macht, die ein Altertumsforscher im Beginn des 15. Jahrhunderts
von einer antiken Aufführung hatte, so geben die nun folgenden
Abb. 20. Terentius, Eunuchus II, 2 im Cod. Ars. 664, links v. 270ff., rechts v.283.
132 Einzelminiaturen, so stark ihr künstlerischer Reiz ist, für unsere
Zw^ecke gar nichts her, sondern sind in genau der gleichen Weise
lediglich Buchillustrationen wie die Initialminiaturen der Seneca-
handschriften. Daß sie keinen Versuch darstellen, die einzelnen
Szenen der terenzischen Komödien gemäß der damaligen Anschau-
ung vom Wesen der antiken Bühne zu rekonstruieren, muß jedem,
der das soeben in solchem Sinne kommentierte Titelbild auch nur
mit den beiden von uns hier gebrachten Proben i^Abb.lO — 20) aus der
Reihe der Szenenbilder vergleicht i), ohne weiteres klar sein: hier ist
1) Zu Andria 1,5 und Eunuchus 11,3. Ebenfalls nach eigenen Aufnahmen des Ateliers
St. Thomas d'Aquin in Paris. Originalgröße.
H e r r m a n u . Theater. 19
290 D'^ Szenenbilder im französischen Terenz.
keine Spur von jenen tanzenden Gauklern, die dort das vorgelesene
Wort zu ergänzen haben. Von wirklichen, wenn auch unantik gehalte-
nen Terenzaufführungen aber ist im beginnenden 15. Jahrhundert
noch keine Rede, auf dadurch hervorgerufene Eindrücke können
die Szenenbilder ebensowenig zurückgehen. Es bleibt die Möghch-
keit einer Beeinflussung durch die Mysterienaufführungen des da-
maligen Frankreich, einer Übertragung der mittelalterlichen Theater-
verhältnisse auf die terenzischen Szenen, und in solchem Sinne hat
man i) tatsächlich unsere Bilder als Material für die Theatergeschichte
in Anspruch nehmen wollen, unbekümmert darum, daß gerade in
einer Sphäre, in der man die Vorstellung vom antiken Theater bis
zu bildlicher Anschauung gesteigert hat, die Kombination der antiken
und der mittelalterlichen Bühne beinahe unmöglich ist. Die dafür an-
geführten Gründe aber halten dem leichtesten Gegenstoß nicht stand:
daß die mimische Haltung der Personen nicht sowohl, auf Beobach-
tung des wirklichen Lebens als auf Abbildung von schauspielerischer
Art sich gründe, ist eine rein impressionistische Behauptung, die
nur auf eine unbefangene, aber unhaltbare Identifikation mittel-
alterlicher und moderner Schauspielkunst zurückzuführen ist; die
unrealistischen Häuser sind so ganz Gemeingut aller Miniaturen
dieser Zeit, daß man auch ein paar gelegentliche Besonderheiten,
wie man sie wohl an Einzelheiten der Terenzcodices beobachten
mag, lieber auf jede andere Weise als durch den Gedanken an
eine Nachbildung mittelalterlicher Theatereinrichtung erklären
soll 2). Umgekehrt ist es vielmehr deutlich, daß hier eine theatra-
lische Auffassung gar nicht vorliegen kann. Der ständige Wechsel
des Ortes der Handlung von Szene zu Szene ist der epischen
lilustrationsart durchaus gemäß, der mittelalterhchen Bühne aber
ganz und gar nicht : auf ihr schreiten die Personen doch nur dann
an eine andere Stelle des Schauplatzes, wenn die Hergänge es ver-
langen, während hier die Darstellung einer neuen Lokalität Selbst-
zweck ist. Warum spielt die Szene Andria I, 5 zwischen Pamphilus
und Mysis (vgl. Abb. 19) plötzlich draußen auf dem Lande in einer
Hügellandschaft, die gewiß kein mittelalterlicher Regisseur bauen
oder auch nur benutzen würde, während das vorhergehende Bild den
Pamphilus unmittelbar an dem Hause zeigt, aus dem Mysis eben
1) H. Martin a. a. 0 S. 42/4
2) Martin, dem ausgezeichneten Miniaturenkenner, ist diese Üliereinstimmun": der
Terenzhäüser mit den Häusern auf Miniaturen, die ganz andere Dinge darstellen, natürlich
eine Binsenwahrheit. Trotzdem suggeriert er sich die Möglichkeit „de songer ä de veri-
tables decors de theatre". Was er in dieser Beziehung zu Bild 57 seiner schönen Aus-
gabe sagt, ist mir offen gesagt nicht verständlich; aber auch die ilun wohl cutscheidende
Beobachtung zu Bild 120 hält nicht Stich: wir brauchen uns nur zu denken, daß rechts
von der Sostrata das Zinuner, in dem sie sich befindet, sich noch fortsetzt, durch eine
schräge Wand von dcni '/immer der FraiuMi getrennt, und alles ist in Ordnung.
Terenzminiaturen des späteren 15. .Jalirliiirulerls.
291
herauskommt?!) Gegen irgendeinen theatralischen Sinn dieser
Miniaturen spricht ferner der Umstand, daß auf nicht wenigen von
ihnen Dinge mitdargestellt werden, die bei Terenz nicht vorgeführt,
sondern nur erzählt werden. Und vor allem: entscheidend ist jene
offenbar vorhandene-) völlige Übereinstimmung mit der Darstellungs-
manier in dem Vergilcodex des Lord Leicester — der deutlichste
Beweis dafür, daß auch bei Terenz keine besondere Berücksichti-
gung des Theaters erfolgen, sondern nur die damals übhche Bücher-
illustration geboten werden sollte.
Die Tätigkeit der französischen Miniatoren für den Terenz ist
mit der Ausstattung der beiden großen Codices und ihren unmittel-
baren Nachbildungen 3) nicht erschöpft, und auch in Italien tauchen
im 15. Jahrhundert illustrierte Terenz-
handschriften auf^). Schließlich finden
sich um die Mitte des Jahrhunderts fran-
zösische Codices, in denen wie in den
Senecahandschriften des 14. Jahrhunderts
jedes Drama nur mit einer einzigen Illu-
stration ausgestattet isfä). Es handelt
sich nicht mehr wie dort um Initialen-
ausschmückung, aber von irgendwelchem
theatralischen Element ist, wie das zum
„Eunuchus" (I, 1) in der kleinen Hand-
schrift 1135 der Pariser Arsenalbibliothek
gehörige Bild (Abb. 21) zeigen mag^), auch
hier in keiner Weise die Rede, Und keine
Brücke führt, so scheint es, von diesen Aus-
läufern der Handschriftentradition zu der
nun einsetzenden Bücherillustration hin").
Abb. 21. Terentius, Eunuchus I, 1
im Cod. Ars. 1135.
1) Martin S. 44 nimmt gerade diesen Wechsel als eine Übereinstimmung mit dem
mittelalterlichen Theater an.
2) Ich muß mich für diese Erklärung allerdings mit den von -Dorez gebotenen
Reproduktionen begnügen. Eine genaue Vergleichung mit der Darstellungsart in andern,
nichtdramatischen Codices, die aus der gleichen Schule stammen wie die Terenzhand-
schrift, wäre im übrigen nur in Frankreich durchzuführen.
3) Codd. lat 7907 und 8193 der Pariser Nationalbibliothek. Über sie Martin
S. 19 f. Dazu vielleicht auch noch Cod. nouv. acq. lat. 458 v. J. 1438.
4; Ich notiere nach Katalogen: Cod. 10 der Bibliotheca Florio in Udine (1463 in
Ferrara geschrieben, Initialen) und Cod. 151 in Vicenza. Auch Handschriften der Pariser
Nationalbibliothek sind nach Martin S. 19 italienischen Ursprungs.
5) Zu ihnen gehört wohl auch der Cod. Escor, d. IV 4 in Madrid.
6) Wiederum nach einer .\nfnahme durch das Atelier St. Thomas d'Aquin in Paris.
Originalgröße.
7) Ob etwa ein Zusammenhang zwischen den Terenzminiaturen und den Miniaturen
in den Handschriften geistlicher Spiele Frankreichs besteht (z. B. Ms. frauQ. 7206 u. 7208
der Nationalbibliothek, 6431 der Arsenalbibliothek), ist eine Frage, die erst im Zusammen-
hang mit der dringend notwendigen kritischen Untersuchung der letztgenannten lllustia-
19*
292 Der Ulmer 'Eunuchus".
Der Ulmer 'Eiuiuchus'.
Das erste Einsetzen erfolgt in einer sehr versteckten Ecke:
in Ulm, und es ist die Übersetzung einer Terenzischen Komödie,
die zuerst mit Illustrationen geschmückt ist. Hans Nithart, ein
hoher Beamter des Ulmer Gemeinwesens, ein gelehrter Freund und
Kenner antiker und humanistischer Schriftsteller und ein guter
Stilist, hat, von ähnlichen Tendenzen ausgehend wie Albrecht von
Eyb, ohne die Höhe seiner populären Sprachkunst ganz zu erreichen,
sich an die Verdeutschung von Klassikern gewagt. Das einzige
Werk der Art, das auf uns gekommen ist, ist der „Eunuchus" des
Terenz. Der Ulmer Drucker C. Dinckmut hat ihn 1486 unter die
Presse gehen lassen mit den Illustrationen, auf die es hier ankommt i).
Der Gesamtcharakter dieser Ulmer Terenzillustrationen ist zu-
nächst nicht derart, daß man ohne weiteres an eine Nachahmung
der alten Terenzbilder aus dem 9. bis 11. Jahrhundert denken
möchte. In den Bewegungen, in den Kostümen, in der Darstellung
der Lokalität die größten Unterschiede, vom künstlerischen Gesamt-
stil gar nicht zu reden. Und trotzdem scheint mir manches dafür
zu sprechen, daß ein Zusammenhang vorliegt. Zunächst entspricht
das ganze Bestreben, das wir so voraussetzen: das Bestreben, bei
der Herstellung neuer Holzschnitte eine Anknüpfung an alte Hand-
schriftenillustrationen zu suchen, durchaus der Praxis, die wir
anderweitig für den gleichen Künstler, der in Dinckmuts Auftrag
die Terenzbilder hergestellt hat, nachzuweisen vermögen: bei der
Anfertigung der Zeichnungen zu der alten Fabelchronik von Thomas
Lirer, die im Januar des gleichen Jahres 1486 die Presse verließ,
hat er sich an handschriftliche Zeichnungen gehalten, wie sie z. B.
in dem Münchener Cod. Germ. 436 vertreten sein mögen. Es stimmt
ferner die Gesamtanlage der Illustrationen hier und in den alten
tionen behandelt werden kann. Ich glaube kaum an das Vorhandensein eines Zusammen-
hangs, wenigstens nicht für die Hss. des 15. .Jh., und keinesfalls haben etwa die Bilder
zu den neueren Spielen die Anregung für die Terenzillustrationen geboten.
1) Hain N. 1.5 436. Exemplare z. B. Göttingen, Universitätsbibiothek ; Berlin, Kgl.
Kupferstichkabinett, — nach dem letztgenannten, schön erhaltenen Exemplar sind mit
freundlicher Genehmigung der Direktion unsere Abbildungen gefertigt. Die Originalgröße
der Holzschnitte beträgt durchschnittlich 18,8x12,2 cm; Abb. 22 entspricht ihr einiger-
maßen, bei den übrigen (23—30) ist die Seitenlänge auf die Hälfte verkleinert.
Über die litterarische Seite dieser Übersetzung vgl. H. Wunderlich, Forschungen zur
neueren Litteraturgeschichte, Michael Bernays gewidmet, S 201 ff., von den Illustrationen
spricht er nicht; s. auch MGDESchG. 3, S. 1 ff. u. Hartmann (vgl. o. S. 257, Anm. 2), passim
Erwägenswert wäre es, ob nicht der Cod. Lat. Mon. 21302 mit N.s Übertragung zusammen-
hängt. Er stammt, wie der Katalog angibt, aus dem 15. Jh. und aus Ulm und enthält
'Terentii comoediae cum interpretationibus scolasticis, partim germanicis dialecti suebici'.
Verschiedene von den Ulmer Handschriften der Münchener Bililiothek haben im Anfang
des 15. .lahrhunderts einem Vorfahren des Hans Nithart: Heinricii Nithart gehört; vgl.
über die N.sche Hililiolhek Felix Fal)ri, De Civitate Uimensi ed. Veesenmever S. 95.
Der Ulnicr TümiHluis'
293
Abb. 22. Uhner "Eunuchus' IV, 4 (v. (ifiü ff.)
294 Zusammenhang des Ulmer 'Eunuchus' mit den alten Miniaturen.
Handschriften insofern überein, als für jede Szene ein besonderes
Bild gegeben wird. Ferner ist, keineswegs immer, aber doch
manchmal, die Anordnung der Personen hier und dort die gleiche,
und das fällt namentlich bei einer der figurenreichsten Szenen, bei
Eunuchus 111,2 auf, wo wir fast völlige Übereinstimmung finden.
Sehr bemerklich macht sich ferner in den Ulmer Illustrationen das
Prinzip: wenn in den letzten Worten einer Szene auf das Heran-
nahen einer neuen Person hingewiesen wird, diese Person mit auf
das Bild zu bringen , während im übrigen keineswegs immer der
letzte Augenblick der Szene von dem Künstler festgehalten wird.
Das ist nun zwar in den alten Illustrationen bei weitem nicht
überall der Fall, aber sehr auffallend tritt es doch') in der Szene
111,4 hervor, in der es sich nur um einen Monolog des Antipho
handelt , wo aber die Illustration in beiden Fällen doch auch schon
den in Antiphos letzten Worten angekündigten Chaerea eben aus
der Tür treten läßt. Man könnte natürlich zunächst auch denken,
daß nicht die alten Terenzbilder, sondern die Miniaturen der fran-
zösischen Codices des 15. Jahrhunderts dem Ulmer Künstler vor
die Augen gekommen seien, und tatsächlich stimmt auch hier
manches merkwürdig überein: der Rosenkranz der Dorias z. B. auf
dem Bilde zu IV,1, und das Erscheinen von Chremes und Thais
oben am Fenster bei IV,7^); im Ganzen aber überwiegt doch die
Verwandtschaft mit den älteren Illustrationen, und bemerkenswert
ist es auch, daß die bei den Pariser Miniaturen beliebte Vereinigung
von zwei Momenten einer Szene auf einem Bilde (vgl. o. Abb. 19
u. 20, S. 288 f.) bei dem Ulmer Meister nicht zu finden ist.
Eine weitere Frage ist die: lag etwa im Jahre 1486 eine be-
sondere äußere Veranlassung vor, sich, unter Anlehnung an alte
Handschriftenbilder, an eine illustrierte Terenzausgabe zu wagen?
H. Wunderlich hat aus sprachlichen Gründen die Entstehung der
Übersetzung schon in die 70 er Jahre des 15. Jahrhunderts ver-
legt. Wieso tritt sie jetzt hervor und wieso wird bei ihrer Ver-
öffentlichung zugleich auch dem Auge eine Anregung geboten?
Das Jahr 1486 ist für die Theatergeschichte ein Jahr allerersten
Ranges: das Jahr, in dem das antike Drama zu einer nun nicht
mehr abbrechenden Reihe von Aufführungen belebt, das Jahr, in
dem dadurch der Grundstein zu dem modernen Theater überhaupt
gelegt wurde. Zwar haben schon wenige Jahre vorher, vielleicht
im Jahre 1484, in Rom Aufführungen antiker Dramatiker statt-
1) Die Nachbildungen, die die alten Zeichnungen bisher erfahren haben, stellt
Engelhardt zusammen: a. a. (). S. 94ft. ; seitdem ist noch eine ausgezeichnete Wieder-
gabe der Pariser Handschrift dazugekommen: s. o. S. 284, Anm. 1.
2) Auffallen mag auch die Ähnlichkeit zwischen dem Holzschnitt zu 1, 1 (Abb. 28)
undderEunuchusminiatiu' aus dem jüngeren Terenzkodex (Abb. 21, S. 291): mit der in der
Ferne erscheinenden Thais.
Zusammenhang des Ulmer Eiinuchus' mit gleichzeitijjen Terenzauffülirungen.
295
gefunden. Leider sind wir
über ihre Art im besondern
nur recht dürftig unterrich-
tet; wir wissen, dal.i der
große Philolog Pomponius
Laetus mit seinen Schülern
sie veranstaltete, und in
einem Widmungsbriefe, den
SulpiciusVerulanus, der Her-
ausgeber der ersten, im Jahre
1486 zu Rom erschienenen
Ausgabe des Vitruv an den
Cardinal Raphael Riarius
richtete und jenem Drucke
beigab, heißt es: Tu etiam
primiis picturatae scenae fa-
dem,quom Pomponianae co-
moediam agerent, nostro sae-
culo ostendisti. Es muß sich
also um Aufführungen mit
einer gemalten Dekoration
gehandelt haben. Viel be-
deutsamer aber sind die Dar-
stellungen antiker Komödien,
die der größte Festefeierer
Italiens, der Fürst Ercole
d'Este seit dem Jahre 1486
in seiner Residenz Ferrara
veranstaltete, freilich mehr
den Zwischenspielen und
dem Prunk zu Liebe, den
er in ihnen entfalten konnte,
als um das echte antike
Drama wieder lebendig wer-
den zu lassen 1). Immerhin
aber war zum Beispiel die
Leuchte der damaligen Fer-
rareser Universität, der jün-
gere Guarino als Übersetzer
1) Vgl. über diese Aufführungen
besonders Flechsig, Die Dekoration
der modernen Bühne in Italien, Leip-
zig, Diss. phil, 1894, S. lOff. und
Creizenach, Geschichte des neu-
eren Dramas 2 (Halle 1901), S. 217 ff.,
auch 1- (19111, S. 572 Anm. 2.
Ahi>. 23. Ulmer „Eunuchus" I, 1.
Abb 24. Ulmer „Eunuchus" 11,2 [y. 270 ff.
296 Zusammenhang des Ulmer "Eunuchus" mit gleichzeitigen Terenzautführungen.
Abb. 25. Uhner „Eunuchus" II, 3 (v. 293 ff.j.
Abb. 2(i. Uhner „Kuiuuluis" 111, 1 (v. 398 ff.
an diesen Aufführungen be-
teiligt, und so wird man sie
auch niclit völhg in un-
antikem, mittelalterlichem
Geiste gehalten haben. Von
der Notwendigkeit, die Hand-
lung vor den Häusern der
meistbeteiligten Personen
von statten gehen zu lassen,
hatte man sich offenbar über-
zeugt, und so wissen wir denn
z. B., daß in der am 25. Januar
1486 erfolgten allerersten
Aufführung dieser Art, einer
Vorstellung der plautinischen
Menaechmen, fünf Häuser,
jedes mit Zinnen gekrönt
und mit Tür und Fenster
versehen dargestellt wurden.
Anderseits aber hat schon
die ältere Forschung mit
Recht hervorgehoben, daß
aus den Versen, mit denen
der eben erwähnte Guarino
den Schauplatz beschreibt:
Vidimus effictam celsis
cum moenibus iirbem
Stnictaque per latas tecta
superba vias,
eine straßenartige Anlage
der Häuser im mittelalter-
lichen Sinne sich ergibt, die
also wohl noch plastisch,
nicht rein dekorativ gehalten
waren.
Diese Aufführungen nun
machten offenbar Sensation
in dem ganzen renaissance-
frohen Italien und darüber
hinaus in all denjenigen Län-
dern, in denen die Anhänger
des jungen Humanismus ihre
Blicke auf die jenseits der
Alpen sich immer entschie-
dener entfahende Wiederbe-
lebung: antiker Kultur rieh-
ZiisammcMilianu; des Uliner lüiiiuclius" mit i>l''it'lizt'itigen Terenzaiifführungen. 297
teten. In Mantiia, in Mailand,
in Urbino und anderwärts
ahmte man diese Vorfüh-
runi^en alsbald nach, und in
humanistischen Gedichten
wurde ihr Ruhm der Welt
verkündet; aus dem einen
solcher Lobgedichte haben
wir vorhin eine Probe ge-
boten. Gewiß drang die
Kunde von dieser neuen Er-
rungenschaft auch zu uns
nach Deutschland i); zwi-
schen Ferrara und Augsburg
z. B. hatten schon in den
Tagen Ulrich Gossembrots
Beziehungen bestanden, und
zumal die Persönlichkeit Gu-
arinos, zu dem man von aller
Welt her wallfahrte, um
Griechisch zu lernen, wird
besonders geeignet gewesen
sein, auch in Ulm ein bren-
nendes Interesse für diese
große und neue Leistung zu
erwecken. So werden wir
wohl nicht fehl gehen, wenn
wir annehmen , daß die Kun-
de von der im Januar 1486
erfolgten Vorführung einer
antiken Komödie im glei-
chen Jahre auch den Te-
renz-Übersetzer Hans Nit-
hart veranlaß te, seinen
Drucker zu einer Ausgabe
des von ihm übersetzten
'Eunuchus' zu bestimmen,
die dem Auge durch Illustra-
tionen wenigstens einen Er-
satz für die Aufführung bot.
Nicht unmöglich, daß ihm
1) Woher meine Angabe (MGDESchG.
3, S, 14) stammt, 1486 habe in Wien
eine Aufführxmg des 'Eunuchus' statt-
gefunden, vermag ich leider nicht zu
sagen.
Abb. 27. Uhner „Eunuchus" IV, 5 (v. 7.39).
il/mjTi.
VAXimno
Abb. 2S. Ulmer „Eunuchus" V, ö iv. i»7ü ff.
298
Der Ulmer 'Eunuclms'.
Abb. 29 Ulmer „Eunuchus" V, ti (v. 1002 ff.
€bcvu
V^XitiA
etwa jenes vorhin zitierte
Gedicht des Guarino bekannt
geworden ist: auch auf den
Ulmer Bildern sehen wir fast
überall Stadtmauern , Häuser
und Straßen vor uns, wie sie
nach jener Beschreibung in
Ferrara den Schauplatz ge-
schmückt hatten.
Anderseits aber zeigt es
sich nun deutlich, daß der
Illustrator die lebendige Auf-
führung selbst nicht mitan-
gesehen haben kann: er hat
alles vom Dramatischen ins
Epische oder auch ins ganz
Sinnlose übersetzt: denn es
ist nicht etwa, wie es der
Hergang gebot, auf sämt-
lichen Bildern der Straßen-
schauplatz festgehalten, son-
dern ähnlich wie auf den
f ranzösi sehen Terenzminia-
turen aus dem Anfang des
Jahrhunderts ist, selbst da,
wo es sich um die Illustra-
tion unmittelbar aufeinan-
der folgenden Szenen han-
delt, in denen fast dieselben
Personen vor uns stehen, das
Straßenbild regelmäßig ein
anderes geworden; ein oder
zwei Male werden wir auch
von draußen herein ins In-
nere eines Zimmers geführt.
Auch rein künstlerisch be-
trachtet steht in diesen Bil-
dern die Vorführung des Lo-
kals am tiefsten; die Anlage
der Straßen und die Darstel-
lung der Häuser haben etwas
Kindliches: sie sehen aus wie
aus der Spielzeugschachtel
aufgebaut. Die beigefügten
Abbildungen machen das
Abb. ;5(). Ulmer „Hmuiclius" V, 8 (v. 1049 ff ).
Der Ulmer 'Eiinuchus'. - ^"9
ohne weiteres klar; im übrigen zeigen sie aber auch, daß wir
uns, was die Darstelhing der Personen betrifft, auf einer Ivünstle-
rischen Höhe befinden, wie sie der deutsche Holzschnitt in den
ersten Jahrzehnten des Buchdrucks nur selten erreicht hat. Dieser
Terenzdruck ordnet sich den schönsten Erzeugnissen des Uhner
Buchdrucks ein, der wiederum hinsichtlich seiner künstlerischen
Bedeutung überhaupt unter den deutschen Leistungen jener Zeit
so ziemlich an der ersten Stelle steht.
Hier haben wir nun weiter den Vorteil, daß wir den Künstler,
welcher für Nithart und Dinckmut diese Terenzbilder gefertigt hat.
zwar nicht mit Namen nennen können, daß wir aber andere Lei-
stungen von ihm aufzuweisen und deren Art mit seiner Darstellung
der terenzischen Szenen zu vergleichen vermögen i). Vor allem
eignet sich dafür der schon erwähnte, sicher von ihm mit Bildern
ausgestattete Druck der Lirerischen Chronik, weil dieser unmittel-
bar vorher: im gleichen Jahre 1486 vollendet worden ist. Hier ist
also jene Gelegenheit gegeben, durch einen Vergleich dramatischer
und nicht dramatischer Bilder auf etwaige Zusammenhänge zwischen
den Szenenillustrationen und der im Künstler lebenden Vorstellung
wirklich stattgehabter Aufführungen in bezug auf Kostüme wenig-
stens und namenthch in bezug auf Gebärden einen Schluß zu
tun. Freilich hat die oben versuchte Entstehungsgeschichte
dieser Illustrationen gezeigt, daß der Künstler unmöglich eine
Terenzaufführung mit angesehen haben kann, anderseits aber
hat er doch, da man ihm von Ferrara erzählt hatte 2), eine Vor-
stellung davon gehabt, daß es sich um etwas Aufgeführtes oder
Aufzuführendes handelte, und so hat er möglicherweise die Erinne-
rungen, die er von den geistlichen Aufführungen oder von den
Fastnachtspielen seiner Zeit in bezug auf die Art der Spieler sich
zu kleiden und sich zu bewegen besaß, auf die bildUche Vorführung
dieser antiken Hergänge übertragen. Ist es doch die Zeit, in der
man sich endlich nach so vielen verständnislos gebliebenen Jahr-
hunderten darauf besann, daß in den im Mittelalter -für episch ge-
haltenen antiken Komödien und Tragödien und in den selbständig
entwickelten geistlichen und weltlichen Spielen des Mittelalters
schließlich doch Leistungen des gleichen poetischen Formgebietes
vorlagen. Ein Symptom dafür, daß diese Kombination jetzt zustande
kam, mag eine handschriftliche Notiz sein, die sich in dem Berliner
Exemplar des alsbald zu besprechenden Straßburger Terenz von
1) Vgl. Kristeller, Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten. 2. Aufl.
(Berlin 19 U) S. 42.
2) Bemerkt mag in unserm Zusammenhange werden, dat.? eine in jüngster Zeit
hervorgetretene Beurteilung dieser Holzschnitte (Worringer, Die altdeutsche Buchillu-
stration, München 1912, S 55) erklärt: „Man würde sich kaum wundern, sie in einem
italienischen Druck zu finden."
300 D^i' Lyuner Terenz. Jodocus Badius.
1496 findet und wo das u. S. 320 abgebildete Theatriim folgender-
maßen erklärt wird : ein offen stat der weltlichkeit da man zu sieht,
iibi fiunt chorei, ludi et (?) de alys leuitatibus, sicut nos facimus
oster spill.
Der Lyoner Terenz.
Nach Frankreich führt der zweite illustrierte Terenz; im Zu-
sammenhange mit Deutschland bleiben wir aber schon insofern,
als der Drucker, der im Jahre 1493 zu Lyon Terenzens Lustspiele
in einer kommentierten und überreich mit Holzschnitten versehenen
Ausgabe erscheinen ließ*), ein Deutscher gewesen ist: der Nürn-
berger Johannes Trechsel, der hier in Lyon seit dem Jahre 1488
tätig war 2). Dieser Trechsel aber ist offenbar gar nicht die Haupt-
person bei der inneren Entstehung jener Ausgabe gewesen; das
war vielmehr, wie die Forschung zu ihrem Schaden bisher zu wenig
beachtet hat, der spätere Gatte seiner Tochter: Jodocus Badius
Ascensius. Dieser Badius ist eine der hervorragendsten Persönlich-
keiten, die in der Entwicklung des Humanismus eine Rolle ge-
spielt haben. Vir in secularibus litteris eruditissimus et divinarum
scripturariini non ignarus, philosophus, rhetor et poeta clarissimus
ingenio excellens et disertus eloqui, so charakterisiert ihn der Abt
Trithemius, und auch Erasmus sagt ihm später Gutes nach. Leider
aber ist bekanntlich der französische Humanismus so ziemlich das
dunkelste Gebiet der gesamten neueren Literaturgeschichte ; so oft
bei den bedeutsamen Beziehungen, welche zwischen Badius und
den meisten Größen des europäischen Humanismus bestanden,
sein Name auftaucht, so fehlt es uns doch noch an einem völlig
ausreichenden Überbhck über sein gesamtes Schaffen^), und zumal
für die Geschichte seiner Jugend müssen wir uns mit dürftigen
und nicht immer kontrollierbaren Angaben begnügen. Und doch
wäre gerade eine genaue Kunde seiner Jugendentwicklung für die
internationalen Beziehungen, in die wir hier hineinzuleuchten haben,
1) Hain N. 15 424. Exemplar in Dannstadt, Großherzogl. Hoibibliothek. Die hier
gebotenen Holzschnittreproduktionen sind mit freundlicher Genehmigung der dortigen
Direktion hergestellt. Die Originalgröße des Gesamttheaters (Abb. 31) beträgt 20x13,2 cm,
die der Szenenbilder durchschnittlich 10,2x12,1 cm. Abb. 33 kommt daher der Original-
größe ziemlich nahe; bei den übrigen Szenenbildern ist aus Sparsamkeitsgründen die
Länge der Seiten auf ^/', herabgesetzt.
2) Vgl. über ihn ADB. 38, S. 252 f. Ob es etwa derselbe Hans Trechsel war, der 14tt7 das
Kheinauer Weltgerichtsspiel geschrieben hat (s. Mone, Schauspiele 1, S. 3041, vermag ich
nicht auszumachen; im Falle der Identität würde auch bei Trechsel das Interesse für antikes
und mittelalterliches Drama Hand in Hand gehen.
3) Über seine Tätigkeit als Drucker belehrt uns iieueslerdings das auch sonst rein
bibliographisch vortreffliche Werk von Ph. Renouard, Bibliographie des impressions et
des Oeuvres de Jo.sse Badius Ascensius (Paris 1908), 3 Bde.; auch die voraufgeschickte
Biographie (1, S. 1 — 38| bedeutet immerhin einen entschiedenen Fortschritt iil)er das l)is-
her Gebotene.
Badius und die Feirareser Aiü'l'ülimnjren. 301
von der allerorößten Bedeutunj^; immerhin führt auch das Wenige,
was wir wissen und kombinieren können, auf den richtigen Weg.
Badius ist im Jahre 1461 oder 1462 in Assche bei Brüssel oder
aber in Gent geboren; er hat besonders in Gent seine Ausbihlung
empfangen, und die flandrische Kultur hat offenbar einen tiefen
Eindruck auf ihn gemacht; er selbst bezeichnet sich stets als
Flamänder, nicht als Brabanter, und auch sein erster Biograph
Trithemius rechnet ihn zu den Germanen. Dann treffen wir ihn
in Italien und zwar — hier lenken wir wieder auf die richtige
Straße ein, die von den ersten Versuchen einer Wiederbelebung
der antiken Komödie zum modernen Theater führt, — in Ferrara:
er gehörte zu jenen wissensdurstigen Humanisten, die zu Guarinos
Füßen saßen, um Kenner der griechischen Sprache und Literatur
zu werden. Bei diesem ferrareser Aufenthalt des Badius handelt
es sich nun offenbar um jene Zeit, in der die fürstliche Freude
am Theater dem Plautus zu neuem Leben verhalf; daß er noch
der ersten Aufführung der terenzischen „Andria" im Februar des
Jahres 1491 beigewohnt hat, ist zwar chronologisch eben noch
möglich, aber doch nicht recht wahrscheinlich. Denn bevor wir
ihn noch im gleichen Jahre 1491 oder 1492 in Lyon wieder finden,
muß er offenbar noch anderwärts mit Freunden und Kennern der
antiken Bühne zusammengetroffen sein : Ferrara hat ihm wohl den
Anstoß gegeben, eine bildliche Vorführung antiker Dramen im
Auge zu behalten; anderseits aber hat er, wie sich gleich zeigen
wird, Verständnis dafür besessen, daß sich jene ferrareser Auf
führungen von der echt antiken Art doch noch recht weit ent-
fernten, und dieses Verständnis war damals wohl nur bei Pomponius
Laetus oder seinen Schülern zu gewinnen. Bevor Badius nach
Lyon kam (oder war es etwa schon, ehe er nach Ferrara sich wandte?),
muß er sich also an einem Orte aufgehalten haben, an dem er die
Lehren des Pomponius auf sich wirken lassen. konnte i); das kann
entweder in Rom der Fall gewesen sein oder aber auch in Paris,
wo seit dem Jahre 1489 Faustus Andrelinus, einer der hervor-
ragendsten Schüler des Pomponius Laetus, als Professor der Rhe-
torik und Poesie an der Universität tätig war und wo auch ein
anderer Jünger der gleichen Schule, Hieronymus Baibus, sich zu
derselben Zeit aufhielt2). Auf einen römischen oder Pariser Auf-
enthalt des Badius weist auch noch ein anderer Umstand hin, von
dem wir alsbald im Zusammenhange zu sprechen haben. Jedenfalls
1) Schwerlich in Mantua odfir in V'alence, wo er sich kurze Zeit aufgehalten hat.
2) Über Faustus Andrelinus und Baibus vgl. L. Geiger: VKLR. 1, S. 2 ff.; 233 ff.
G.Knod in »Die Bibliothek zu Schlettstadt« 1889 S. 91 ff.; besonderes Interesse des Faustus
Andrelinus für Drama und Theater vermögen wir allerdings nicht zu belegen, höchstens
dadurch, daß ihm einer seiner Schüler eine Ausgabe plautinischer Lustspiele zugeeig-
net hat.
302
Badius' Anteil an den Holzschnitten.
aber zeigt es sich auch hier wieder, daß die Ferrareser Aufführungen
den Anstoß für die weitere Entwicklung gegeben haben.
Im Jahre 1491 kam Badius nach Lyon: an den Knotenpunkt
der Kulturwege Frankreichs, Deutschlands und Italiens, wo sich
unter der Gunst dieser Verhältnisse eben damals der Buchdruck
zu einer Blüte entwickelte, die der Herrlichkeit Venedigs auf diesem
Gebiete wenig nachstand. Zu jenem Trechsel trat nun Badius offenbar
als gelehrter Korrektor in Beziehung, und der Inhaber der Firma
wußte ihn alsbald in sein Haus zu ziehen und als literarischen
Berater an sein Geschäft zu fesseln. Hier nun beschloß Badius,
sein aus Ferrara, Rom und Paris mitgebrachtes Interesse für die
antike Komödie und für die lebendige Anschauung ihrer Bilder
dadurch zu betätigen, daß er im Verlage Trechsels 1493 jene
Terenzausgabe erscheinen ließ. Er erwarb nicht nur den Kommen-
tar des berühmten Terenzforschers Guido Juvenalis und veranlaßte
diesen Gelehrten, ein paar Geleitbriefe beizusteuern, die freilich
für die Theatergeschichte nichts irgendwie in Betracht Kommendes
enthalten; er fügte vielmehr dem Kommentar auch eigene Be-
merkungen bei und setzte sich endlich, um auch nichtgelehrten
Lesern des Buches lebendige Anschauung zu verschaffen, mit einem
Künstler in Verbindung, der das ganze Werk, sämtliche sechs
Komödien, mit Illustrationen zu versehen hatte. Diese Tendenz
setzt Badius selbst uns in einem Schlußwort (fol. Q 4 b) folgender-
maßen au seinander : Effecimus, iit etiam illitteratiis ex imaginibiis,
quas cuilibet scenae praeposiiimiis, legere atqiie accipere comica argu-
menta valeat.
Man darf daraus nicht etwa schließen, daß Badius nun, weil
es sich um eine Arbeit für Ungelehrte handelte, das Werk im
einzelnen durchaus dem Belieben des Künstlers überlassen habe,
es läßt sich vielmehr zunächst wenigstens in einem Falle nach-
weisen, daß er ihm die genauesten Vorschriften gegeben hat und
daß auch in den Bildern im einzelnen noch gelehrte Arbeit steckt.
In jenen Erörterungen nämlich, die Badius dem Kommentar des
Guido Juvenalis hinzugefügt hat, stellt er gleich im Eingang der
ersten Szene der 'Andria' die Erwägung an, was unter der allge-
meinen Bezeichnung istaec, mit der der Hausherr dasjenige be-
zeichnet, was die Sklaven ins Haus tragen sollen, eigentlich zu
verstehen sei; Guido Juvenalis hatte erklärt edulia, Lebensmittel;
Badius setzt ausführlich auseinander, daß es sich seiner Ansicht
nach vielmehr um Brennholz handle, und fügt hinzu: quapropter
in pictiiris ligna intro auferuntur. Wenn nun der Künstler auf dem
der ersten Szene beigegebenen Holzschnitt tatsächlich durch die
Sklaven Holzscheite ins Haus tragen läßt, kann es sich dabei nicht
um eine Erkenntnis handeln, die er selbst durch das Studium des
Kommentierten Textes sich erworben hat: in dem Kommentar steht
Ziisammcnhaii<f mit den alten Miniaturen. 303
an dieser Stelle tatsächlich nur das guidonische edulia, und
Badius hat seine Zusätze zu den beiden ersten Komödien, der
'Andria' und dem 'Eunuchus', erst nachträglich am Schluß des
ganzen Buches gegeben. Es bleibt also keine andere Erklärung
als die: der Künstler ist von vornherein von ihm mit genauesten,
auf gelehrter ?]rwägung beruhenden Hinweisen auch über die
Einzelheiten der Bilder versehen worden.
Die illustrative Gesamtanlage des von Trechsel gedruckten
Terenz ist nun die folgende: auf dem Titelblatt finden wir ein Bild
des Dichters, der wie ein humanistischer Gelehrter von Folianten
umgeben in seiner Studierstube sitzt; es folgt auf Blatt 4b, am
Schluß der Einleitung, eine Gesamtzeichnung des antiken Theaters
(Abb. 31, S.304), und dann beginnt die lange Folge der Einzelillustrati-
onen, die Szene für Szene das Werk des Dichters begleiten. Schon diese
Gesamtanlage zeigt uns deutlich, daß wir auch hier wieder in
einem gewissen Zusammenhang mit einem der alten Codices uns
befinden, in denen die ottonische Renaissance den alten Komiker
weiter überliefert hatte: auch dort treffen wir zuerst das Bild des
Dichters, darauf zweitens zwar nicht eine Gesamtdarstellung des
Theaters, wohl aber einen gebäudeartigen Schrank, in welchem sich
die verschiedenen im Altertum verwendeten Masken aufgehängt
finden; es ist natih'lich, daß bei einer Darbietung, die auf die Er-
wähnung und Vorführung dieser Masken völlig Verzicht leistete,
an die Stelle jenes zu ihrer Aufbewahrung bestimmten Bauwerks
sehr leicht der gesamte Theaterbau treten konnte. Und daran
schließen sich auch dort die Einzelbilder, deren je eines jeder
Szene gewidmet ist. Daneben könnte man durch einzelne Überein-
stimmungen, namentlich durch die im Lyoner Terenz auch beson-
ders häufige Vereinigung mehrerer Situationen einer Szene auf
dem gleichen Bilde, auch zur Annahme einer Bekanntschaft mit
dem Terence des Ducs oder seiner Sippe geführt werden: die
äußere Möglichkeit einer solchen Bekanntschaft war hier jedenfalls
noch eher als bei dem Ulmer Künstler gegeben; aber zum min-
desten daneben muß Badius auch einen der alten Codices gekannt
haben : eine ganz entscheidende Einzelheit, in der der von Badius
besorgte Druck mit diesen alten Terenzillustrationen übereinstimmt
und auf die wir noch zurückkommen müssen, wird jenen Zusammen-
hang völlig deutlich machen. Ob Badius nun auf die Anregung
des Pomponius selbst hin in Rom einen illustrierten Terenzcodex
der ersten Renaissance hat einsehen dürfen, ob er in Paris etwa
auf einen Hinweis des Pomponianers Faustus Andrelinus sich
den alten Codex hat zeigen lassen, der damals dem Kloster
des Heihgen Dionys gehörte, wird sich, wie wir schon andeuteten,
bei dem Mangel an Nachrichten über die Jugend Schicksale des
Badius vorläufig nicht ausmachen lassen.
304
Der Lvoner Terenz.
Abb. ;J1. Lyoner Terenz. Oesanihiarstelliins des Theaters (vgl. u. S. 310 ff.
Badius' Aiischaiiuii'ren ül)er das antike Tlieater.
305
Seine Anschauungen über den Bau des antiken Theaters setzt
uns Badius in dieser Ausgabe vom Jahre 1493 theoretisch nicht
auseinander, wohl aber hat er später sehr eingehend über sie in
einer Praenotanientn betitelten Abhandlung gesprochen, in der er
auch seine Auffassung der antiken dramatischen Dichtung ausführ-
lich darzulegen sucht. Diese Praenotamenta aber sind, soweit sich
ermitteln läßt, zuerst im Jahre 1502 einer Terenzausgabe beige-
geben worden, die Badius damals im eigenen Verlage zu Paris er-
scheinen ließi), und entstanden können sie frühestens am Ende
der 90er Jahre sein, da Badius hier unter anderm von cantica
miisicalia spricht, die an Stelle des antiken Chors in modernen
Abb. 32. Lyoner Terenz : Andrla, Prolog.
Dramen zwischen den einzelnen Akten gesungen würden : er setzt
damit die mit solchen Chören ausgestatteten humanistischen Dra-
men voraus, deren älteste in der zweiten Hälfte der 90er Jahre
entstanden sind'-). Von vornherein dürfen wir also nicht etwa die
hier niedergelegten Anschauungen über den Bau des antiken
Theaters mit denjenigen identifizieren, die bei der Anlage der
Terenzillustrationen vom Jahre 1493 maßgebend gewesen sind,
wenngleich wir manches von dem, was Badius hier sagt, schon
1) Renouard a. a. 0. 1, S. 145 vermntet, daß sie zuerst in einer verloren ge-
gangenen Ausgabe von 1500 gestanden haben.
2) Das früheste Beispiel: die Chöre in Lochers Drama „De rege Franciae'" v J. 1495,
ist in Lilie ncrons sonst so ausgezeichneter Abhandlung über die Chorgesänge des lat.-
deutschen Schuldramas (VMusikW. 6, S. 309 ff.) übersehen.
Herrmann, Theater. 20
306
Badius" Anschauungen über das antike Theater.
für die ältere Periode werden in Anspruch nehmen dürfen. Daß
er im ganzen mit jener damahgen Auffassung nicht mehr einver-
standen war, mag man wohl auch dem Umstände entnehmen, daß
er in seinen eigenen Pariser Terenzausgaben die alten Bilder
niemals hat reproduzieren lassen. Ein wirkliches Verständnis für
jene Anschauungen der Praenotamenta und eine Aussonderung der-
jenigen, die er erst nach dem Jahre 1493 sich erarbeitet hat, wird
wohl erst dann gelingen, wenn wir eine ausführliche Arbeit über
die Geschichte der humanistischen Terenzkommentare besitzen i).
Die Hauptquellen für die Praenotamenta hinsichthch der antiken
Theatereinrichtungen sind offenbar Donat, Vitruv und der Huma-
nist Johannes Tortellius, der schon in seinem 1471 gedruckten
Werke „Orthographia" ein hier von Badius übernommenes Kapitel
Abb. 33. Lyoner Terenz: Andria I. 1.
Über das Wort fheatriim geboten hatte. Badius aber begnügt sich
nicht damit, antike und moderne Theoretiker zu studieren und ihre
Angaben mehr oder weniger frei wiederzugeben; er richtet daneben
den Blick auf das lebendige Theater der Gegenwart, er macht
offenbar im modernen Sinne als Philolog den Versuch, die tote
1) Vgl. inzwischen die bei Creizenach 1-, S. 5 genannten Arbeiten.
Hineinzieluing der l'lamirisclien „abele speien".
30-
Vergangenheit durch die lebendige Gegenwart zu begreifen. Es
ist, wie wir schon betonten, jene Zeit, in der man den inneren
Zusammenhang zwischen antikem Drama und mittelalterhchem
Spiel zu verstehen anfängt. Aber nicht auf die geistlichen Vor-
führungen, wie er sie gewiss auch in Lyon sich ansehen konnte,
richtete Badius sein Augenmerk, auffallenderweise spricht er auch
nicht von jenen halb antiken, halb mittelalterlichen Aufführungen,
die er in Ferrara mit angesehen haben muß; in den Praenotamenta
ist vielmehr ausschließlich von den theatralischen Darstellungen in
seiner flandrischen Heimat die Rede. Die flandrische Kultur zieht
er hier nicht nur heran, um die Stelle, die er aus Donat über die
Abb. 34. Lyoner Terenz, Andria III, 1 (v. 453 ff.)
Verwendung von Teppichen und Vorhängen auf der Bühne ent-
lehnt, durch einen Hinweis auf die tapeta zu erläutern, qiialia nunc
fiiint in Flandria; viel interessanter ist eine Auseinandersetzung,
die er anstellt, um dem modernen Leser die Gründe begreiflich zu
machen, die die antiken Darsteller zur Anlegung von Masken be-
stimmten. Einer dieser Gründe ist der: qiiia variiim et pleniorem
sonum reddunt ; a personando enim dicifur persona {= Maske) eo
quod per varias personas vox iinius hominis varie sonat. Und nun
fährt er fort: Itemque qiii historias regum principiimque in cameris
pretio liidnnt , ut nunc vulgo est videre in Flandria et regionihus vici-
nis variis, personas accipiunt , ut unus actor seu lusor varias posset
praesentare. Und auch die nun folgende Auseinandersetzung kann
sich offenbar nur auf diese flandrischen Vorstellungen beziehen,
20*
308
Hineinziehung der flandrischen „abele speien".
denn aufs antike Drama paßt die hier gegebene Aufzählung der
dramatischen Charaktere ganz und gar nicht: alia causa est, quia
opus est aliquando repraesentare personam infantis, aliquando adolescentis,
aliquando viri, aliquando senis, aliquando decrepiti, aliquando regis,
aliquando principis , aliquando cursoris, aliquando agricolae, aliquando
mercatoris, aliquando traditoris aut hominis perfidi: quocirca necesse
est varias sibi sumere personas; wohl aber zeigt sie uns mit zwingen-
der Deutlichkeit, auf was für Aufführungen sich diese theaterge-
schichtlich höchst merkwürdige Stelle bezieht: gemeint können nur
die Aufführungen jener Dichtungen sein, die in der Geschichte des
mittelalterlichen Dramas an vollständig isolierter und für uns histo-
risch noch kaum verständlicher Stelle stehen: der sogenannten
Abb. 35. Lyoner Terenz : Andria V 4, (v. 904 ff.)
abele speien, jene dramatischen Rittergeschichten, die durch Form
und Inhalt gleichmäßig aus dem Bestände der übrigen mittelalter-
lichen Dramen herausfallen. Nun sehen wir auch, daß sie in Be-
zug auf die Art der Aufführungen vollkommen isoliert stehen : für
die Benutzung von Masken im ernsten Drama bietet, wenn wir von
den ganz anders zu erklärenden Teufelsmasken absehen, die
Geschichte des mittelalterlichen Theaters Europa kaum ein Bei-
spieD). Nur in aller Kürze mag zur Erklärung dieser seltsamen
Erscheinung hier die Vermutung gewagt sein, daß die Masken
durch Niederländer, die in Italien gewesen sind, mit nach dem
Norden gebracht wurden; im ernsten Drama hatten sie zwar auch
1) Als personati werden allerdings die Darsteller bezeichnet, die Ariostos „Isis"
1444 in P'errara vortragen. Vgl. Creizenach 1'-, S. 577.
Hiiieinzieluiii<i; der l'landrisclien „abele si)elen".
309
dort keine Stelle, wohl aber haben sie sich noch vom Altertum her
in den volkstümlichen Possendarstellungen wenigstens gelegentlicii
erhalten, freilich ohne daß sie eigentlich in so früher Zeit aus dem
Dunkel auftauchten, das in der Überlieferung über diese Niederungen
des italienischen Theaters gebreitet ist: nur der gelehrten Forschung
gelingt es hier und da, durch Hypothesen den Schleier zu lüften i).
Die Überlieferung der ahele speien zeigt aber 2), daß die ernsten
Dramen mit ausgelassenen Possenspielen untrennbar verbunden
sind; so mögen die Masken sich zunächst von den italienischen
Farcen auf die niederländischen Possen und von ihnen aus auch
auf die ernsten Stücke übertragen haben.
Abb. 36, Lyoner Terenz. Andria V, 5 (v. 957 ff.)
Die Erinnerung an diese flandrischen Theatervorstellungen
aber lebte gewiß in ßadius auch schon, als er im Jahre 1493 an
die bildliche Ausschmückung des Terenz sich wagte; wenigstens
gibt uns das, was wir von seinem Leben wissen, keinen Anhalt
für die Annahme, daß er zwischen seiner Lyoner und seiner
Pariser Zeit noch einmal zu längerem Aufenthalt in seine flandrische
Heimat zurückgekehrt wäre. Dagegen hat er die in der Haupt-
sache richtigen Angaben, die er für die Praenotamenta aus Vitruv
und aus TorteUius entnommen hat, sicherlich 1493 noch nicht ge-
kannt: denn von der korrekten Vorstellung des ungedeckten Halb-
kreises, in dem die Zuschauer vor der Bühne saßen, findet sich
1) Vgl. A. Dieterich, Pulcinella. Leipzig 1891
2) Vgl. Creizenach 1% S. 367f.
310
Einfluß Albertis.
hier keine Spur, und selbst wenn wir im Auge behalten, daß er,
wie es sich z. B. für Donat nachweisen läßt, gelegentlich seine
Quellen recht frei und obenhin benutzte, scheint eine Bekannt-
schaft mit jenen beiden Autoren ausgeschlossen. Dagegen hat er
offenbar etwas läuten hören von der Darstellung, die ein damaliger
großer Kenner des antiken Theaters, der berühmte Leo Baptista
Alberti gegeben hatte: sie war schon bald nach 1450 verfaßt und
seit dem Jahre 1485 auch durch den Druck zugänghch gemacht
worden; möglich, daß ihm gewisse Elemente der Albertischen Lehre
aus zweiter und dritter Hand, also etwa durch Schüler des Pom-
ponius Laetus bekannt geworden sind. Besonders deutlich wird
V^-^^^^y^^^^.^^^.^^^
Abb. 37. Lyoner Terenz : Eunuchus 11,2 (v. 232 ff.)
diese fast komische Mischung einer ganz entfernten Kenntnis
des antiken Theaters und der seltsamsten Verwirrung in jener Dar-
stellung des Theaterbaus, die wir hier (Abb. 31, S. 304) reproduzieren.
Eine gelehrte oder richtiger halb gelehrte Rekonstruktion also,
— wir denken an jene halbgelehrte wenn auch ganz andere Art,
in der man zu Ferrara das antike Theater wieder belebt hatte.
Ganz gewiss sind nicht alle Wunderlichkeiten, die dieses Bild auf-
weist, auf die Rechnung des Künstlers zu setzen; anderseits ist
gerade hier wohl manches auf die Benutzung aus dem Zusammen-
hang gerissener Sätze Albertis zurückzuführen. In drei Reihen ist,
wie wir sehen, das Pubhkum angeordnet; bei Alberti heißt es:
Totas gradationes siibsellionim veteres in maximis theatris dividebant
in partes tres. Auf einem ganz abgesonderten Platze, in einer Art
Fremdenloge sehen wir die hohe Obrigkeit, die beiden Aediles,
Einfluß Albertis.
311
sitzen, unter deren Aufsicht, wie die Terenzhandschriften mitteilen,
die Aufführungen stattfanden; bei Alberti steht: erat consuetudo,
iit patres et maf/istratiis certo et (ti(/nissinio loco segregati a plebe
considerent. Von zwei besonderen Säulen ist die Bühne einge-
schlossen, von deren Einrichtung wir im übrigen erst später
sprechen; Alberti sagt von ihr: atqiie onml)atiir qiiidem haec pars
in utrisqiie coliimnis. Gänzlich unantik scheint die Überdachung
des Theaters, die von vier hohen Säulen getragen wird; hier ist
Badius offenbar durch den das Richtige meinenden, aber allerdings
leicht mißzuverstehenden Satz des Alberti verführt worden: Et in
supremo ambitu porticiis et tecta. Andere Anregungen mag er
Abb. 38, Lyoner Terenz, Eunuchus I, 1.
anderswo empfangen haben: von der Flötenmusik ist bei Donat
ausführlich die Rede; daß aber hier nur ein einziger, vor der Bühne
sitzender Flötenspieler das ganze Orchester bildet, wird auf eine
Stelle des plautinischen Pseudolus (v. 585 ff.) zurückzuführen sein,
wo der ins Haus gehende Held die auf der Bühne zurückbleibenden
mit den Worten tröstet: tibicen uos interea hie delectaverit.
Den ganz seltsamen Umstand aber, daß das Theater sich hier
im oberen Stockwerk eines Gebäudes befindet, zu dem die Zu-
schauer auf einer großen Treppe emporsteigen müssen, werden wir
gewiß nicht mit irgendeiner wenn auch mißdeuteten gelehrten
Theorie über das Wesen des antiken Theaters In Verbindung bringen
können; hier wird vielmehr jene oben erwiesene Erinnerung an
das flandrische Theater, das dem Badius wegen der Verwendung
der Masken der Antike ähnlich erscheinen mochte, bestimmend
312
Das Gesamtbild des Theaters.
gewesen sein. Denn wenn wir sonst auch nichts über die Art der
Aufführung jener abele speien zu sagen vermögen, so geht doch
aus den Abschiedsworten eines der erhaltenen Ritterdramen, des
„Esmoreit", hervor, daß die VorsteUung im oberen Stockwerk eines
Gebäudes stattfand, von dem die Zuschauer dann am Schluß auf
einer hohen Treppe heruntersteigen i).
Die allergrößten Schwierigkeiten endlich bereitet zunächst die von
Badius angeordnete Einrichtung dieses unteren Stockwerkes im
besonderen ; sie ist, wie man sieht, durch die Inschrift Fornices an-
gedeutet, und seltsame Liebespaare treiben davor und darin ihr
Wesen. Das Rätsel löst sich aber, wenn wir uns erinnern, daß für
i^A...-^..^^^'
Abb. 39. Lyoner Terenz : Eunuchus 11,3 (v. 293 ff.: 303 ff.)
die Theateranschauungen der Humanisten des 15. Jahrhunderts die
in den „Etymologiae" des Isidorus gebotenen Auseinandersetzungen
eine wichtige Rolle spielen. Hier heißt es nach dem ersten oben
S. 282 wiedergegebenen Satz über die allgemeine Einrichtung des
Theaters (nach contemplaretur) : Idem vero theatnim, idem et pro-
stibidum, eo qiiod post ludos exactos meretrices d)i prost rarentiir.
Das Theater dient also auch als Freudenhaus. Um sich über die
bauliche Anlage dieses Teils eine Vorstellung zu machen und seinen
Künstler beraten zu können, griff Badius nun offenbar nach einer
andern isidorischen Stelle (X, 111), an der es heißt: Fornicatrix
1) Vgl. Crelzenach 1^, S. 368. Badius selbst sagt in bezug auf die flandrischen
Dramen a. a O. nur, daß sie, statt auf offenem Marktplatz, in aimeris stattfanden.
Das Gesanitl)il(l des Theaters.
313
est cujus corpus publicum et imlgare est. Hae sub arcuatis po-
stabant, quac loca fornices dicunfur.
Derartige Anschauungen über das Wesen des antiken Theaters
hat Badius offenbar seinem Lyoner Künstler suggeriert, und so
wunderHch die Anschauungen sind, so wunderlich ist auch die
künstlerische Ausführung. Von dem Wesen und dem Sinn der
antiken Architektur hat dieser Künstler jedenfalls eine eben so un-
richtige Vorstellung wie Badius von der Einrichtung des Theaters.
Wenn es im Wesen der Frührenaissance überhaupt liegt, die an-
tiken Kunstformen, von denen die modernen Darsteller zumal jen-
seits der Alpen gewiß nicht viel im Original gesehen haben, so zu
Abb. 40. Lyoner Terenz : Eunuchus V, 6 (v. 1002 ff; 1Q06 ff.)
verändern, daß ihr Charakter völlig verloren geht, so ist unser
Lyoner Theaterbild mit den ins Groteske entstellten korinthischen
Säulen, dem schnurrigen Dach, den friesartigen Darstellungen am
Unterbau und den ganz mittelalterlichen Kreuzgewölben in der Tiefe
ein besonders charakteristisches Beispiel. — Viel lebendiger als
die Darstellung des Baues ist die Gestaltung der Personen auf
diesem Holschnitt; aber sein Bestes sollte der Künstler doch auch
hier erst in den szenischen Einzelbildern geben, deren Betrachtung
wir uns nvui zuwenden.
Während wir in bezug auf die soeben besprochene Gesamt-
darstellung des Theaters feststellen mußten, daß sich eine Über-
einstimmung mit den später in den Praenotamenta niedergelegten
Anschauungen Badius' nur teilweise konstatieren läßt, ist die
314
Die Szenenbilder. Podium.
Ähnlichkeit zwischen ihnen und den nun folgenden Einzelbildern
eine weit größere. In dem Abschnitt De scenis et proscenüs setzt
Badius hier Folgendes auseinander: Infra igitiir theatnim ab una
parte opposita specfatoribiis erant scenae et proscenia, id est loca luso-
ria ante scenas facta. Scenae autem erant qiiaedam unibraciila seii ab-
sconsoria, in quibus abscondebantiir liisores, donec exire deberent. Ante
autem scenas erant quaedam tabulata, in quibus personae qui exierant
ludebant. Diese Angabe entspricht, wie die o. S. 305 ff gegebenen Re-
produktionen (Abb. 32 — 40) zeigen, tatsächlich der Bühnenanordnung
auf den Bildern des Jahres 1493. Die einzelnen Häuser, welche, wie
Badius so gut wie die andern Theaterphilologen seiner Zeit sehr
wohl wußte, auf der Komödienbühne dargestellt werden mußten,
sind hier als eine Reihe von Verschlagen gedacht, als einfache
Holzrahmen, die durch Vorhänge verschlossen werden und durch
eine oben angebrachte Inschrift als domus Simonis, domus Chrisi-
dis usw. charakterisiert werden. Man hat sie neuerdings etwas
drastisch, aber ganz treffend mit den Auskleidezellen in einem
Schwimmbad verglichen i). Hier finden wir also die allerentschie-
dendste Abweichung von der Art, in der bei den Ferrareser Auf-
führungen die Häuser vorgeführt wurden, und ebenso von der Dar-
stellung, die wir auf den Ulmer Bildern beobachtet hatten. Die
Dekorationen, die der Lyoner Künstler für die Szenen der sechs
terenzischen Komödien bietet, sind, wie auch unsere Reproduktionen
andeuten, nicht immer ganz dieselben; völlig übereinstimmend aber
und darin vor allem von den Ulmer Bildern abweichend sind sie
in der Grundauffassung: sie wollen den wirklichen Schauplatz einer
Aufführung vorführen. Auf einigen der Holzschnitte (vgl. Abb. 33) ist
es ganz deutlich zu erkennen, daß diese Vorstellungen nach der Auf-
fassung des Badius auf einem Podium stattgefunden haben: man
sieht die Pfähle , auf denen die obere, als Bühne dienende Bretterlage
ruht; für diese Auffassung hatte Badius in seinem Alberti eine
Anregung finden können, der die antike Bühne als opus pulpifi,
als Brettergerüst bezeichnet. Dagegen ist von einer Bekanntschaft
mit den komplizierteren Angaben über antike Dekorationen, wie
sie vor allem auf Vitruv zurückzuführen sind, hier noch keine Spur
zu finden; die Ferrareser Aufführungen hatten in dieser Hinsicht
ebenfalls nichts echt Antikes geboten, und so mußte Badius sich
die Sache hier selbst zurechtlegen. Manches gab ihm auch weiter-
hin Alberti. Wenn dieser zum Beispiel von contignationibus alteris
in alteram positis ex domorum imitatione spricht, so konnte sich der
moderne Leser das sehr wohl so deuten, daß es sich nicht um eine
naturalistische Häuserdekoration, sondern, eben wie es die Bilder
1) Creizenach 2, S. (j. Vielleicht lial Badius sich jene früher (S. 287) zitierte Hugu-
tiusstelle oder eine von ihr abgeleitete Erläuterung zu Nutze gemacht.
Die Szenenbilder. Vorhänge. 315
zeigen, um eine bloße Andeutung durcli ein paar Balken handelte.
Wie aber ist Badlus wohl auf die Vorhänge gekommen? Möglich
wäre es vielleicht auch, daß jene geheimnisvollen flandrischen Auf-
führungen, die Badius, wie wir gesehen haben, bei dem Versuch einer
Rekonstruktion des antiken Theaters wiederholt in den Sinn kamen,
einen Hintervorhang verwendet haben; aus dem Umstände, daß wir
in den Volkstheateraufführungen des 16. Jahrhunderts einen solchen
Hintervorhang treffen, wird man wohl keinen zu sicheren Rück-
schluß auf die Verhältnisse im 15. Jahrhundert ziehen dürfen i).
Immerhin würden dann auch die von Badius besonders hervorge-
hobenen flandrischen tapeta zu ihrem Recht kommen. Der Haupt-
einfluß aber geht, wie ich meine, hier ganz entschieden aus von
einer jener alten illustrierten Terenzhandschriften, deren Benutzung
durch Badius wir auch schon früher für wahrscheinlich erklärt
haben. Im allgemeinen ist da der Ort der Handlung vom Künstler
nicht besonders gekennzeichnet; nur wo in der Handlung eine Tür
geradezu eine Rolle spielt, ist diese, bald rechts, bald links, bald
in der Mitte, angedeutet. In den meisten Fällen geschieht dies
durch einen bloßen Rahmen, der aus vier Balken besteht. Mit-
unter aber ist auch ein die Tür für gewöhnlich verhüllen-
der Vorhang angedeutet, der nun freilich hier gardinenartig fast
ganz zurückgeschlagen zu sein pflegt. Hier bot sich für die Phan-
tasie des Badius die Gelegenheit, jene Andeutung seines Theore-
tikers, daß es sich nur um eine ungefähre, nicht um eine völlige
Nachahmung eines Hauses gehandelt habe, zur Rekonstruktion
seines Bühnenbildes zu benutzen; er hat die Anlage der alten Illu-
strationen natürlich für authentisch gehalten, da man in der
Renaissancezeit jene tatsächlich nur einige Jahrhunderte alten
Codices unbedingt für antik erklärt hat. Nicht ganz unmöglich
wäre es freilich, daß diese Rekonstruktion nicht erst der kombinie-
renden Tätigkeit des Badius ihre Existenz verdankte, sondern daß
bereits die Pomponianer, denen jene Zeichnungen ja in dem
römischen Codex bekannt werden konnten , eine solche Über-
tragung vorgenommen hätten; sicherlich aber könnte es sich
dabei nur um Theorie, nicht um eine praktische Verwertung dieser
„Schwimmbadzellen'' bei den römischen Plautusdarstellungen in der
Mitte der 80 er Jahre handeln, da eine derartige Anlage der Bühne,
bei der der Maler nichts zu tun gehabt hätte, in keiner Weise mit
der urkundlich bezeugten scena pictiirata des Cardinais Riario^)
in Einklang zu bringen ist.
1) Allerdings waren auch schon auf der mittelalterlichen Bühne in Frankreich mit
unter die einzelnen Standorte mit besonderen Vorhängen versehen , besonders um durch
rasches Hinwegziehen eigene Effekte zu erzielen: s. Creizenach P, S. 166 f.
2) Vgl. o. S. 295.
316 Die Szenenbilder. Der Künstler ein Niederländer.
Solche Vorstellungen also von der Einrichtung der antiken
Bühne muß Badius dem Zeichner mitgeteilt haben, der das große
Illustrationswerk zu besorgen hatte. Wieder hat dieser seine wunder-
lichen Vorstellungen von antiker Architektur bei der Ausführung
seiner Zeichnungen an den Mann gebracht. In sechs verschiedenen
Formen tritt, wie wir schon erwähnten, die Bühneneinrichtung uns
entgegen; je nach der Anzahl der von dem jedesmal vorliegenden
Drama geforderten Häuser ist deren Anordnung verschieden : bald
sind sie in einer Reihe, bald in einer Art Erker vorspringend ge-
geben. Besonders eigentümlich ist die Darstellung der Dekoration
für die „Andria": hier ist zur Rechten und zur Linken der Zellen-
reihe je ein höchst phantastisch und höchst unantik gehaltener
Altar angebracht, auf dem zur Linken Bacchus, zur Rechten Apollo
thront. Diese Anordnung beweist wieder i), daß Badius die Be-
ratung des Künstlers bis ins Einzelne durchgeführt und daß er zur
Unterstützung seiner rekonstruierenden Phantasie auch den Dona-
tus zur Hand gehabt hat, in der die Anlage jener beiden Altäre
geradezu auf eine Stelle in der „Andria" zurückgeführt wird. Im
ganzen aber muß man urteilen: hier wo die architektonische Auf-
gabe keine so verzwickte war wie auf dem Bild des gesamten
Theaters und wo namentlich die Perspektive keine so großen An-
forderungen stellte, entbehrt auch die Gestaltung der baulichen
Verhältnisse nicht eines eigentümlichen Reizes trotz aller Verkehrt-
heit der Mischung verschiedenartiger Elemente, und namentlich
dort, wo die Szene verlangt, daß wir durch den hochgeschlagenen
Vorhang ins Innere eines solchen Zellenhäuschens hineinsehen, (vgl.
Abb. 34) weiß der Künstler einen gewissen Zauber auszuüben. Seine
eigentliche Meisterschaft aber offenbart sich in der Darstellung der
Personen; ein gelehrter Kenner, der die Bilder gelegentlich rein vom
künstlerischen Standpunkt beurteilt2), zählt diesen Terenz zu den
feinsten Leistungen der ganzen Renaissancezeit.
Hoch ragt er jedenfalls über all das hinaus, was Lyon bis da-
hin auf dem Gebiete der Holzschneidekunst hervorgebracht hat-^),
und die ganze künstlerische Art, die uns hier entgegentritt, beweist,
daß wir es mit der Leistung eines niederländischen Meisters zu tun
haben, sowohl was die Zeichnung als was den Schnitt betrifft-*), an
dem allerdings mehrere Hände mit zuletzt erlahmender Kraft be-
teiligt zu sein scheinen. Die meisten älteren Leistungen zu Lyon
zeigen jenen Eklektizismus, der die ganze Kunst der französischen
1) Vgl. o. S. 802.
2) Lippmann: JbKPreuss Kunsts. 5, S. 25 f.
3) Vgl. Rondot, Les graveurs sur bois et les iniprinieurs ä Lyon au XVieme siecle
(Lyon et Paris 1896).
4) Ich befinde mich hier durchaus in Übereinstimmung mit Kri stell er, Kupfer-
stich und HolzschnitL 2. Aufl. S. 112 f.
Der Künstler ein Niederländer. ' 3J7
Frührenaissance charakterisiert; niederländische Anregungen sind
in diesen Leistungen neben andern ganz deutlich bereits zu spüren,
aber sie sind doch durchaus ins Französische verarbeitet, während
uns hier zum ersten Mal rein niederländische Kunstübung in Lyon
begegnet; höchstens die 1490 erschienene Ausgabe von Le Fevre's
„Troie la grande" macht vielleicht eine Ausnahme.
An untergeordneten Holzschneidern niederländischen wie auch
deutschen und italienischen Ursprungs fehlte es in Lyon keines-
wegs, wo die Kultur von mehreren Ländern zusammenströmte,
aber so weit wir sehen, befindet sich keiner unter ihnen, dem wir
diese Meisterleistung zutrauen möchten. Offenbar war der Verlauf
der: als Badius das Werk übernahm, den illustrierten Terenz
herauszugeben, beschloß er, dessen leidenschaftliches Interesse für
seine Heimat wir bereits kennen gelernt haben, sich auch für
die Herstellung der Bilder an einen hervorragenden Meister nieder-
ländischer Schule zu halten 1), Dazu brauchte er sich nicht erst an
die ferne Heimat zu wenden, denn w^enigstens an hervorragenden
niederländischen Malern scheint in Lyon kein Mangel gewesen
zu sein. Da finden wir^) Roboam de Masles fseit 1490), zwei
Künstler Namens Johann (seit 1492) und einen Namens Peter
(seit 1493): von allen Dreien kennen wir nur den Vornamen und
den niederländischen Ursprung; endlich hielt sich seit 1493, also
eben seit dem Jahre der Arbeit an dem Terenz, der bedeutendste
Künstler, Guillaume le Roy in Lyon auf, und an einen von diesen
muß Badius die Bitte gerichtet haben, einmal statt zum Pinsel zum
Stift zu greifen und die Zeichnungen für den Terenz nach seinen
Angaben zu entwerfen. Leider ist es nicht möglich, den Namen
dieses Meisters festzustellen; wir würden für unsere Zwecke auch
wenig Vorteil davon haben, da wir zum Zweck der Aussonderung
des speziell Theatralischen in den Terenzillustrationen andere Werke
des gleichen Meisters neben den Terenz zu legen doch nicht im
Stande sein würden. Es wird also nichts anderes übrig bleiben,
als späterhin zu solchem Vergleiche Meisterwerke des holländischen
Holzschnitts aus dieser Zeit überhaupt heranzuziehen; einigermaßen
wird sich dafür die große Lübecker Bibel vom Jahre 1494 eignen,
die es hinsichtlich der Schönheit ihrer Bilder mit den ihnen künstle-
risch nahe verwandten Terenzbildern wohl aufzunehmen vermag.
Denn immerhin: so viel des tatsächlich auf dem Theater niemals
Gesehenen in diesen Bildern steckt, so mag doch anderseits auch
durch die Psyche des darstellenden Künstlers manches von Reminis-
zenzen an jene auch von Badius herangezogenen flandrischen
11 In den Leistungen der damaligen niederländischen Holzschneidekunst zwischen
holländischer und vlämischer Art einen Unterschied zu machen, wird wenigstens vorläufig
nicht angehen.
2) Vgl. Rondot S. 39.
318 Der Straßburger Terenz.
Ritterspielaufführungeii auf diese hypothetischen Terenzaufführungen
übertragen und so in die Bilder hineingekommen sein.
Wie Badius diesen Künstler im einzelnen unterstützt hat, haben
wir mehrfach festzustellen versucht; daß der Codex^), der mit
seinen alten Terenzbildern für die Gesamtanlage des neuen Druckes
und für die Auffassung der Dekoration eine so bedeutende Rolle
spielte, für die Anlage der Bilder im einzelnen keine Wichtigkeit
gehabt hat, ist von vornherein wahrscheinlich und zeigt sich bei
der Vergleichung im einzelnen ganz deutlich: Badius hat ihn 1493
gewiß nicht zur Hand gehabt und sich lediglich an seine Erinnerung
gehalten, die eben doch nur den Gesamteindruck bewahrt hatte.
Und ebensowenig scheint Badius oder der Künstler jenen deutschen
„Eunuchus" vom Jahre 1486 gekannt zu haben, obwohl es an sich
keineswegs ausgeschlossen wäre, daß der Schwiegersohn eines der
Abstammung nach deutschen Buchdruckers, der Freund vieler
deutscher Humanisten auch für diesen deutschen Terenz Interesse
und Verständnis gehabt hätte.
Der Straßburger Terenz.
Daß der in Straßburg bei Johannes Grüninger im Jahre 1496
erschienene Terenz auf den Lyoner Druck als auf sein Vorbild in
jeder Hinsicht zurückgeht, brauchen wir nicht erst durch einen
Vergleich der Bilder zu erweisen: schon auf dem Titelblatt wird
verheißen, daß diese Ausgabe unter anderm auch die Erläuterungen
des Guido Juvenalis und des Badius Ascensius bringen werde, und
wenigstens der Kommentar des Badius war damals eben nur in
dem Lyoner Terenz zugänglich. Tatsächlich bekundet aber dann
auch die Gesamtanlage der Illustrationen die Anlehnung ganz deut-
lich. Freilich: das Bild des Dichters fehlt hier, und an seiner
Stelle wird schon auf dem Titelblatt eine Gesamtdarstellung des
theatnim gegeben; aber es zeigt sich, daß das nur ein Notbehelf
ist : denn nach dem Schluß der Einleitung, genau auf dem gleichen
Platze wie im Lyoner Terenz, findet sich dieses Theaterbild noch
einmal. Offenbar ist das Bild des Terenz für die Herstellung der
Ausgabe nicht rechtzeitig fertig geworden; es taucht im näch-
sten Jahre in dem von Grüninger besorgten Druck der Locher-
scheu Tragödie „De Turcis" und an der Spitze des 1498 bei Grü-
ninger publizierten Horaz als Bild dieses Dichters auf. Im übrigen
ist dann auch hier im Straßburger wie im Lyoner Terenz Szene
für Szene der sechs Komödien durch ein besonderes Bild illustriert.
Von sechs sehr interessanten Vollbildern, die die Straßburger
Ausgabe ganz aus eigenen Mitteln beisteuerte, wird weiterhin noch
die Rede sein.
1) Sei es der von Paris oder der von Rom
Der Straüburger Tereiiz. 319
Diese ganze Ausgabe nun '), so eng sie sich an den Lyoner
Druclc anzuleimen scheint, ist doch nicht etwa eine bloß kompila-
torische Nachahmung, die ohne gelehrte Hilfe zu Stande gekommen
sein könnte; schon die Durcharbeitung der rein gelehrten Beigaben
zeigt das ganz deutlich. Ob sich der Drucker Johannes Grüninger
eines besonderen gelehrten Ratgebers bedient hat oder ob seine
eigene Magisterbildung der Aufgabe gewachsen war, wird sich nicht
entscheiden lassen. Die gelehrte Tätigkeit muß sich aber auch
hier in Straßburg nicht nur auf Text und Anmerkungen, sondern
auch auf die Bilder erstreckt haben. Wieder ziehen wir zum Be-
weise die Illustration zur ersten Szene der „Andria" heran: hier
hat der Straßburger Künstler zwar im Anschluß an die ent-
sprechende Lyoner Illustration dem einen Sklaven Holz auf die
Schulter geladen, den andern aber läßt er offenbar mit Rücksicht
auf jene von Badius verschmähte Erklärung des istaec durch ediilia
einen Korb mit Gänsen und andern Lebensmitteln ins Haus
tragen. Dem gleichen Bilde zur ersten Szene (Abb. 43, s. u.
S. 323) möchte man auch die Vermutung entnehmen, daß für
die Straßburger Illustrationen wiederum auf die alten Terenz-
zeichnungen aus der karolingisch-ottonischen Periode Rücksicht
genommen sei: der freigelassene Sosia wird hier in Überein-
stimmung mit der alten Auffassung und im Gegensatz zu der
Lyoner Darstellung als Koch mit dem Kochlöffel vorgeführt.
Das ist aber auch wohl der einzige Punkt, an dem eine solche
Ähnlichkeit hier in Straßburg hervortritt. Und im übrigen zeigt
es sich, daß der Gelehrte, der die Anlage dieser Straßburger Bilder
beaufsichtigte, von dem Wesen des antiken Theaters viel weniger
wußte als der Lyoner Humanist, an den er sich anlehnte; daß
zwar auch bei ihm Bewußtsein von dem Zusammenhang zwischen
antiken und modernen theatralischen Darbietungen vorhanden war,
daß er aber viel unphilologischer als jener die mittelalterlichen Vor-
stellungen der geistlichen Aufführungen auf offenem Platze auf die
Antike übertrug.
Dieser Mangel an eigentlichem Verständnis erweist sich zu-
nächst auf dem Titelbild, das das ganze Theatriim vorführt. Zu-
vörderst ist hier das, was uns in der Lyoner Illustration bereits als
mißverstanden erscheinen mußte , noch einmal mißverstanden
worden; anderseits hat die Straßburger Darstellung mit einer
gewissen Energie die falsche Renaissance ins rein Gotische, das
unmögliche Theatergebäude in einen Teil des Zuschauerraums ver-
wandelt. Freilich kommt auf diese Art nun eine Mischung zu
l) Hain N. 15431. In nicht wenigen Bibliotheken erhalten; unsere Reproduktionen
nach einem Exemplar der Berliner Kgl. Bibliothek. Das Original der Abb. 4 1 ist 24,4x16,2 cm-
das der Abb 46 24,8x16,5 cm groß; die Szenenbilder messen im Durchschnitt 8,8x15,6 cm.
320
Der Straßburger Terenz.
Al)l). 41. Stral.^l)urger Terenz: IJesamtdarslellung des Theaters.
GesainttheateriiarsIcUung im Straßhurger Terenz. 321
Stande, die auch wieder keiner Wirklichkeit ganz entspricht; die
hier beigegebene Reproduktion zeigt einen Aufbau, der architekto-
nisch ganz und gar undenkbar ist: eine Ornamentik zumal, die
unter keinen Umständen irgendwie in Stein übersetzt werden kann.
Nicht zu errichten ist auch der seltsame, balkenartige Turm, um
den zwei sich nach oben verjüngende Balkons sich ziehen; die
Überdachung bleibt ganz im Zeichnerischen stecken, und die
noch am ehesten ausführbare untere Etage, die dem Unterbau des
Lyoner Theaters ziemlich treu nachgebildet ist, entspricht wohl
auch schwerlich einem tatsächlich einmal vorhanden gewesenen
Bauwerk. Wie in Lyon ist das Publikum auf drei Etagen verteilt:
außer den beiden Balkons bieten die Kellerluken Plätze fih' einige
Zuschauer; viel geringer aber ist deren Zahl, so daß wir die einzel-
nen sehr genau unterscheiden können, wie sie über die Brüstung
der Balkons sich beugen und den Blick nach unten richten: nicht
geradeaus, wie das in Lyon der Fall ist, wo die Zuschauer dem
hier ganz fehlenden Proscenium gerade gegenüber sitzen. Über
den mittleren Teil des unteren Balkons ist ein Teppich gebreitet,
auf den die vornehmsten Zuschauer beim Herabsehen sich lehnen^).
Keine Treppe führt hier, wie es auf dem Lyoner Holzschnitt der
Fall ist, von unten zum Zuschauerraum. Die unten postierten
Personengruppen sind nun zwar, wie man sieht, durchaus im An-
schluß an das Lyoner Bild entstanden. Aber sie haben ganz und
garnicht den Sinn, den wir dort erkannt haben; die Inschrift
Foinices für das untere Stockwerk ist fortgefallen, und der Straß-
burger Nachahmer hat offenbar keine Ahnung davon gehabt, daß
er hier die galanten Bewohnerinnen der Fornices und ihre Besucher
zu etwas ganz anderm umbildete. Die Frau zur Rechten kniet
nicht mehr vor dem Soldaten, sondern steht nun vor ihm in
ruhiger Unterhaltung; bei der Gruppe auf der entgegengesetzten
Seite ist aus der aufdringlichen Zärtlichkeit ebenfalls ein harm-
loses Gespräch geworden, und aus dem Liebespaar in der
Mitte hat sich ein alter Mann mit einem Knaben entwickelt;
die Bewohner der kellerartigen Gewölbe sind, wie wir sahen,
zu einem Teil des Publikums geworden: hier liegt wohl eine
falsche Ausdeutung der caveae des antiken Theaters vor, des terminus
technicus für die Zuschauerplätze überhaupt, den der Herausgeber aus
Plautus oder Cicero kennen mochte. Kurzum: an diese Stelle, an der
Badius eine doch natürhch auch seiner Ansicht nach nur ganz lose
mit dem Theater verbundene Einrichtung unterbrachte, ist hier in
Straßburg die eigentliche Bühne, der Schauplatz der Handlung ver-
legt. Kein Zweifel : der Illustrator und sein gelehrter Berater haben
1) Auf ähnliche Teppiche lehnen sich die von Fenstern heral) dem Turnier zuschauen-
den Personen auf einem schönen Holzschnitt zum Chevalier delibere (ed. Lippmann:
London, Bibl. Soc. 1897 bl. 27j.
Herrmann, Theater. Ol
322
Die Straßburger Szenenbilder und die Ulmer und Lyoner Holzschnitte.
hier die mittelalterliche Bühnenvorstellung wieder eingeschmuggelt.
Denn im Mittelalter stand das Publikum nicht immer nur um den
Platz herum, sondern es waren, wie wir aus archivalischen Nach-
richten wissen, wohl auch Gerüste errichtet, auf denen zumal die
vornehmsten Zuschauer ihren Platz fanden ij. Solch ein Gerüst
also stellt offenbar das Straßburger Theaterbild dar, nur daß es
anderseits uns auch wieder ganz und gar nicht als eine getreue
Nachbildung der Wirklichkeit gelten kann, weil es ja doch auch
die Anlehnung an das ganz anders geartete Lyoner Bild nicht auf-
geben mochte.
Wenn wir uns nun der Betrachtung der Szenenbilder zuwenden,
so tritt der Zusammenhang mit den Lyoner Bildern auch hier
wieder sofort deutlich hervor: gleich auf dem ersten Bild (Abb. 42)
Abb. 42. Straßburger Terenz: Andria, Prolog.
verneigt sich an Stelle des Prologs hier wie dort (vgl. Abb. 32, o. S. 305)
jener Calliopius, der, wie schon öfter bemerkt worden ist, sich in
der Phantasie der Humanisten aus der Rolle des alten Texterklärers,
der er tatsächlich gewesen ist, in die des Prolog- und Epilogsprechers
der terenzischen Lustspiele hat versetzen lassen müssen. Anderseits
wird bei der genaueren Betrachtung dieser Szenenbilder nun alsbald
klar, daß der Künstler neben dem Lyoner Terenz auch den Ulmer
„Eunuchus" zur Hand gehabt haben muß : sein Parmeno z. B. (Abb.
44) ist ohne das Vorbild, das der Ulmer Phaedria gab (vgl. Abb. 23,
o. S. 295), mit seinem langen Haar, dem großen Federbusch, dem
kurzen Mäntelchen nicht zu denken, und wenn die Gestalt der
Pamphila auch in der Szene II, 2, in der sie zuerst auftritt, nur in
der Haltung an das Ulmer Vorbikl eriiniert, so ist doch der auf-
1) Nachweise für Frankreich beiBapst, Essai sur riiistoiro du tlieatre (Paris 1893)
S. 23 f.
Clichesystem.
323
fallende Zug, daß sie dort in Ulm mit der Harfe im Arm dargestellt
wird, wenigstens auf dem noch zu besprechenden, zum „Eunuchus"
gehörenden Gesamtbild (Abb. 46, S. 327) getreulich nachgeahmt. Die
Technik aber, mit der die einzelnen Gestalten nun vorgeführt
werden, ist von der Ulmer nicht minder als von der Lyoner Art
Abb. 43. Straßburger Terenz: Andria I, 1.
Abb. 44. Stral.U)iir}.r(.r Terenz: Eiiniichus 11,2 iv, 270 ff.i.
verschieden. Während wir auf den an diesen beiden Orten ent-
standenen Bildern die einzelnen Gestalten in wechselnden Stellungen
mit verschiedenen Geberden vorgeführt finden, ganz so wie es die
jeweilige Situation verlangte, sind die Gestalten hier zu völliger
Starrheit verdammt. Der Drucker arbeitet mit Cliches. Diese
Technik ist nun freilich in der Geschichte der deutschen Bücher-
illustration nicht unerhört: schon der älteste Druck eines deutschen
21
324
Clichesystem: Personen.
Buches , die Ausgabe von Boners „Edelstein" , die 1461 bei Pfister
in Bamberg erschienen war, zeigt einen Wechsel von drei Cliches,
durch die zu den einzelnen Fabelillustrationen drei verschiedene
Männergestalten in regelmäßigem Wechsel herangesetzt werden.
Die Ausnutzung solcher Cliches fürs Dramatische aber ist etwas
durchaus Neues und nichts Vorteilhaftes, denn nur ganz selten
entschließt sich der sparsame Drucker wenigstens für den Fall, daß
etwa eine Person im Zusammenhang mit einem neuen Requisit ge-
zeigt werden muß, ein besonderes CHche für diese Scene anfertigen
zu lassen, wie es z. B. in der „Andria" für die Mysis in der Kinder-
aussetzungsszene der Fall ist; gewöhnlich wird bis zur Sinnlosig-
keit gespart, und Chaerea zum Beispiel, der doch nur dadurch
ins Haus seiner Angebeteten kommen kann, daß er sich durch das
Abb. 45. Straßburger Terenz, Einiuchus IV, 7 (v. 77 ff.).
Eunuchenkostüm unkenntlich macht, wird uns dort ganz ruhig in
seiner gewöhnlichen Kleidung vorgeführt. Auch sonst zeigt sich
der Geiz des Verlegers in nicht eben geistreicher Art: wenn z. B.
in den späteren Komödien mehrere Namen wieder auftauchen, die
der Dichter schon in einer früheren verwendet hat, so werden für
ihre Träger nun flugs die dort benutzten Cliches wieder heraus-
geholt. Die Folge davon ist die, daß der größte Reiz der Ulmer
wie der Lyoner Bilder hier völlig fehlt: das Leben. Die Personen
stehen immer wieder in gleicher Stellung da, selbst wenn es den
Anforderungen der Handlung völlig widerspricht, und von einer
Gruppenbildung z. B. kann eigentlich nirgends die Rede sein. Nur
an zwei Stellen hat Grüninger offenbar eingesehen, daß seine gar
zu haushälterliche Art sich unmöglich durchführen ließ: in der Szene
Eunuchus IV, 7 (Abb. 45), wo Thraso sein seltsames Kriegsvolk zur
Belagerung der Thais heranführt, und Adelphi II, 1, wo drei Personen
Clichesystem : Lokales. 325
einander in den Haaren liegen. Hier ist das Clichesystem aufge-
geben, und der Künstler hat zwei selbständige Bilder liefern
dürfen, die sich in der Komposition offenbar an das Lyoner Vor-
bild halten.
Das gleiche Clichesystem aber ist nun auch für die Dar-
stellung des Lokalen in Anwendung gekommen, und vielleicht hat
es sogar von hier seinen Ausgang genommen. Der Straßburger
Illustrator und sein Beirat haben sich nämlich weder entschließen
können, die seltsamen Schwimmzellenhäuser des Badius zu über-
nehmen: die widersprachen gar zu sehr ihren mittelalterlichen
Bühnenvorstellungen; noch konnten sie bei der Notwendigkeit, die
Bilder kleiner zu gestalten als in Ulm , die dortige Anlage von
Straßen und Häusern nachahmen. So kommt wieder eine seltsame
Mischung zweier heterogener Elemente zu Stande. Die rahmen-
artige oblonge Form der Lyoner Zellen wird beibehalten, in diese
Form hinein aber wird die Architektur der modernen deutschen
Häuser in der Ulmer Art gezeichnet. Die Bühne der „Andria" im
Lyoner Terenz wird auf solche Weise gewissermaßen in vier Cliches
zerschnitten, und mit diesen vier Häusercliches hat der Straßburger
Drucker in der Hauptsache die Darstellung der Dekoration für
sämtliche sechs Lustspiele bestritten, indem er das sinnlose Ulmer
Prinzip, in keiner Szene dieselben Häuser zu zeigen wie in der
vorhergehenden, nun auch seinerseits durchzuführen suchte. Je
nachdem nach der Nebeneinanderordnung der in der Szene auf-
tretenden Personen noch Platz blieb, werden ein, zwei oder drei
Häusercliches ihnen an die Seite gestellt; zuweilen finden wir auch
gar keine. Außerdem hat der Drucker noch zwei verschiedene
Baumcliches zu seiner Verfügung, die er namentlich da anwendet,
wo es sich um Selbstgespräche handelt: wer einen Monolog zu
halten hat, wird meist von zwei Bäumen eingeschlossen, und wenn
zwei Personen eine dritte, die auf der Szene ist, nicht sehen oder
hören sollen, wird ein Baumcliche zur Trennung benutzt. Mit dem
gleichen Mittel arbeitet der Drucker auch, wo er nach dem Vor-
bild des Ulmer Drucks eine Person, deren Herannahen in den
letzten Worten einer Szene erwähnt wird, bereits vorführt; einmal
(Andria IV, 4) ist sie statt durch einen Baum gar durch ein Haus-
cliche von den übrigen Personen getrennt. All das hat, wie man
leicht sieht, weder mit lebendiger Vorstellung noch mit irgend
einem wirklichen oder möglichen Theater das Geringste zu schaffen.
Man hat die Straßburger Bilder trotzdem deshalb für theater-
geschichtlich wichtig erklären wollen i), weil diese schmalen Häuser-
cliches vorbildhch für die Anlage von Coulissen hätten werden
1) Vgl. Roetlie: ADA. 26, S. 16. R. spricht übrigens nicht vom Terenz, sondern
von der nach dem gleichen Prinzip illustrierten Türkentragödie Lochers (Straßburg 1497).
326 Clichesystem der Szenenbilder. Gesamtbilder zu den einzelnen Komödien.
können. Der zu Grunde liegende Gedanke ist gewiß richtig, und
wir werden alsbald sehen, daß in einem andern Lande ein Einfluß
der Dramenillustration auf die Einrichtung der lebendigen Bühne
sehr wahrscheinlich ist; die Voraussetzung für das Zustandekommen
solcher Wirkung ist doch aber wohl die, daß die Technik der be-
^ --ffonden Drci^ienillustrationen in vielen Auflagen lange Zeit hin-
durch immer wiederholt wird und daß sie anderseits durchaus
auf die bildliche Ausschmückung dramatischer Werke be-
schränkt bleibt. Beides aber ist in Bezug auf die hier behandelte
Technik nicht der Fall. Nach dem Jahre 1499 ist Grüningers Terenz
in dieser Ausstattung nicht wieder aufgelegt und kein anderes
Drama in der gleichen Weise illustriert worden, und wenigstens
in Deutschland hat keine einzige andere Druckerei dieses System
übernommen. Dagegen verwendet es Grüninger selbst noch Jahr-
zehnte hindurch für andere, nicht dramatische Werke: schon
im Jahre 1498 für den von Locher besorgten Horaz und dann
weiterhin bis in die 20 er Jahre des 16. Jahrhunderts hinein sogar
für volkstümliche, erzählende Werke in deutscher Sprache, so z. B.
für die Ausgabe des Eulenspiegel vom Jahre 1515. So ist ein Einfluß,
der das mittelalterliche ins moderne Theater hätte umwandeln helfen,
von diesem Straßburger Terenz schw^erlich ausgegangen.
Die mittelalterlichen Theateranschauungen der Veranstalter
dieses Druckes treten nun aber vor allen Dingen in den sechs
großen Bildern hervor, deren je eines jedem terenzischen Lustspiel
gewidmet ist und von denen wir bis jetzt noch nicht gesprochen
haben. Hier sind geradezu die terenzischen Dramen als mittel-
alterliche Spiele arrangiert. Wir brauchen nur einen der Pläne des
geistlichen Theaters, also etwa die Donaueschinger Skizze, daneben
zu legen, um die Verwandschaft sofort zu empfinden. Auch diese
so gänzlich unantik inszenierten imaginären Terenzaufführungen
finden auf offenem Markte statt. Auch hier sehen wir zwei Reihen
von Häusern nebeneinander errichtet, zwischen denen die handeln-
den Personen sich hin und her bewegen. Die S. 327 nachgebildete
Zeichnung für den „Eunuchus" mag das deutlich machen. Auf der
linken Seite finden wir im Hintergrund das Haus der Thais; die
Herrin steht mit ihren Dienerinnen Pythias und Dorias davor; vorn
sehen wir Chremes vor einem besonderen Hause: ganz im mittel-
alterlichen Sinne, obwohl er eigentlich vom Lande in die Stadt
hereinkommt. Die rechte Seite dagegen zeigt uns im Hintergrunde
das Haus oder richtiger gesagt die Häuser des Laches: er und
seine beiden Söhne Chaerea und Phaedria stehen davor, im Hinter-
grunde sitzt Chaereas Freund Antipho, undPhaedrias Sklave Parmeno
führt die Mohrin und den Eunuchen nach dem gegenüberliegenden
Hause der Thais. Ganz vorn rechts endlich ist Thraso zu Hause,
der mit seiner Leibwache im Vordergrund steht, während etwas
Straßburger
Gesamtdarstellung des „Eunuchus".
327
Abb. 46. Straßburger Terenz:
Gesamtdarstellung des ,Eunuchus-
328 Die Straßburger Gesamtbilder und das mittelalterliche Theater.
weiter zurück Gnato mit der Pampliila soeben vom Hause sich weg
begiebt; eine Handbewegung des Gnato deutet an, daß er das
Mädchen zum Hause der Thais hinüberbringen will. Im Zentrum
der freibleibenden Mittelgasse endlich steht, keinem Hause zuge-
hörig, die Amme Sophrona. Ganz eigentümlich sind die völlig
unillustrativen Striche, die quer durch das Bild gehen. Sie führen
hier von Thais zu Thraso, von Thais zu Phaedria, von Chaerea zu
Pamphila und endlich von Pamphila zu Chremes und deuten
also in den ersten drei Fällen die Liebesverhältnisse des
Stückes, im letzten das durch die Hausanordnung noch nicht
gegebene verwandtschaftliche Verhältnis an. Auf den andern
Bildern wird ein solcher Strich auch wohl zur Bezeichnung
der Richtung benutzt, in der sich die betreffende Person zu be-
wegen hat. Überhaupt ist eigentlich das Bild zur „Andria" noch
charakteristischer als das zum 'Eunuchus', das wir hier aus andern,
oben (S.323)gekennzeichnetenRücksichten wiedergegeben haben. Auf
jenem wird die Übersetzung des Dramatischen im antiken Sinne
ins Episch-Theatralische nach mittelalterlicher Art ganz besonders
deutlich. Die „Andria" hat bekannthch eine besonders große Vor-
geschichte, die sich im Laufe des Dramas, das nur die Katastrophe
bringt, allmählich enthüllt. Für die mittelalterliche Dramatik ist
diese allmähliche Enthüllung undenkbar: da wird kaum etwas er-
zählt, sondern tatsächlich alles vom Anfang bis zum Ende vor
Augen geführt, und so ist denn auch hier bei der mittelalterlichen
Inszenierung der „Andria" die ganze Vorgeschichte mit auf das Bild
aufgenommen. Sämtliche Personen, auch die, die nur im Dialog
genannt werden, stehen vor unsern Augen, so z. B. am Hause des
Chremes dessen Tochter Philomela ; ja sogar der tote Phania wird uns
nicht erspart: er schwimmt hinten im Meere bei der Insel Andros,
die ebenfalls mit aufs Bild gekommen ist; ganz korrekt dem Wort-
laut der Terenz entsprechend ist die bildliche Darstellung der Vor-
geschichte freilich nicht. Und besonders eigenartig ist es, daß das
Bild uns die Glycerium, die doch bei Terenz überhaupt nicht
auftritt, nicht weniger als dreimal vorführt: als kleines Kind auf
dem Floß im Meere, dann als Wöchnerin im Hause der Chrysis
und endlich ganz vorn am Hause des Chremes, als dessen Tochter
sie schließlich erkannt wird. Das entspricht ihrer epischen Be-
deutung für die Handlung oder, was dasselbe sagen will, der
theatralischen Stellung, die ein mittelalterliches Spiel, das ihre
Geschichte dramatisiert hätte, ihr hätte anweisen müssen. Ähn-
lich sind die Bilder zum „Heautontimoroumenos" und zum „Phormio";
auf dem letztgenannten Holzschnitt ist besonders das für die drei
Freunde Hegio, Cratinus und Crito gegebene Haus in unserm Sinne
höchst interessant. Das Bild zu den „Adelphi" dagegen ist schon
durch einen bedenklichen Inszenierungsfehler entstellt, und bei
Der Baseler Terenz. 329
dem letzten Stück, der „Hecyra'', ist dem Künstler oder seinem Bei-
rat Aufmerksamkeit und Sorgfalt ganz verloren gegangen.
Immerhin sind also diese Vollbilder, obwohl sie ja nicht wirk-
hch stattgehabte Vorstellungen wiedergeben, sondern sie nur fin-
gieren, für das Studium des mittelalterlichen Theaters von großer
Bedeutung, und in dieser Hinsicht wird es sich empfehlen, andere,
nicht theatralische Darstellungen des Straßburger Künstlers zum
Vergleich heranzuziehen. Ein solcher Vergleich käme ferner für
die beiden nicht clichemäßigen Szenenbilder in Betracht; aber auch
in der Gesamtleistung ist noch ein Element vorhanden, das viel-
leicht bei der Durchführung des Vergleiches eine theatergeschicht-
liche Ausbeute liefern könnte: zwar ergeben für das wichtige Ge-
biet der theatralischen Geberden die meisten dieser Darstellungen
unmöglich etwas, weil die Clichemanier hier gerade den Wechsel,
auf den es ankommt, zu Grunde richtet, aber wenigstens für die
Frage nach dem Theaterkostüm könnten doch auch die Cliches
etwas erkennen lassen.
Der Baseler Terenz.
Wir kommen nun zu demjenigen Teil unseres Materials, das
wir leider nur nach den Bruchstücken zu beurteilen vermögen, die
bisher von ihjn publiziert sind, das aber rein bildkunstgeschichtlich
betrachtet von allem was wir hier zu besprechen haben so ziem-
lich das stärkste Interesse einflößt. Wenigstens hat sich in der
kunsthistorischen Forschung der letzten Jahrzehnte ein Streit daran
geknüpft, der von allen Seiten mit großer Lebhaftigkeit geführt
worden und der noch heute nicht ganz erledigt ist. Ohne daß
unsere Ziele hier rein kunstgeschichtliche sind, dürfen wir vielleicht
hoffen, auch durch unsere Betrachtungsweise für die Entscheidung
der Frage einen nicht unw^esentlichen neuen Gesichtspunkt hinzu-
fügen zu können.
Die Frage lautet: rühren die Zeichnungen, die sich auf den
jetzt in der öffentlichen Kunstsammlung zu Basel aufbewahrten
hundertunddreißig Holzstöcken befinden und die das gesamte
Material zu einer neuen Terenz-Ausgabe darstellen, von Albrecht
Dürer her? Eine energische Bejahung dieser Frage ist von Seiten
desjenigen Forschers erfolgt, der zuerst ausführlicher auf diese
Zeichnungen eingegangen ist und der sich jedenfalls das Verdienst
erworben hat, einen beträchtlichen Teil von ihnen bei dieser Ge-
legenheit bekannt gemacht und durch lockende Hypothesen die
ganze Erörterung in Fluß gebracht zu haben. Daniel Burckhardts^)
1) D. Burckhardt. Albrecht Dürers Aufenthalt in Basel 1492 — 1494. München
u. Leipzig 1892).
330 Die Dürerhypotliese.
Gedankengang ist dieser: Albrecht Dürer befand sich, wie wir durch
Scheurl wissen, während seiner Wanderzeit im Jahre 1492 zuerst
in Cohnar und dann in Basel. In einem Baseler Buch ist im
gleichen Jahre 1492 ein (früher erst ins Jahr 1497 gesetzer) Holz-
schnitt, eine Darstellung des heiligen Hieronymus erschienen; den
dazu gehörigen Holzstock besitzen wir noch heut, und auf seiner
Rückseite hat der Künstler eigenhändig seinen Namen: Albrecht
Dürer von nörmergk aufgezeichnet; an seiner Urheberschaft kann
also kein Zweifel sein. Erst 1494 vermögen wir Dürer wieder
anderwärts nachzuweisen: zunächst in Straßburg und dann seit
Pfingsten daheim in Nürnberg. Es fällt nun ungemein auf, daß in
der dazwischen liegenden Zeit eben in Basel, wo wir Dürers Tätig
keit im Dienste des Buchdrucks jetzt sicher festgestellt haben,
eine Reihe hervorragender Holzschnitte gezeichnet und geschnitten
worden sind. Unter ihnen treten zunächst jene Terenzbilder her-
vor, die uns hier besonders angehen ; nicht das ganze Werk schreibt
Burckhardt Dürer zu, obwohl er die nahe Verwandtschaft sämt-
licher Zeichnungen nicht verkennt, sondern wesentlich nur die
Bilder, die zu den beiden Lustspielen „Andria'' und „Eunuchus" ge-
hören. Die Holzstöcke, auf denen sie erhalten sind, lassen sich in
den 40 er Jahren des 16. Jahrhunderts als Eigentum der Buchdrucker-
familie Amerbach nachweisen; zu Amerbach stand der große Nürn-
berger Buchdrucker Koberger in nahen Geschäftsbeziehungen, Ko-
berger aber war Albrecht Dürers Pate^), und so sind die äußeren
Bedingungen für die Möglichkeit der Annahme gegeben, daß Amer-
bach zwischen 1492 und 94 den ihm von Nürnberg her empfohlenen
jungen Künstler in den Dienst einer von ihm geplanten illustrierten
Terenzausgabe gestellt habe. Die innere Richtigkeit der These be-
müht sich Burckhardt zu erweisen, indem er auf die enge sti-
listische Verwandschaft zwischen dem heiligen Hieronymus und den
Terenzbildern hinweist und zugleich auf die Schongauerischen Ele-
mente in diesen Terenzzeichnungen deutet; Einflüsse der Schon-
gauerischen Schule mußten für den jungen Dürer gelegentlich
seines Colmarer Aufenthalts besonders wichtig geworden sein.
Wenn wir nun sehen, daß im Jahre 1493 zu Basel eine Ausgabe
des „Ritters vom Thurn" herauskommt, die zu der Kunstart der
Terenzzeichnungen in allernächster Beziehung steht, wenn dann
1494 in der berühmten Ausgabe von Brants Narrenschiff der
gleiche Meister wiederum stark vertreten ist, so glaubt Burckhardt
den Satz erwiesen zu haben, daß eine bisher dunkle Zeit in Dürers
Leben eben durch die Tätigkeit für die wichtigsten damaligen Er-
zeugnisse des Baseler Buchdrucks ausgefüllt wird; er meint auch.
1) Für eine allerdings weit spätere Zeit sind ancli direkte Beziehungen zwischen
Dürer und Amerbacii nachzuweisen: vgl. Burckhardt S. 18.
Dio Düreiiiypothese und ilire Bekämpfuiiü. 331
daß diese Baseler Holzschnitte sich durchaus dem einordnen lassen,
was uns bisher von den Leistungen der Dürerischen Jugendzeit
bekannt geworden ist. Bisher setzte man in jene biographisch sonst
nicht erhellte Zeit Dürers erste Reise nach Italien; mit dieser
Störung seiner Annahme wird Burckhardt fertig, indem er die
Tatsächlichkeit eines italienischen Aufenthalts Dürers in den 90er
Jahren überhaupt leugnet.
Die von vielen Seiten an dieser Hypothese geübte Kritik
stürzte sich zunächst auf den schwächsten Punkt jener Beweis-
führung: auf den Versuch, Dürers ersten italienischen Aufent-
halt ganz zu bestreiten. Die Widerlegung jenes Satzes auf Grund
einer stilkritischen Beweisführung w^ar nicht schwer; die meisten
Kritiker aber begnügten sich nun damit, entweder jene Fahrt nach
Venedig noch neben die Tätigkeit in Basel wiihrend der Jahre
1492 — 94 zu verlegen oder aber Dürers ersten Zug über die Alpen
ins Jahr 1495 zu setzen und dadurch zugleich eine chronolo-
gische Übereinstimmung mit jener Andeutung Dürers in seinem
Briefe an Pirckheymer vom Jahre 1506 herbeizuführen. Im Übrigen
aber ließ man die Burckhardtsche Hypothese von dem Dürerischen
Ursprung jener Terenzzeichnungen und der andern Baseler Holz-
schnitte zunächst gelten i). Etwas später aber ist in Weisbach 2) ein
entschiedener Gegner der ganzen Dürer-These aufgetreten. Zu die-
ser i\blehnung kommt er, indem er die Frage in den bei Burck-
hardt vernachlässigten Zusammenhang der gesamten Baseler Buch-
illustration stellt. Die Geschichte dieser Baseler Holzschneidekunst
zeigt allerdings, daß im Jahre 1492 ein merkwürdiger Aufschwung
beginnt. Dürers hl. Hieronymus hat sichtlich Nachahmer gefunden;
und ebenso stimmt Weisbach Burckhardt auch darin zu, daß die
Terenzillustrationen, der „Ritter vom Thurn" und gewisse von
Weisbach besonders namhaft gemachte Bilder zum „Narrenschiff"
die gleiche Hand zeigen. Aber der Meister, der diese Werke ge-
schaffen hat, kann nicht Dürer gewesen sein: sonst müßte ja
seine Tätigkeit für den Baseler Buchdruck nach 1494, wo Dürer
Basel verlassen hat, nicht mehr nachzuweisen sein; tatsächlich
aber sucht Weisbach darzulegen, daß wir in Basel auf Leistungen
dieses anonymen Meisters noch bis zum Jahre 1499 stoßen. Und
ferner: diese Baseler Schöpfungen stimmen nicht zu dem Bilde,
das wir uns von der Art des jungen Dürers zu machen haben,
selbst wenn wir ganz von der schier unüberwindlichen Schwierig-
1) Nur zwei Forscher verhielten sich ablehnend: Thode im JbKPKunsts. 1893,
S. 201ff. und Kristeller: ASArte 1892, S. 355.
2) W. Weisbach, Der Meister der Bergmannschen Offizin und Albreclit Dürers
Beziehungen zur Baseler Buchillustration (^ Studien zur deutschen Kunstgeschichte 6),
Straßburg 1896.
332 Di*? Düreiliypothese. Datierung der Baseler Terenz.
keit absehen, daß sich nicht genügend sichere Jugendwerke Dürers
zum Vergleich mit jenen Bildern heranziehen lassen: der junge
Dürer ist in jener Zeit unbedingt noch in voller Gährung begriffen,
in dem Baseler Meister aber tritt ein völlig fertiger Künstler vor
uns, der eine Entwicklung nicht mehr vor sich hat. Dieser Baseler
Meister wird auch schwerlich für Amerbach gearbeitet haben: eine
Terenzausgabe passt gar nicht zu dem ganzen Charakter des
Amerbachschen Verlages; wohl aberweist ein Umstand, den schon
Burckhardt nachgewiesen hatte und auf den wir in unserm Haupt-
zusammenhang gleich zu sprechen kommen, ganz entschieden auf
denjenigen Buchdrucker als den Verleger der geplanten Terenzaus-
gabe hin , der das „Narrenschiff" und indirekt auch den „Ritter vom
Thurn" hat erscheinen lassen : auf Johann Bergmann von Olpe, und so
wird der Künstler der Terenzbilder als „Meister der Bergmannschen
Offizin" bezeichnet. Diesen Namen mag er behalten, obwohl jener
Versuch Weisbachs, den Plan zu einer Terenzausgabe als ein dem
Geist der Amerbachschen Druckerei völlig widersprechendes Unter-
nehmen zu erweisen, nicht geglückt isfi): warum soll der Künstler,
der vor allem für Bergmann gearbeitet hat, nicht auch einmal einen
Amerbachschen Auftrag ausgeführt haben?
Obwohl nun hervorragende Forscher durch Weisbachs Be-
weisführung überzeugt wurden, scheint die Neigung zur An-
nahme des Dürerischen Ursprungs jener Werke noch keineswegs
beseitigt.
Und eine der Annahmen, die nur innerhalb der Burckhardt-
schen Hypothese eine gewisse Berechtigung hatten'^), hat Weis-
bach ruhig mit übernommen: er setzt auch seinerseits den Baseler
Terenz ins Jahr 1493. Diese Datierung nun , die immerhin die
Möglichkeit, Dürer für den Urheber der Terenzillustrationen zu er-
klären, noch zuläßt, zeigt sich sofort als unhaltbar, wenn wir die ganze
Frage in denjenigen Zusammenhang hineinstellen, der durch den
Gang unserer Untersuchung geboten ist und den merkwih-diger
Weise alle bisherigen Behandlungen dieser Streitfrage außer Acht
gelassen haben. Wo bisher von diesen Terenzbildern die Rede
gewesen ist, sind sie so betrachtet worden, als ob sie völlig freie
Schöpfungen eines Künstlers wären oder höchstens doch den
1) Burckhardt hat neuerdings: JliPreußKunsts. 1907,8. 169 mit Recht darauf auf-
merksam gemacht, daß er schon in seiner ursprünglichen Arbeit auf Amerbachs Plan, die
Komödien der Roswitha herauszugeben, hingewiesen habe; er hafte hinzufügen können,
daß A. Ja auch Petrarca und Philelphus verlegt, also keineswegs einen Verlag rein theo-
logischen Charakters besessen hat.
2) Eine völlige Berechtigung gewiß nicht: 14(13 ist Amerbachs Verlag noch so ganz
theologischer Art, daß man ihm den Gedanken an eine Terenzausgabe tatsächlich kaum
zutrauen möchte: erst 14!).') erfolgt die Wendung zum Humanisnuis (vgl. die vorige Anm.).
i
Gesaiiitbiki des Theaters im Baseler Terenz.
333
Abb. 47. Baseler Terenz: Gesamtbild des Theaters.
gg^j. Datierung des Baseler Terenz.
Einfluß eines seinerseits wiederum ganz frei arbeitenden Gelehrten
verrieten.
Wenn wir nun wieder daran gehen, die Entstehungsgeschichte
auch dieses Baseler Terenz zu skizzieren, werden wir eben dieser
neuen Datierung zu Liebe zuerst auf einen Zusammenhang hinweisen,
der eigenthch nicht der grundlegende ist. Dieser Baseler Te-
renz kann erst nach dem Jahre (1. November) 1496 ent-
standen sein, denn die Gesamttheaterdarstellung, die auch hier
wieder beigegeben ist, ist nicht ohne das Vorbild des zuletzt be-
sprochenen, im Jahre 1496 erschienen Straßburger Terenz denkbar.
Man vergleiche nur das hier (Abb. 47, S. 333) wiedergegebene
"• , -,.-':r:tm;^Utrrfy^^^^
"■'^-
'- !
•■ i
ml
\
4'
^"^
.-^i^
;%'
ij ■■---
V"
Abb. 48. Baseler Terenz: Der Dichter.
Baseler Theaterbild i) mit der oben (S. 320) gebotenen Reproduktion
des Straßburger Holzschnitts. Aus den beiden Balkons ist hier
eine Galerie geworden, von der die Vornehmsten herab auf die
unten sich produzierenden Spieler schauen: die Vornehmsten, in der
Mitte der König; und der Teppich, der über die Brüstung des Straß-
burger Balkons gelegt war, ist auch hier wieder zu finden. Die
Possenreißer und Spielleute, die sich hier unten in der Mitte eines
zirkusartigen Raumes produzieren, merkwth'dig ähnlich übrigens
den Gauklern auf dem Theaterbild des Terence des Ducs, haben
weit mehr Sinn als die Gruppen, die in Straßburg in mißverstan-
1) Originalgrötäe 23,3>'13,8 cm, die der folgentlen Szenenl)ilder durchschnittlich
3,8x14,2 cm.
Baseler und Stiaßbiirger Terenz. ' 335
dener Nachbildung^ der Lyoner Fornices und ihrer Besucher am
Boden sich zeigen. Es ist nun gewiß nicht anzunehmen, daß etwa
die sinnvollere Baseler Darstellung zu dem Zustandekommen der
sinnloseren Straßburger beigetragen habe, und das um so weniger,
als ja das ganze Baseler Werk unpubliziert in den Schränken des
Baseler Buchdruckers ruhte ' und dem Straßburger Künstler also
schwerlich zugängUch zugänglich gewesen wäre. Der Zusammen-
hänge sind außerdem noch mehrere, obwohl man von vornherein
nicht erwarten wird, daß die unbedeutenden Straßburger Leistungen
dem hervorragenden Baseler Künstler mehr als gelegentliche An-
regung geboten haben. Inmierhin ist z. B. der Kopf des Dichters
. rvtt/>*m!.'
1 ,v.'
l
(
1
i)
!
< • . -
t
f
1!
\
i )
i 1
k
Abb. 49. Baseler Terenz: Brants Entwurf zu Andria V, -1 (v. 904 ff.).
Terenz, der in einer besonderen Zeichnung im Freien sitzend und
dichtend dargestellt wird (Abb. 48), eine Nachbildung des Kopfes
des Calliopius, der im Straßburger Terenz die ersten Prologe und
Epiloge spricht : die Darstellung der Locken und die eigentümliche
Art der Zweige, die das Haar schmücken, ist in beiden Fällen die
gleiche; und ähnliche Verwandtschaft ließe sich auch sonst an
manchen kleinen Zügen nachweisen ').
Im Übrigen aber sind andere, uns wohlbekannte illustrierte
Terenzausgaben von größerer Wichtigkeit für die Entstehung dieses
1) Mir scheint sogar die Baseler Zeichnung des Davus (Andria I, 3) die Bekannt-
schaft mit einer Gestalt vorauszusetzen, die erst in Grüningers Horaz 149 8 mehrfach
sich findet.
336
Sebastian Brant als Berater des Baseler Künstlers.
Baseler Werkes geworden. Schon vorher ist davon die Rede ge-
wesen, daß auch hier wieder ein Gelehrter an der Arbeit beteiligt
ist. Burckhardt hat auf den höchst interessanten Umstand aufmerk-
sam gemacht, daß auf der Rückseite eines der Holzstöcke sich der Ent_
wurf zu der Zeichnung einer Szene erhalten hat (Abb. 49 — 50),
der sicherlich nicht von dem Künstler selbst, sondern von einem,
übrigens recht unkünstlerischen, beratenden Gelehrten herrühren
muß, und er hat durch palaeographische Untersuchung gezeigt, daß
dieser Entwurf von dem berühmten Baseler Humanisten und Dichter
herrührt, auf den wir auch sonst zuerst raten würden, wenn wir
für die Ermittlung jenes gelehrten Beistandes auf bloße Vermutung
angewiesen wären: von Sebastian Brant i). Nicht nur kommt dieser,
\^f^^^"'" -.^^Tmv^
Abb. 50. Baseler Terenz: Andria V, 4 (v. 904 ff.l.
was die Gelehrsamkeit betrifft, hier in erster Reihe in Frage, wir
treffen bei ihm auch eine Anschauung über den Sinn der Bücher-
illustration überhaupt, die sich durchaus mit jener Ansicht deckt,
die wir in Jodocus Badius' Terenzausgabe hinsichtlich der Beigabe
von Bildern ausgesprochen fanden, und es wird sich alsbald er-
weisen, daß diese Lyoner Terenzausgabe auch hier das Vorbild für
die Gesamtanlage der Illustrationen in erster Reihe gegeben hat.
Fast wie eine Übersetzung jener oben (S. 302) zitierten Worte klingt es,
wenn Brant in der Einleitung zu seinem ebenfalls mit Bildern über-
reich ausgestatteten Narrenschiff (v. 24 ff.) sich folgendermaßen
äußert :
1) Weisbachs Bedenken a. a. 0 S. 52 vermag ich nicht zn tcih'n.
Braut und Badiiis. Baseler Terenz uiul Ulmer „Eiinuclius". 337
Vit narren, doren kamen dryn,
Der bildnisz jch hab har (jemacht.
Wer jeman, der die cfschrijft veravht
Oder villicht die nit künd lesen
Der siecht im molen wol syn wesen
Vnd findet dar Jnn, wer er ist ....
Durch einen glücklichen Zufall wissen wir auch von einer per-
sönlichen oder wenigstens brieflichen Bekanntschaft zwischen Badius
und Sebastian Brant; der Abt Trithemius muß sie um die Zeit, von
der wir jetzt reden, vermittelt haben, möglicherweise auf Brants
Wunsch, der den Herausgeber der offenbar von ihm geschätzten
Terenzausgabe persönlich kennen zu lernen wünschte, und wir be-
sitzen einen Brief und ein Gedicht, worin Badius nun seinerseits
dem großen deutschen Gelehrten und Dichter seine Huldigung dar-
brachte i). Die Gesamtanlage also der geplanten Baseler Ausgabe
lehnt sich eng an die Lyoner an : hier treffen wir, wozu der Straß-
burger Druck das Vorbild nicht bieten konnte, gerade wie in Lyon
ein kleineres Bild, das uns Terenz bei der Arbeit sitzend zeigt, dann
die schon behandelte Gesamtdarstellung des Theaters, auf der wir
auch wie in Lyon jene zum Zuschauerraum emporführende Treppe
finden, die in Straßburg fehlt, und schließlich wiederum die einzelnen
Szenenbilder, von denen wohl manche nur darum nicht vorliegen,
weil die betreffenden Holzstöcke mittlerweile in Verlust geraten
sind.
Auch im Einzelnen wird sich ein gewisser Zusammenhang
zwischen den Bildern von Basel und von Lyon nachweisen lassen,
aber wenn wir nun die Baseler Szenenbilder zu charakterisieren
haben, so muß doch zunächst der Einfluß einer andern Darstellung
Terenzischer Szenen betont w^erden, der für die Gesamtart der
Baseler Zeichnungen von der größten Bedeutung geworden ist.
Dieser Zusammenhang liegt so auf der Hand, daß man nicht genug
über die Tatsache erstaunen kann, daß er noch niemandem aufge-
fallen zu sein scheint. Eine getreue Nachbildung der Lyoner Szenen-
bilder hätte wiederum die wenn auch fingierte Vorstellung wirk-
licher Theateraufführungen ergeben; statt dessen führen eben durch
dieses weitere Vorbild die Baseler Zeichnungen zunächst wieder ganz
aus dem Theatralischen heraus. Dieses weitere Vorbild ist der Ulmer
.„Eunuchus" von 1486. Daß der Baseler Künstler sich von vornherein
an ihn hielt, mag einmal gelehrten Zusammenhang haben, es ist
aber anderseits auch im Wesen der ganzen Baseler Kunstentvvicklung
von vornherein gegeben: denn immer deutlicher tritt neuerdings die
1) Brief und Gedicht sind Renouard (vgl. o. S. 300 Anin. 3) entgangen; sie sind ge-
druckt an sehr verstecktem Orte: in einer Sammlung „ungedruckter Gedichte ober-
rheinischer Humanisten", die Holstein in der ZVLG. 6, S. 472f. veröffentlicht hat. Beide
sind vom 7. März 1-19.5 datiert.
Herrmann, Theater. 29
338
Baseler Terenz und Ulmer „Eunuchus"
kunstgeschichtliche Tatsache hervor, daß der Baseler Buchdruck,
so wie er in sprachlicher Hinsicht sich damals mehr und mehr an
die Leistungen der durch Augsburg beherrschten östlichen Nach-
barstädte anzugleichen suchte, so auch in Bezug auf die künstle-
rische Ausstattung, für die das lokale Können nicht viel vermochte.
t 'iii
TT^ / ^-
i •^^ir'T
nia
^'^^m^a :m^^ -4'|^'4 i
( I :i
Abb. 51. Baseler Terenz: Andria V, .5 (v. 957 ff.).
-1^
¥
iriAv\>--^'- , fö ■■*«
4:
'\^t
■H'r\
Abb. 52. Baseler Terenz: Eiinuclius 11,2 (v. 270 ff.).
Baseler Terenz und Uliner „Euiiuchus"
339
sich an östliche Vorbilder und besonders an die Ulmer Holzschneide-
kunst hielt 1).
Am geringsten scheint die Übereinstimmung zwischen den Ulmer
und den Baseler Bildern in Bezug auf die Darstellung des Lokalen
zu sein. Während die Straßen und Häuser im Ulmer Terenz jenen
etwas kindlichen Eindruck machen, zeigt sich hier der große Fort-
schritt in der Landschaftsdarstellung, der vor allen Dingen auf den
Einfluß der Schongauerischen Schule zurückzuführen ist. Nicht
immer begnügt sich ferner der Baseler Zeichner mit der bloßen
Vorführung von Häusern; er liebt es vielmehr, uns in die Nähe
der Peripherie der Stadt zu führen und uns so auch einen Blick
in die umliegende Landschaft tun zu lassen. Anderseits befinden
■}yf %
■'JS'.^
^Alpjf'
Abb. 53. Baseler Terenz: Eunuchus III, 1 (v. 398 ff.).
wir uns doch auch hier eben fast immer auf der Straße — nur
an den wenigen Stellen, an denen der Ulmer „Eunuchus" uns in die
Stube führt, stellt auch der Baseler Künstler ein Interieur dar — ,
auch die Richtung der Straßenzüge und die Anordnung der Häuser
ist trotz aller Unterschiede im einzelnen vielfach auf die Nachah-
mung des Ulmer Vorbildes zurückzuführen. Und vor allem ist
1) Weisbach, Die Baseler BuclüUustration des 15. .Jahrhunderts (= Studien z
deutschen Kunstgeschichte 8) Straßburg 1896 S. 13 f. ist allerdings noch geneigt, den Zu-
sammenhang im umgekehrten Sinne aufzufassen. Er hat aber auch die Abhängigkeit der
Terenzzeichnungen vom Ulmer „Eunuchus" noch nicht gesehen. Ein allgemein künstle-
rischer Zusammenhang zwischen der Ulmer Kunst der achtziger Jahre und den Leistungen
des Bergmannschen Meisters ist neuerdings wiederholt hervorgehoben worden : zuerst von
Kristeller, Kupferstich und Holzschnitt, 1. Aufl. S.42 und dann von Röttinger: .IhKunsth-
SammlKaiserh. 1907.
340 Baseler und Lyoner Terenz.
in Basel dem Ulmer Druck jenes untheatralische Prinzip entnommen,
daß uns jedes Szenenbild eine völlig veränderte lokale Situation
zeigt. Viel schlagender aber ist der Zusammenhang hinsichtlich
der Darstellung der Personen, sowohl was die Komposition der
Gruppen wie was die Tracht, die Gesichtszüge und die Handbe-
wegungen der einzelnen Figuren anlangt. Ganz besonders klar
wird das auf den Bildern zu Eunuchus II, 2 (Abb. 52, vgl. 24 u.
dagegen 38); III, 1 (Abb. 53, vgl. 26); IV, 5 (Abb. 54, vgl. 27); V, 5
und 6 (Abb. 55, vgl. 29) '). Aber auch in fast allen übrigen Szenen
(besonders noch in 1,1; IV, 4; V, 4 und 7) ist die Beeinflussung
durchaus ersichtlich.
*^::sl
J:^
v\J
w J-n./^^'"rr^ . fS£?r^i
/ -^^r^/^^ C ', y P] ^' ^^"-^
f't-,
S^>^" V..a,/ * *
^^\.
' e^T -7^^' 'a '^ ^-'
fky#:
Abb. 54. Baseler Terenz : Eunuchus IV. 5 (v. 739 ff.).
Immerhin aber konnte der Baseler Künstler eben doch nur für
den „Eunuchus" durch den Anschluß an diese Uhner Bilder ohne ge-
lehrten Beirat arbeiten; schon für die „Andria" tritt dieser in Tätig-
keit, und es zeigt sich hier nun wieder deutlich die Benutzung der
Lyoner Terenzillustrationen. Freihch nirgendswo in einem der-
artigen Anschluß, wie er sich eben für die Ulmer Eunuchus-lliu-
strationen konstatieren ließ. Es scheint alles dafür zu sprechen,
daß nur Sebastian Brant seinerseits diese Lyoner Bilder vor sich
gehabt und nach ihnen jene groben Skizzen angedeutet hat, von
denen uns die eine auf der Rückseite des einen Holzschnittes zur
1) Für die letztgenannte Szene liegen zwei einigernial5en von cinaiKlcr aliwcicluMide
Darstellungen vor; Burekhardt bezweifelt bei der zweiten die Eigenhändigkeit; ein Ver-
gleich mit dem enls|)rechenden Ulmer Bild zeigt, daß gerade seine zweite Fassung die
urspriitigliedien! ist.
Baseler und Lyoner Terenz. ' 341
Aiidria zufällig erhalten ist (s. o. Abb. 49, S. 335); der Zeichner
hat die Lyoner Holzschnitte offenbar nicht angesehen, und so ist
die rein künstlerische Beeinflussung denn auch weitaus geringer.
Daß ein enger Zusammenhang aber in dem eben angedeuteten
Sinne besteht, geht vor allem aus mehrfacher Übereinstimmung in
einer fehlerhaften Auffassung der betreffenden Szene hervor. Fiu*
Andria V, 5 mußte ein Bild gezeichnet werden, auf dem die beiden
auftretenden Personen, Charinus und Pamphilus, einander nicht zu
Gesicht bekommen; statt dessen gehen sie auf dem Lyoner Bild
(s. 0. Abb. 36, S. 309) direkt aufeinander los und scheinen sich im
nächsten Augenblick die Hand reichen zu sollen. Diesen gleichen
Fehler, auf den schwerlich zwei Illustratoren, die unabhängig von
^^^^__^ ^.R^^.ti.^. .....-_,.„,:.- __^:....>^-^.: ..«V— i.^ t-^^^TfP ^^"^
'^S«#
Abb. 55. Baseler Terenz: Eiiniichus V, 6 iv. 1002 ff.l. Zweite Ausführung.
einander arbeiteten, gekommen wären, finden wir in der ent-
sprechenden Baseler Zeichnung (s. o. Abb. 51, S. 338) wieder;
ebenso ist auf dem nächsten Bilde, das zur letzten Szene des
Dramas gehört, die Anordnung der Personen beide Male die gleiche
und beide Male dem Inhalt des Dialogs widersprechend i). Offen-
bar war dem Künstler oder richtiger gesagt zunächst dem beraten-
den Gelehrten am Ende des Stückes die Aufmerksamkeit ausge-
gangen, mit der er an einer früheren Stelle der Komödie solche
Fehler gewiß bemerkt hätte. Weiter aber fällt uns auch die Über-
einstimmung auf nicht fehlerhaften Bildern entschieden auf. So
ist z. B. in der Szene Andria III, 1 auf beiden Bildern nicht wie
1) Für den Inhalt der Szenen darf man sich übrigens leider auf die Angaben, die
Burckhardt unter die Bilder setzt, nicht völlig verlassen.
O/io Baseler und Lyoner Terenz.
sonst ein Moment des Auftrittes illustriert, sondern wir sehen
eigentlich zwei Situationen, und die Anordnung der sprechenden
Personen ist in Basel dieselbe wie in Lyon ; ja sogar in Bezug auf
die Dekoration, wenn wir von einer solchen sprechen dürfen, ist
die Nachahmung ganz deutlich. In Lyon (s. o. Abb. 34, S. 307) ist
der Vorhang der einen Zelle etwas zurückgeschlagen, und wir er-
blicken die Andria auf ihrem Schmerzenslager, während der Dichter
nur ihre Weherufe hinter der Scene laut werden läßt ; dadurch an-
geregt hat auch der Baseler Zeichner, der sonst streng jede archi-
tektonische Unmöglichkeit vermeidet, aus der Wand des Hauses
ein großes Stück herausgebrochen, um uns da einen Blick in das
Wochenzimmer der Andria tun zu lassen. Besonders interessant ist
endlich die Szene V, 4, wo wir, wie schon erwähnt, die Brantische
Skizze (s. o. Abb. 49, S. 335) mit der ausgeführten Zeichnung
(s. o. Abb. 50, S. 336) vergleichen können i). Es ist die Szene, in der
durch Critos Aussage festgestellt wird, daß es sich mit der Andria
so verhält, wie Pamphilus seinem sehr skeptisch gesonnenen Vater
Simo vorher erzählt hatte: daß sie die Tochter des ebenfalls auf
der Szene anwesenden Chremes ist. Pamphilus und Crito treten
zusammen aus dem Hause, den beiden Alten entgegen, die sich auf
der Szene befinden. Der Lyoner Terenz hatte etwas sinnwidrig
Chremes, Simo und Pamphilus zu einer Gruppe zusammengestellt,
welcher Crito isoliert gegenübersteht. Die Brantsche Skizze rückt hier
schon sinnvoller den Pamphilus zu Crito, behält im übrigen aber
die Anordnung des Vorbildes bei. Merkwürdig ist es nun zu sehen,
daß unter dem Stift des Künstlers die Darstellung noch weit mehr
an Sinn gewonnen hat. Er hat Pamphilus und Crito umgeordnet,
und nun ist die Situation genau so, wie der Anfang der Szene sie
vorschreibt: Crito zieht den noch ängstlichen Pamphilus aus dem
Hause heraus und tritt seinerseits zuerst dem ihm von Alters her
befreundeten Simo entgegen, um im nächsten Augenblick einen
Händedruck mit ihm zu tauschen. Daß der namenlose Künstler,
von dem hier die Rede ist, dem Sebastian Brant nicht selten ge-
wissermaßen geistig überlegen ist, läßt sich sehr schön bei einem
Vergleich einiger Bilder des „Narrenschiffes" mit den zu ihnen ge-
hörigen Worten des Textes feststellen 2); dort aber konnte der
Zeichner sich an die ihm verständliche deutsche Darstellung halten
und so mit völligem Verständnis ausgerüstet seinen überlegenen
Humor spielen lassen; wie aber war das hier möglich? Gab es im
15. Jahrhundert einen Künstler, der Latein konnte und der gar
einen der schwierigsten Schriftsteller, den Terenz, in der Ursprache
1) Daß der Zeichner nlclil , wie Biircl<liardt zu rasch meinte, sich einfach gelreu an
Rrants Andeutungen gehalten hatie, hat schon Weisbach, Der Meister der Bergmann-
schen Offizin S. 52 mit Hecht liervorgehoben.
2) Vgl. Weisbacli a. a. O. S. 35.
Die Baseler Bilder und die Terenzverdeiitscliiiiiif von 1499. 343
ZU lesen vermochte? Diese Frage werden wir im allgemeinen ganz
entschieden mit Nein beantworten müssen.
Und so kommen wir hier zu einer Vermutung, mit der wir die
Entstehungsgeschichte dieser Baseler Terenzillustrationen zum Ab-
schluß zu bringen gedenken. Für den „Eunuchus" war dem Künst-
ler das Verständnis des Wortlauts ohne weiteres möglich, da ihm
hier die Ulmer Übersetzung vorlag. Wie, wenn er etwa auch, zu-
nächst wenigstens für die „Andria", eine deutsche Übersetzung zur
Hand gehabt hätte? Es gab damals freilich noch keine solche.
Aber im Jahre 1499, also jedenfalls nur kurze Zeit nach der Ent-
stehung unserer Zeichnungen i), erschien in Straßburg bei Grüninger
eine deutsche Übersetzung sämtlicher sechs Lustspiele, als deren
Verfasser sich eine Gemeinschaft mit Namen nicht genannter,
hoch gelerter lüt, Doctor und meister bekennt. Die Übersetzung des
„Eunuchus", die hier an zweiter Stelle erscheint, ist aber, wie schon
früher bemerkt wurde 2), mit der Ulmer Übersetzung des Hans
Nithart so gut wie völlig identisch. Wenn wir nun also gesehen
haben, daß die Baseler Arbeit auch ihrerseits vom Ulmer „Eunuchus**
ausging, wenn die Wahrscheinlichkeit groß war, daß der Künstler
dann auch handschriftlich wenigstens eine deutsche „Andria" in der
Hand gehabt hat^), so werden wir vielleicht der Vermutung geneigt
werden, daß das ganze Baseler Illustrationswerk zunächst nicht für
eine lateinische Terenzausgabe, sondern zur Ausschmückung dieser
deutschen Terenzübersetzung bestimmt war, die dann also ursprüng-
lich in Basel bei Johannes Bergmann hätte erscheinen sollen. Wir
würden damit zu der literarhistorisch immerhin wichtigen Hypothese
kommen, daß an dieser ältesten deutschen Gesamtübersetzung des
Terenz Sebastian Brant in hervorragendem Maße beteiligt gewesen,
daß er einer der hochgelerten lüt, Doctor und meister gewesen ist.
Wer aber war der zweite Doctor und meister, der hier mit
am Werke war ? Ich glaube, man wird zunächst auf keinen andern
raten können als auf den Doktor Jakob Locher. Er hat für den
Straßburger Drucker Grüninger 1499 die zweite Auflage des latei-
nischen Terenz mit einer Vorrede ausgestattet, und diese Tätigkeit
ist jedenfalls nicht nur auf eine zufällige und gelegentliche Be-
stellung zurückzuführen, sondern entspricht durchaus dem innersten
Interesse Lochers für den römischen Komiker. Locher ist selbst
seit der zweiten Hälfte der 90 er Jahre einer der fruchtbarsten
humanistischen Dramatiker geworden ; aber nicht auf Grund dieser
selbständigen Leistungen möchten wir ihm die Teilnahme an der
deutschen Terenzübertragung zuschreiben, denn in seinen eigenen
1) Vgl. auch 0. S. 335, Anm. 1.
2) Vgl meine Angaben: MGDESchG 3. S. 20 f.
3) Wie er in dieser Hinsieht für die übrigen Stücke ausgerüstet war, läßt sich bei
der Unmöglichkeit, das Material ganz zu überschauen, vorläufig nicht ausmachen.
344 Lochers Anteil an der Terenzverdentschung.
Dramen ist die Anlehnung an Terenz keine starke. Wohl aber
leitet uns Lochers ganze Jugendgeschichte in die Bahnen, die zu
einer von dem Ulmer deutschen „Eunuchus" ausgehenden, mit Brant
gemeinsam verfaßten Übertragung des ganzen Terenz führen
konnten. Gerade in Ulm nämlich und zu der Zeit, als dort das
Werk des Hans Nithart erschien, hat Locher die lateinische Schule
besucht (1483 — 87)i). 1487 kam er darauf nach Basel, um Sebastian
Brants treuester Schüler zu werden. Und als er dann über die
Alpen zieht, um an italienischen Hochschulen den feinsten huma-
nistischen Schliff sich zu erwerben, treffen wir ihn alsbald in Hör-
sälen, in denen das Interesse für eine intime Beschäftigung mit
der römischen Komödie nur genährt werden konnte. In Padua saß
er zu den Füßen des Johannes Calphurnius, der einer der berühm-
testen damaligen Terenzspezialisten war; in Pavia hörte er bei
Baptista Pins, der sich durch seine gelehrte Arbeit am Plautus
einen Namen in der Weltliteraturgeschichte erworben hat; auch in
Ferrara scheint er für kurze Zeit gewesen zu sein, ohne daß wir
freilich seine Anwesenheit bei einer der berühmten Renaissance-
vorstellungen nachzuweisen vermöchten. Nach seiner Heimkehr
1494 nimmt er dann die alten Beziehungen zu Sebastian Brant
wieder auf, und wir sehen die beiden Männer vereint in dem Be-
streben, hervorragende Werke gleichzeitig lateinisch und deutsch
dem Publikum zugänglich zu machen: Locher hat bekanntlich
Sebastian Brants „Narrenschiff" mit dessen Genehmigung in die la-
teinische Form übertragen, die dem Werke einen europäischen
Erfolg verschaffen half. So wird sich die Vermutung durchaus
rechtfertigen lassen, daß umgekehrt nun Brant ihn heranzog, als
es galt, dem lateinischen Terenz einen deutschen an die Seite zu
stellen. Es kommt dazu, daß Lochers Theateranschauungen mit
den Tendenzen, die uns in den Baseler Zeichnungen und im deut-
schen Terenz von 1499 entgegentreten , durchaus übereinzustimmen
scheinen. Sein Verständnis vom Wesen des antiken Theaters ist
nämlich ein höchst geringes: ihm scheint jenes seltsame, aller Wirk-
lichkeit völlig widersprechende Grüningersche Terenzbild der echten
Antike aufs Glänzendste zu entsprechen, wie er das in jenem Vor-
wort zur zweiten lateinischen Terenzausgabe höchst charakteristisch
auseinandersetzt 2); wer solche Anschauungen hatte, der wird gewiß
1) Vgl. Hehle, Der schwäbische Humanist Jakob Locher (Ehinger Programm 1873)S.9ff.
2) In hoc opere Amphitheatri spatiosiis circiilits conspicitiir , subsellia theatrica
aiileis amicta , tapetis ornata ostroque Thyrio decorata et sijnthesi quadam elegantissima
picluri.sqiie admiraiitibiis vennkiilata cennintiiv. In caveis staut ordines spectantiiim , in
Ncannnati et proscenio histriciis imperator cum delegala ludionnm caterva f/estit plansuni-
qiie ab spertatoribus aucupiitur. Quis non existiniet, cum pktum spectaculnm e/'fi(/iala.s-
qne fabellas in hoc f'acundissimo ac politissimo opere conspicit , se Romanum Pompeia-
inimque theatrum invisere: viva omnia sunt, quae tarnen ad umbram tlieatricani, ad haie-
nam palest licam ac vitae imagines a poeta nostra excoyitata sunt.
Lochers Anteil an der Terenzvercleutscluuig. 345
noch über die mittelalterliche Vorstellung nicht hinausgekommen
sein, daß es sich bei den Lustspielen des Altertums im allgemeinen
um Vorlesungen handelte. Nun sahen wir Ja, wie auch das Wesen
der Baseler Illustrationen durchaus im Epischen besteht, und wel-
ches die Tendenz des deutschen Terenz von 1499 ist, das geht z. B.
aus den Schlußworten dieser Veröffentlichung deutlich hervor, wo
es heißt: Beluit sijnd viul schlahent die hend von frödeii zesamen;
ich Calliopius habs erzellet. So stimmt, wie mir scheint, hier alles
so vorzüglich zusammen, daß sich der Versuch einer stilgeschicht-
lichen Untersuchung des Problems durchaus empfiehlt; in unserm
Zusammenhange kann er natürlich nicht gemacht werden. Halten
wir aber einmal an der Hypothese fest, so erklärt sich nun auch
das Ende der ganzen Baseler Unternehmung aufs deutlichste. Aus
irgend welchen Gründen — sei es, daß der Verleger nun doch die
Kosten für das große Werk scheute und deshalb keine oder nur
wenige Zeichnungen schneiden ließi), sei es, daß Brant damals
schon, im Bewußtsein, Basel bald verlassen zu müssen, Beziehungen
zu Straßburg suchte, wo wir ihn dann von 1501 an treffen — unter-
blieb der Abschluß ; Jakob Locher, der von seinem eigenen lyrisch-
dramatischen Sammelband, von der durch ihn besorgten ersten
Horazausgabe und nun auch von der zweiten Terenzedition her
mit Grihiinger in Verbindung stand, bewog diesen, die Ausgabe der
Übersetzung zu übernehmen, die ihm keine sonderlichen Ausgaben
fih' Illustrationen machte, da er im Ganzen einfach die Holzschnite
des lateinischen Terenz noch einmal wiederholen konnte. So kam
auch die Geschäftsverbindung zwischen Grihiinger und Sebastian
Brant zu Stande, der für diesen Straßburger Verlag schon 1502
die große Vergiledition übernahm und im nächsten Jahre dann
auch Grüningers lateinische Terenzausgabe durch eine Überarbeitung
im Sinne der antiken Metrik erst zu eigentlich wissenschaftlicher
Bedeutung erhob.
So hofft unsere Betrachtung zunächst ein doppeltes Ergebnis
gehabt zu haben : ein literaturgeschichtliches, das sich auf die Autor-
schaft der Übersetzung bezieht, und ein kunstgeschichtliches. Denn
nicht nur wird die Neigung, die Baseler Zeichnungen Dürer zuzu-,
schreiben, jetzt, wo wir für ihre Entstehung in die Jahre 1497 — 98
gekommen sind, noch geringer geworden sein als früher 2), wir
1) Im Ganzen sind zwölf geschnitten; Weisbach hält diesen Schnitt für eine
spätere Arbeit des 16. Jahrhunderts.
2) Mag man selbst mit der Energie, die Burckhardt, JbPreussKunsts. 1907, S. 168 ff.
und Koegler, RepKunstw. 1907, S. 195 ff. bekunden, die von Weisbach für Spuren einer
Baseler Tätigkeit des Bergmannmeisters in den J. 1495/9 angesehenen Holzschnitte für
Reste seiner Anwesenheit 1492/4 erklären, so ist doch nun durch die Umdatierimg der
Terenzzeichnungen die Baseler Existenz des Meisters für eine Zeit nachgewiesen, in der
Dürer längst in Nürnberg war. Neuerdings bemüht sich Röt tinger a. a. 0. S. 39ff. auf
g^g Der Venetianer Terenz.
werden vielmehr auch für ihre künstlerische Schätzung im Einzelnen
neue Gesichtspunkte gewonnen haben. Wenn z. B. als das schönste
Bild der Reihe die Zeichnung zuEunuchusIV,5(Abb. 54, s. o.S.340) ge-
priesen wurde, „wo mit echt deutscher Innerlichkeit und Gemütstiefe
aus der Hetäre ein gutes deutsches Blh-germädchen geworden ist,
das schüchtern und sittsam die Augen niederschlägt, während der
neben ihr sitzende Chremes ihre Hand ergriffen hält" i), so sehen
wir jetzt, daß diese Metamorphose nicht das Verdienst des Baseler
Künstlers ist, daß sie vielmehr schon auf das Konto seines Vor-
bildes, des Ulmer Meisters, zu setzen ist 2). Was endlich die dritte
Seite der Frage, die eigentlich theatergeschichtliche betrifft, so ist
unser Ergebnis zunächst allerdings ein rein negatives: wir haben
gesehen, daß ein eigentlicher Zusammenhang mit einer Aufführung
in irgend welchem Sinne nicht besteht. Immerhin wäre es aber
möglich, daß der Künstler bei der Wiedergabe der Kostüme und
der Bewegungen seiner Lustspielfiguren doch von Erinnerungen an
die gleichen Elemente der damaligen geistlichen oder weltlichen
Aufführungen bestimmt worden sein könnte, und in diesem Sinne
trifft es sich gut, daß wir neben seine Terenzillustrationen seine
Zeichnungen zu rein epischen Werken vergleichsweise zu legen
vermögen.
Der Venetianer Terenz.
Erst als letztes Ghed tritt Italien, wo doch zuerst wirkliche
Aufführungen der antiken Komödien zu Stande gekommen waren,
in die Reihe der Länder ein, die illustrierte Ausgaben des Terenz
lieferten; und als im Jahre 1497 bei Lazarus Soardus in Venedig
der erste illustrierte Terenz 3) erscheint, da ist von einer solchen
Selbständigkeit der Arbeit, wie wir sie bei dem Einsetzen in
Deutschland und in Frankreich beobachtet hatten, nicht die Rede:
längst hat die kunsthistorische Forschung^) bemerkt, daß dieser
Venetianer Arbeit der Lyoner Terenz vom Jahre 1493 als Vorlage
der Suche nach einem Mann, der Dürers Schatten gewesen sein muß, da seine Art später
in Nürnl)erg wieder auftaucht, den Bergmannmeister mit dem bisher wenig beachteten
Hans Wächtlin zu identifizieren, der 1497 oder 1498 als Dürers Gehilfe von Basel nach
Nürnberg übergesiedelt sein müßte. Dieser Hypothese, deren Richtigkeit im übrigen hier
nicht weiter nachgeprüft werden kann, muß unsere neue Datierung des Terenz recht will-
kommen sein.
1) Weisbach. Übrigens ist es nicht die Hetäre, sondern ihre Magd Pythias.
Der Fehler ist durch die Burckhardtsche Szenennumerierung und Inhaltsangabe entstanden.
2) Röttinger a. a. O. möchte gar die ganzen Erzeugnisse jener Ulmer Kunst
(Seelenwurzgärtlein, Lirer, Terenz) für Arbeiten seines Hans Wächtlin ansehen!
3) Hain N. 15 429. Exemplar in der Bibliothek des Kgl. Kunstgewerbemuseums in
Berlin; die Abbildungen wurden mit freundlicher Erlaubnis der Direktion hergestellt. Die
Szenenbilder sind in Originalgröße gegeben, das Gesamttheaterbild mißt im Urdruck
24x15,7 cm.
4) Lippmann, .IbKPreußKunsts. 5, S. 26.
Venetianer Terenz: Gesainttheaterdarstellung.
347
Abb. 56. Venetianer Terenz; Gesamttheaterdarstellunc
348 Venetianer Terenz: Gesamttbeaterdarstellung.
gedient hat. Auch in den rein gelehrten Beigaben zum Texte zeigt
sich dieser Zusammenhang deuthch; allerdings ist der Text selbst
bereits in metrischer Form gegeben, und den Kommentaren des
Donatus, des Guido Juvenalis und des Badius sind hier auch Er-
läuterungen jenes Johannes Calphurnius hinzugefügt, den wir be-
reits in anderm Zusammenhange : als den Lehrer des Jakob Locher
kennen gelernt haben. In Bezug auf die Illustration ist zunächst
wieder die Gesamtanlage die uns schon bekannte: zuerst das Bild
des Dichters, dann eine Darstellung des Theaters und endlich die
Bilder zu den einzelnen Szenen. Hinsichlich der beiden ersten
großen Holzschnitte fällt die Anlehnung an das Lyoner Werk nicht
sofort in die Augen; Terenz ist hier nicht einsam in seiner Studier-
stube dargestellt, sondern in einem feierlichen Saale von echt
venetianer Ausstattung auf dem obersten Ehrensitze thronend und
gleichsam den Vorsitz führend über vier seiner antiken Kommen-
tatoren, unter denen Donatus ausdrücklich genannt ist und zu deren
Füßen wieder, mit der Feder beschäftigt, zwei moderne Erläuterer,
jedenfalls Guido Juvenalis und Calphurnius, sitzen. Und auch das
von uns (Abb. 56, S. 347) wiedergegebene Bild des Theaters, das zu den
entzückendsten Leistungen des altvenetianer Holzschnittes gehört, ist
von dem Lyoner Theater etwa so weit entfernt wie das Theaterbild
der Straßburger oder der Baseler Ausgabe. Auch hier nämlich ist in
der Hauptsache nur der Zuschauerraum dargestellt, in dem wir aber
hier nicht wie in Straßburg das vornehme Publikum von dem nie-
deren gesondert finden, wo vielmehr ausgezeichnet beobachtete Ty-
pen aus allen Ständen Venedigs neben einander Platz genommen
haben; auch für ein paar Zaungäste ist gesorgt. Dieser Zuschauer-
raum stellt einen Halbkreis dar, dessen hintere Wand durch Arka-
den unterbrochen wird, und hier treffen wir anders als in Lyon und
Straßburg echte Renaissancearchitektur; freilich läßt die Zeichnung
in perspektivischer Hinsicht sehr zu wünschen übrig. Die Anleh-
nung an das Lyoner Bild tritt nun aber darin hervor, daß dieser
Zuschauerraum, ganz unantik, überdacht ist. Die Bühne selbst da-
gegen ist, so viel wir von ihr sehen können, ungedeckt; freilich
sind eben nur die beiden äußersten Vorsprünge sichtbar, und da
zeigen sich rechts und links Teile jener von einem Vorhang ge-
deckten Häuserzellen des Badius. Auch diese Darstellung und ihre
Ergänzung durch die folgenden kleinen Bilder aber hat mit irgend
einer Wirklichkeit nichts zu schaffen, sondern ist reines oder aus
zweiter Hand empfangenes Phantasiegebilde; dafür spricht nicht
nur die baulich doch wohl nicht mögliche Gesamtanlage, nicht
nur der Umstand, daß wir weiteriiin auf den Szenenbildern rechts
und links von den Häusern gelegentlich kleine Landschaftsreste
gezeichnet finden, die doch den ganzen Sinn jener von Badius er-
dachten Bühnenanlage umstoßen; wir haben vielmehr auch ein aus-
Venetianer Tereiiz: die Szenenbilder.
349
drückliches Zeugnis des Druckers Soardus, auf das wir uns berufen
können; es stammt freilich nicht aus diesem Terenz vom Jahre 1497,
sondern erst aus einem illustrierten Plautus vom Jahre 1511, in dem
aber der nämliche Holzschnitt zur Darstellung des Theaters noch
einmal benutzt worden ist. Hier bemerkt der Verleger in einem
Schlußwort (fol. 189a), er habe die Illustrationen herstellen lassen:
qiioniam in prnesentia niillae vel ac/uniur uel a(/i fabiilae po.ssiint
proindeqiie talihiis ac lihero dignis homine voliiptütihus privamiir.
Besonders deutlich aber fällt es in die Augen, daß die nun fol-
genden Szenenbilder bis ins Einzelne sich an die Lyoner Illustra-
tionen anlehnen. Das ganze Zellensystem ist genau das nämliche,
abgesehen davon, daß auch hier wieder die wunderliche dekorative
Ausschmückung durch eine einfache und mögliche ersetzt worden
ist. Die Anordnung der Gestalten mit allen den seltsamen theater-
widrigen Juxtapositionen, die Bewegungen, die Kostüme sind ge-
r Y V V ^r^ V Y V Y 7 V Y VN V vr / V y V V V V 7 Y Y Y TT ^
'r JCm. ^ifH -Clprc. ^^'f^^übii. Sy^ ^oSx. ^^
Abb. 57. Venetianer Terenz: Andria III (v. 453 ff).
treu nachgebildet oder doch nur aus dem Lyonischen ins Venetia-
nische übersetzt. Diese Übersetzung bezieht sich vor allem auf
die Veränderung des Formats: die Szenenbilder sind samt und
sonders in den Venetianer Vignettenstil tibertragen, der seit dem
Jahre 1489 aufgekommen war und bekanntlich das Vorbild für den
größten Teil der europäischen Bücherillustrationen im 16. Jahrhun-
dert geworden ist. So ist alles aus der derben Grazie des nieder-
ländischen Meisters, der für Badius gearbeitet hatte, in die zier-
liche Grazie dieser Venetianer Kunst übertragen worden, und die
sehr reale Körperhaftigkeit der Lyoner Gestalten hat einer selt-
samen Körperlosigkeit Platz gemacht; an die Stelle der ausgebil-
deten Schattierung ist die Venetianer Art getreten, die nur mit
feiner Andeutung der Umrisse und höchstens ganz geringer Mo-
dellierung der Innenformen arbeitet. Lippmann, ein ausgezeich-
neter Kenner dieser Kunst, hat die Ansicht aufgestellt, daß die
beiden Vollbilder sowohl wie die kleinen Vignetten von der Hand
350
Venetianer Terenz: die Szenenbilder.
des Meisters herrühren, der seine Leistungen häufig mit einem
kleinen b bezeichnet, und mir scheint dieser Ansicht auch durch
einen späteren Angriff nicht erschüttert zu sein, durch den dem
Meister b, der zu den glänzendsten Vertretern der venetianischen
Kunst aus Bellinis Schule gehört •), dem Illustrator der „Hypnero-
tomachiaPoliphiU", nur die beiden großen Holzschnitte gelassen, die
Vignetten aber als unbedeutende Leistungen abgesprochen werden
sollen^). Allerdings ist die Vignettenkunst des Meisters b hier nicht
auf der Höhe, wie sie uns etwa durch einige seiner Leistungen in
der Malermi-Bibel vom Jahre 1490 gezeigt wird, aber wir haben
dafür eine ausreichende Erklärung: der Meister kann bei dieser
Arbeit nicht mit dem Herzen gewesen sein, da ihm hier durch die
Notwendigkeit eines genauen Anschlusses an die Vorlage die Hände
gebunden waren, während er bei den biblischen Darstellungen trotz
aller Benützung der Kölner Bibelbilder von 1479 doch freier schalten
Abb. 58. Venetianer Terenz: Eunuehus 1,1.
konnte und eine sehr große Zahl von Illustrationen auch völlig frei
geschaffen hat. Diese Unlust offenbart sich in der ausgeprägten Flüch-
tigkeit, mit der die zahlreichen Terenzvignetten gearbeitet sind.
Auf die Lyoner Scheidung der sechs Komödien hinsichtlich der
Zusammenstellung der Häuserzellen kommt er erst während der
Arbeit, und eine ziemlich sinnlose Ungleichmäßigkeit ist die Folge,
so daß das Bühnenbild innerhalb eines Stückes nicht immer das
gleiche bleibt; es kommt ferner vor, daß die Personen aus falschen
Häusern herauskommen, ja daß nach einem offenbar nur ganz
flüchtigen Blick auf die Vorlage eine ganz andere Person als der
Text es verlangt, gezeichnet wird; die Körperlosigkeit der Gestalten
steigert sich zumal bei der Darstellung von Figuren, die nur halb
hinter dem Vorhang hervorsehen, zu einem förmlich geisterhaften
1) Zu Lippmanns Identilikalion die.ses Mei.sters 1) mit Jacopo dei i^arliari vermähr
ich mich nicht zu bekennen.
2) Kristeller.
Venetianer Terenz: die Szenenbilder. Holzschnitte des 16. .Jahrhunderts.
351
Verschwimmen. Aber eben diese Körperlosigkeit, die liier bei der
flüchtigen, unlustigen Arbeit outriert wird, ist doch ein besonderes
Kennzeichen der Art des Meisters b, und wenn Lippmann ferner
als besonders charakteristisch für ihn die Abneigung gegen das
Übereinanderschieben der Personen bezeichnet, so zeigt gerade ein
Vergleich der Terenzvignetten mit ihren Lyoner Vorbildern, daß
wir es hier mit einem Zeichner zu tun haben, der solche Abneigung
im höchsten Maße besitzt: fast überall sind die Gruppen, die der
Lyoner Künstler ^besonders gern durch engste Aufeinanderhäufung
der Gestalten erzielt, auseinander gezogen, so daß jede Person für
sich dasteht. So sind wir also auch hier in der glücklichen Lage,
andere Bilder dieses Meisters neben seine Terenzzeichnungen zu
legen, um etwa wenigstens hinsichtlich des Kostüms und der Be-
wegungen wirklich Theatermäßiges in seinen Leistungen erkennen
zu können; denn daß auch diesem Künstler der enge Zusammen-
■ 1 ■ ~~^ ' 1 1 ' ' ' r^ ' ' I —
to*\a. '^'D?ai, Wp^g. '^jyp'~ZwX
Abt). 59. Venetianer Terenz: Eunuchus II, 2 iv. 232 ff.).
hang der antiken Aufführungen mit den damaligen theatralischen.
Darbietungen aufgefallen ist, zeigt das große Theaterbild : die Rolle
des Terenzischen Prologsprechers hat hier ein moderner Narr.
Holzschnitte des 16. Jahrhunderts.
Das 16. Jahrhundert hat nun, wenigstens in seiner ersten Hälfte,
in der Illustration der antiken Dramen Neues nicht mehr geleistet i),
sondern nur mit dem Kapital gearbeitet, das das 15. hinterlassen
hat. Das Nachdenken über antikes Theater scheint den Gelehrten
nicht mehr lohnend: mehr und mehr beweisen die gelehrten Bei-
gaben, daß die Tätigkeit der Philologen auch für den Terenz auf
Textreinigung, auf die Erledigung metrischer Fragen und allenfalls
auf Sacherklärung sich beschränkte. Am meisten ins Hintertreffen
gerät Deutschland; hier ist eigentlich nur noch auf zwei Leistungen
hinzuweisen, die streng genommen in unsern Zusammenhang gar
1) Der 1552 zu Paris bei J. de Roigny gedruckte Terenz führt schon in eine neue Welt.
352 Holzschnitte des 16, Jahrhunderts: Deutschland, Italien.
nicht mehr gehören, weil sie nicht Szene für Szene bildhch erläu-
tern, sondern sich damit begnügen, jeder Komödie einen Holzschnitt
beizugeben; und auch diese Holzschnitte sind keine Originalleistungen
sondern alte Bekannte treffen wir in ihnen wieder, wenn auch in
etwas veränderter Form. Als der Pariser Gelehrte Paulus Malleo-
lus im Jahre 1503 eine neue Terenzausgabe, die er durch einen
Widmungsbrief an Robert Gaguin, den Gönner des Jodocus Badius,
einleitete, in Straßburg bei Johannes Prüß drucken ließ, da griff
dieser, um doch auch einen Bilderschmuck zu haben, nach den
Terenzausgaben seines Stadtgenossen Grüninger und ließ mit un-
wesentlichen Veränderungen i) die sechs gänzlich unantiken Voll-
bilder von zwei uns nicht weiter bekannten Künstlern nachzeichnen
und schneiden; diese Prüß'schen Bilder haben dann ihrerseits wieder
im Jahre 1559 dem Verleger einer Neuauflage der zuerst 1539 ohne
Illustrationen gedruckten BoltzschenTerenzübersetzung als Vorlagen
für seine sechs Terenzbilder gedient, die die letzten Ausläufer jener
Straßburger Entwicklung darstellen, ein eigentlich theatergeschicht-
liches Interesse aber kaum mehr beanspruchen können.
Dagegen spielen in Italien die Terenzillustrationen, wenn man
lediglich nach der Zahl der Auflagen sieht, eine ungemein bedeu-
tende Rolle, und so groß war offenbar der Erfolg dieser Bücher,
daß der Verleger Soardus, als er im Jahre 1511 die schon erwähnte
Plautusausgabe veranstaltete, nun endlich das Illustrationsprinzip
auch auf diesen Autor übertrug. Auch hier aber ist es keine Frage,
daß die gelehrten Herausgeber und Texterklärer mit dieser Illustra-
tion nichts zu schaffen gehabt haben: Soardus selbst übernimmt
für sie in jenem schon früher zitierten Schlußwort die Verantwor-
tung: .... meae esse partis piitavi, qui vos alias offlciis solitus essem
promereri, totis contendens viribus, ne meam ampliiis operam hac in
parte desideretis, qiiippe cum litteratis hominibus, quotquot ahmt Ve-
netiae, familiariter uiar ac semper sim usus, Victore praesertim, quem
ob ingenii suavitatem eruditionemque non vulgarem mihi potissi-
mum amicitiae vinculo copulavi. Quamobrem, ne penitus spectandi
voluptate careatis, quam maxime diximus esse momenti, vobis de-
pictas singulis fabularum actibus scenas curavimus annotari, nee
minus histrionum in orchestra saltantium^) imagines monogram-
mate tantum de more veterum addimus comprehensas . . . Sola
enim pictura quaecunque olim visa sunt, iisdem Herum oculis subici
polest-'^).
Tatsächlich aber hat er nun, abgesehen von der Wiederholung
jenes Theaterbildes, nicht einmal das Prinzip seiner alten Terenz-
illustrationen zum Muster genommen, sondern sich seine Aufgabe
1) Sie sind zum Teil sinnlos genu^: die Hetäre Chrysis sitzt ;im Sjjinurad.
2) Schon vorher spricht er von den moderatae saltationes.
3) Vgl. o. S. 302.
NachhildiiiiK der italienischen Tercnzbildtn' durch das wirkliclie Theater. 353
SO leicht wie möglich gemacht durch die Übernahme jenes nur
finanziell empfehlenswerten Verfahrens, das er den Straßburger
Terenzausgaben des Johannes Grüninger abgesehen hatte: durch
die Einführung des Clichesystems, das nun hier, wo er im übrigen
den Vignettenstil beizubehalten sucht, künstlerisch vielleicht noch
weniger Sinn hat als auf den Straßburger Bildern; so kommt er
mit sechs Bäumen und vier Häusern für den ganzen Plautus aus.
Die letzteren stehen der Manier des von ihm verlegten Terenz in
sofern näher, als tatsächlich nicht wie in Straßburg ganze Häuser,
sondern bloß Tih'en vorgeführt werden, die aber anderseits nicht
mit einem Vorhang verhängte Rahmen sind, sondern als wirkliche
halbgeöffnete Türen dargestellt werden. Für die Theatergeschichte
kommt auch diese Ausgabe somit kaum in Betracht; einige Nach-
ahmer aber hat sie doch gefunden.
Theatergeschichtlich viel wichtiger, aber in einem andern Sinne,
sind hier in Italien doch die Terenzillustrationen, welche in immer
wiederholten Ausgaben auf den Markt kamen, zunächst unter
Benutzung der alten Stöcke, dann seit dem Jahre 1518 in neuen
Nachzeichnungen und Nachschnitten, in denen die Flüchtigkeit
der Vorbilder ins Grenzenlose gesteigert und ein recht talentloser
Zeichner an der Arbeit gewesen ist. Meist verschwinden auf
diesen Bildern sogar die die einzelnen Zellen trennenden Säulen,
nur ein Vorhang bildet die hintere Dekoration, und lediglich die
Buchstaben auf dem über dem Vorhang herlaufenden Querbalken
deuten die einzelnen Häuser an. Venedig bleibt der Hauptmarkt
für diese illustrierten Ausgaben, die bis weit über die Mitte des
16. Jahrhunderts hinaus zu verfolgen sind ; anderwärts, z. B. in Mai-
land, handelt es sich um Nachahmungen des gleichen Stils. Die
Bedeutung dieser Ausgaben für die Theatergeschichte liegt in ihrer
Fülle. So oft nämlich wurde auf solche Art den Italienern diese
Zellenbühne als das echte antike Theater vorgeführt, daß man
schließlich den Versuch machte, Aufführungen antiker Dramen
mit Benutzung dieser Dekoration zu veranstalten. Im Jahre 1513
wurde in Rom auf dem Kapitol ein hölzernes Theater durch die
Mediceer erbaut, dessen Dekoration mir wenigstens nach dem Muster
dieser illustrierten Terenze angelegt zu sein scheint: ^sie war voll-
ständig frei und w'urde nur hinten durch eine prachtvolle dekorative
Schauwand, die Rückwand des Theaters, getrennt, die durch Pilaster
mit vergoldeten Basen und Kapitalen in fünf Abteilungen gegliedert
war. In jeder dieser Abteilungen befand sich eine Tih' von der Größe,
wie es bei Privathäusern üblich ist. Alle diese Türen wurden durch
Portieren vom feinsten Goldstoff geschlossen und waren an Gesim-
sen und Architraven mit außerordentlich schönerMalerei geziert", i)
1) Diese Beschreibung bei Flechsig S. 52 auf Grund der Relationen des Palliolo und
des Altieri.
Herr in a ii n , Theater. 23
354 Bilder und Biiline. Terenzillustrationen in Frankreicii.
Wenn wir dann noch hören, daß sich auf den beiden Seiten-
flügehi der Bühne zwei große Tore befanden, auf denen ge-
schrieben stand : Via ad forum, durch deren eines die Darsteller
auf die Bühne kamen, während sie sich durch das andere ent-
fernten, so wird das vielleicht auf eine Benutzung der uns auch
noch heute wichtigen Mitteilungen des antiken Scholiasten PoUux
zurückzuführen sein, dessen „Onomasticon" durch die Ausgabe des
Aldus Manutius im Jahre 1502 bekannt geworden war. Die gleiche
Einrichtung des Bühnenhintergrundes mit den einzelnen „Szenen"
d. h. Haustiu^en hat sich dann in Deutschland nachweisen lassen,
wo sie zuerst der Leipziger Rektor J. Muschler gelegentlich der
von ihm um 1530 veranstalteten Aufführung der verdeutschten
„Hecyra" beschreibt ij, und diese Terenzbühne, die in den alten Illu-
strationen ihren Ursprung hat, hat dann, wie an anderer Stelle
dieses Buches (S. 16) gezeigt wurde, sogar für die bürgerlichen
Aufführungen deutscher Schauspiele zeitweilig als Vorbild gedient.
In Frankreich dagegen ist von einem solchen Zusammenhang
der Terenzillustrationen mit lebendigen Aufführungen zunächst
nichts zu spüren ; im Gegenteil wird es hier alsbald deutlich, welche
Kluft zwischen diesen Bildern und dem wirklichen Theater bestehen
bleibt; es wird kein Zufall sein, daß uns für Frankreich keine
einzige Terenzaufführung urkundlich bezeugt ist. 2) Als um das
Jahr 1500 bei Verard in Paris die erste französische Terenzüber-
setzung erscheint, da greift man hier in der Stadt, wo jetzt Jodo-
cus Badius selbst als Buchdrucker tätig war, nicht zu seinen Illu-
strationen, die doch tatsächlich eine lebendige, wenn auch nicht
echt antike Bühnenvorstellung bargen, sondern man hält sich an
den ganz und gar unmöglichen Straßburger Terenz von 1496 und
zeichnet in künstlerisch ihm überlegenen und stilistisch nicht un-
interessanten, theatergeschichtlich aber natürlich wieder kaum er-
giebigen Darstellungen zunächst das Straßburger Gesammttheater
und das erste der sechs Vollbilder"^) nach, um dann endlich die
Einzelszenen wiederum durch Benutzung des Clichesystems und
Nachahmung der Straßburger Cliches von 1496-1) zu ermöglichen.
1) P. Expeditus Schmidt. Die Bühnen\erhältnisse des deutschen Schuldramas,
S. 12-iff. (vgl. S. 186 ff.) hat den Zu.sammenhang zwischen den italienischen Bildern und
der gereimten Beschreibung, die Muschler von seiner Bühne gibt, richtig erkannt; aber
gar kein Grund liegt für seine Annahme vor, daß Muschler unmittelbar nach den alten
Bildern gearbeitet und so jene Einrichtung der Schulbühne erst geschaffen habe.
2) Die von Creizenach 2, S. 58f. erwähnte Aufführung in Metz koniiiit nicht in
Betracht, da Metz ja nicht in Frankreich lag.
3) Unsinnigerweise wird dies Andriabild vor dem „Phormio" wiederholt: vor dem
..Heautontimoroumenos" sind sämtliche im Stück verwendeten Cliches auf einer Seite zu-
sammengestellt; vor den drei andern Komödien steht immer wieder das Theatriim. Der
Titelholzschnitt — der Drucker überreicht das Werk dem König — geht uns hier nichts an.
4) Es ließe sich im einzelnen zeigen, daß die erste Straßburger Ausgabe das Vorbild bot.
Franz()sische Terenzbilder. Theatergeschiclitliche Ergebnisse. 355
Als im Jahre 1539 die gleiche Übertragung unter dem Titel „Le
grand Terence" noch einmal erscheint, stellt man eine höchst eigen-
tinnliche Mischung her, die die völlige Entfernung von Jeder leben-
digen Theatervorstellung auf das Schärfste kenntlich macht. Dies-
mal sind nämlich die alten Lyoner Bilder benutzt i): das Theater
und die einzelnen Szenenvorführungen; aber als ob es dem Ver-
leger leid getan hätte, daß er damit etwas Bühnenmögliches lieferte,
hat er jedem Szenenbild ein Häusercliche von der Straßburger Art
an die Seite gestellt. Endhch erscheint im Jahre 1552 in Paris ein la-
teinischer Terenz mit vielen gelehrten Beigaben, die mit jenen Kom-
mentaren des 15. Jahrhunderts nichts mehr zu tiui haben und lauter
Philologen des 16. zu Worte kommen lassen, wobei denn ein paar ge-
legentliche theaterphilologische Bemerkungen völlig in der Masse
der textkritischen und sacherklärenden Ausführungen verschwinden.
Die hier beigefügten Bilder aber stellen sich auf den ersten Blick
als ziemlich getreue Nachbildungen der venetianischen Terenzvi-
gnetten dar 2), so daß man also auf dem Umwege über Italien das be-
zog, was doch einst im eigenen Lande entstanden war.
Die theatergeschichtlichen Ergebnisse dieser bilder-
kritischen Untersuchungen sind also in erster Reihe negativer Art.
Für eine große Reihe der Dramenillustrationen haben wir fest-
stellen können, daß sie lediglich dei bildenden Kunst angehören
wie eben andere Bücherillustrationen auch. Nur für einige Lei-
stungen war es uns wenigstens als möglich erschienen, daß der be-
treffende Künstler oder sein Berater den Zusammenhang der Zeich-
nungen mit dem, was man damals theatralisch nannte, bewußt oder
unbewußt im Auge gehabt hat, und für diese wenigen Arbeiten
wird es sich also immerhin empfehlen, jene in der Einleitung metho-
dologisch geforderten Vergleichungen zur Ausscheidung solcher
theatralischen Elemente vorzunehmen. Das gilt für den Ulmer
„Eunuchus" und für die Straßburger Terenzillustrationen; weniger
schon fih' Baseler Arbeiten; die Venezianer Bilder werden zwar
trotz aller Anlehnung an das Lyoner Vorbild selbständige Elemente
des italienischen Theaters enthalten, sie sollen hier aber ununter-
sucht bleiben, weil diese Arbeit uns gar zu weit aus der deut-
schen Theatergeschichte herausführen würde. Dagegen fällt eben
der Lyoner Terenz von 1493 noch durchaus in den Kreis unserer
Betrachtung, weil, wie wir sahen, die hier in Betracht kommenden
Theaterelemente dem uns wenigstens damals noch mehr oder weniger
eng verbrüderten flandrischen Gebiete angehören. Und es hatte
sich herausgestellt, daß wir bei keiner der andern Leistungen so
viel Grund haben, an einen Zusammenhang der Illustrationen mit
1) Der Verleger hat die ursprünglichen Holzstöcke ei-worben.
2) S. 351 Anm. geht nur auf ein Gesamttheaterbild, das vor jedem Stück steht.
23*
356 Thealergeschichtliche Ergebnisse. Kostümfragen.
dem lebendigen Theater zu denken wie gerade bei diesem Lyoner
Terenz von 1493.
Von vorn herein müssen wir darauf gefaßt sein, daß uns alle
diese Bilder am wenigsten für die Gestaltung des Schauplatzes
lehren werden, weil ja die normale Bühne des Mittelalters von dem
Schauplatz der antiken Komödie so grundverschieden ist. Am ehesten
dürfen wir die Hoffnung hegen, daß von den mittelalterlichen
Theaterkostümen und von der Art der Schauspieler, sich
auf der Bühne zu bewegen, etwas auf die Bilder überge-
gangen ist. Es windle also zunächst darauf ankommen, die Kostüme,
wie sie uns auf unsern Illustrationen entgegentreten, einerseits mit
den an ihrem Entstehungsort und in ihrem Entstehungsjahr wirklich
getragenen Kostümen, anderseits mit den Trachten zu vergleichen,
die auf den durch unsere Ermittlungen festgestellten nächstliegenden
Leistungen der bildenden Kunst sich finden.
Kostümfragen.
Aber da zeigt es sich nun alsbald, daß wir in Schwierigkeiten
hineingeraten, die wenigstens vorläufig noch beinahe unüberwind-
lich sind. Wenn wir in unserer methodologischen Einleitung auf
die Gefahren hingewiesen haben, die bei derVergleichung der Theater-
bilder mit den Leistungen der bildenden Kunst im Hintergrunde
lauern, so muß hier zunächst davon die Rede sein, daß uns für
die Feststellung der damals an einem bestimmten Orte und zu einer
bestimmten Zeit tatsächlich üblichen Tracht eigentlich jede wissen-
schaftliche Grundlage fehlt, obwohl ja an modernen kostümgeschicht-
lichen Werken auch für die Periode des späten Mittelalters kein
Mangel ist. Die Zeit, in der wir für unsere Kenntnis der Trachten-
entwicklung auf sicheren Boden geraten, hebt eigenthch erst um
die Mitte des 16. Jahrhunderts an. Erst um diese Zeit erwacht das
Interesse der Menschen dafür, die zeitgenössischen Trachten um
ihrer selbst willen so genau wie möglich abzubilden '). Für all die
vorangehenden Jahrhunderte liegt eine Tendenz solcher Art nur
ganz selten vor. Viel zu wenig weisen unsere kostümgeschicht-
lichen Werke darauf hin, daß sie sich die in Folge solcher Ver-
hältnisse ungeheuer schwierige Arbeit eigentlich gar zu leicht
machen, daß sie recht dilettantenhaft alles irgend wie erreichbare
Material so gut es geht unkritisch zusammenstoppeln. Auf der einen
Seite fehlt es ja nicht an literarischen Aufzeichnungen über Trach-
ten, auch aus älterer Zeit; aber ein ausnahmsweise gewissenhafter
Beobachter^) hat schon darauf hingewiesen, daß sie schwer ver-
wertbar sind, weil sie einerseits meist zu aligemein gehalten sind.
1) Vgl. das Kapitel „Kostüme" in der ersten Untersuchung des vorliegenden Buehes,
bes. Seite 105 ff.
2) Alwin Schultz , Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrhundert (Leipzig 1892) S. 284.
Methodische Grundlagen für eine wissenschaftliche Kostümkiuuie des Mittelalters. 357
als daß wir uns nach ihnen ein sicheres Bild der wirklichen
Tracht zu machen vermöchten, und weil sie auf der andern Seite
in moralisierenden Angriffen gegen Auswüchse der Tracht zu be-
stehen pflegen, so daß uns also die eigentlich üblichen Durchschnitt-
kostüme gar nicht durch sie überliefert werden. Wichtiger ist so-
mit das große Material, das in den alten Bildern niedergelegt ist,
und kostümgeschichtlich am wichtigsten sind hier naturgemäß die
Grabsteine oder sonstigen bildlichen Darstellungen, die uns das
Portrait bestimmter Persönlichkeiten nicht nur den Gesichtszügen
nach zu überliefern bestimmt sind. Sie haben vor den meisten
andern Bildern zunächst den Vorzug, daß man sie in Bezug auf
den Ort und die Zeit ihrer Entstehung mit ziemlicher Sicherheit
genau bestimmen kann. Dagegen scheint mir auch dieses Material
überschätzt zu werden, wenn man sich ihm gegenüber darauf ver-
läßt, daß man es nun allemal wirklich mit dem zu jener Zeit und
an jenem Ort allgemein gebräuchlichen Kostüm zu tun habe. Solche
Portraits pflegen nur von Persönlichkeiten der höchsten Gesellschafts-
schichten, zumal von Angehörigen fürstlicher Häuser, hinterlassen
zu werden, und gerade in Bezug auf sie liegt doch die Gefahr vor,
daß sie nicht die zu der betreffenden Zeit ortsübliche Tracht ge-
tragen, sondern sich irgend wie besonders herausgeputzt haben.
Im Anfang des 16. Jahrhunderts können wir diese Neigung auswär-
tige Moden zu übernehmen sogar bei Bürgern im Einzelnen nach-
weisen '). In zweiter Reihe werden dann die Bilderhandschriften
des Mittelalters herangezogen; erstens aber pflegt ihre Datierung
und zumal ihre Lokalisierung wohl schwieriger zu sein als das in
Bezug auf die Portraits der Fall ist, zweitens ist das Material hier
noch weit seltener unverdächtig als dort. Denn gewiß nicht häufig
sind im Mittelalter die Fälle, wo es einem Zeichner darauf ankommt,
wirklich realistische Bilder aus dem damaligen Leben zu liefern,
wie das etwa einmal in dem berühmten sog. Mittelalterlichen Haus-
buch der Fall ist; und schon bei der Darstellung von historischen
Vorgängen und dergleichen wird man nicht ohne weiteres auf die
Kostümtreue der betreffenden Bilder schwören können; noch weniger
aber wird man bei den biblischen Darstellungen, die doch den größ-
ten Teil des Materials bilden, bloß aus dem Umstände, daß sie
keinen Versuch machen, das historische Kostüm der alten Zeiten
vorzuführen, sondern sich naiv mit moderner Gewandung zufrieden
geben, den Schluß tun dürfen, daß die Leute nun wirklich alle zu-
sammen genau in den Trachten vorgeführt sind, die man in dem
Jahr und an dem Ort trug, da der betreffende Zeichner tätig war.
Man wird ferner im allgemeinen zwar solche handschriftlichen Zeich-
1) Vgl. das handschriftlich in Braunschweig erhaltene Trachfenbuch der Augsburger
Familie Schwarz, s. o. S. 106 f.
358 Methodische Grundlagen für eine wissenschaftliche Kostümkunde des Mittelalters.
nungen mehr aus der Tradition herausrücken dürfen, die bei der
Herstellung der großen Tafelbilder maßgebend war, aber ganz ohne
Beeinflußung durch diese Tradition werden doch auch solche Zeichner
nicht geblieben sein, und so fehlen auch hier die Schwierigkeiten
nicht völlig, die wir vor allem nicht vergessen dürfen, wenn wir
nun auch die eigentlichen Gemälde sowie die Holzschnitt- und
Kupferstichleistungen für die Kostümkunde fruchtbar machen wollen.
Auch dieses große Material hat sich die Kostümkunde nicht ent-
gehen lassen, aber von einer methodischen Benutzung, von einer
Beachtung der komplizierten Verhältnisse, mit denen wir es hier
zu tun haben, scheint nirgends die Rede zu sein. Wir sehen dabei
ab von dem Umstand, daß die Bestimmung eines Gemäldes nach
Zeit und Ort oft noch die größten Schwierigkeiten macht und
daß jede der Kunstgeschichte gelingende Neubestimmung eines Bil-
des berücksichtigt werden muß. Vor allem aber haben wir hier
noch weniger das Recht, einfach anzunehmen, daß der Künstler
seine Gestalten samt und sonders schlechthin so kleide, wie er sie
damals vor Augen sah, daß also etwa ein Bild Roger van der Wey-
dens uns die Brüsseler Kostüme aus der Mitte des 15. Jahrhunderts
vorführte. Tatsächlich werden wir allerdings wohl annehmen dürfen,
daß der bildende Künstler jener Periode den Gestalten seiner Dar-
stellungen, mochten sie auch einer längst vergangenen Epoche an-
gehören, vielfach die Trachten angelegt hat, die er zu seiner Zeit
und an seinem Wirkungsorte vor Augen hatte. Aber schon das
brauchen nicht nur die Durchschnittskleider des Alltagslebens ge-
wesen zu sein, im Gegenteil, es liegt eine gewisse Wahrscheinlich-
keit für die Annahme vor, daß er Feierkleider, Trachten von fest-
lichen Aufzügen und dergleichen bevorzugt hat, Kostüme also, die
im Gegensatz zur fortschreitenden Mode sicherlich vielfach eine ge-
wisse Altertümlichkeit bewahrten und die also unbedingt nicht ohne
weiteres als Material für die Feststellung der Normaltracht ange-
sehen werden dürfen, welche zur Zeit der Entstehung des betreffen-
den Bildes an dem betreffenden Orte getragen wurde. Und vor
allen Dingen werden wir darauf gefaßt sein müssen, daß der Maler
gern diejenigen Kostüme wählte, die er bei den öffentlichen Dar-
stellungen der heiligen Vorgänge auf dem Marktplatz beobachten
konnte, und auch da werden wir gewiß nicht behaupten dürfen,
daß dies immer die alltäglichen Kleider der Bürger waren ^). Aber
das ist noch verhältnismäßig einfach. Komplizierend kommt weiter
die Abhängigkeit in Betracht, in der der Kimstler zu andern Meistern
oder Schulen steht. Befindet er sich im Banne einer lokalen Tra-
dition, so können mit den überkommenen Anregungen auch Ko-
stüme einer etwas älteren Epoche in sein Bild übernonnnen werden;
1) Vgl. darüber unten mehr.
Methodische Grun(llau;en für eine wissenschaftliche Kostümkunde des Mittelalters. 359
hält er sich für das besondere Bild, um das es sich handelt, an
eine fremde, ihm irgendwie bekannt gewordene Darstellung des-
selben Gegenstandes, so mögen bei dieser Nachbildung auch voll-
kommen fremde Trachten, Trachten sogar eines ganz andern Landes
auf das neue Bild kommen. Weiter kann der Künstler, auch selbst
wo keine derartige Abhängigkeit vorhanden ist, aus rein malerischen
Gründen bewußt oder unbewußt wenigstens die eine oder andere
Gestalt seiner Schöpfung mit einem Gewände ausstatten, das er
irgendwo einmal in der Fremde wirklich gesehen oder das sich von
der Betrachtung irgend eines ganz andern Bildes her seinem Künst-
lergedächtnis eingeprägt hat, und schließlich werden wir es gewiß
auch nicht für ganz unmöglich halten dürfen, daß der Maler ein-
mal um der künstlerischen Wirkung halber ganz auf die Nach-
bildung irgend einer Wirklichkeit verzichtet und für die Herstellung
eines Gewandes lediglich seine Phantasie in Anspruch genommen
hat. Wie wenig also werden wir da hoffen dürfen, in einem Ge-
mälde jener Zeit unmittelbar die Trachten der betreffenden Periode
und des betreffenden Ortes vor uns zu haben ! Es kann unter
solchen Umständen auch nicht Wunder nehmen, daß jene littera-
rischen Aufzeichnungen über Zeitkostüme mit den Illustrationen,
die die gleichzeitigen Bilder liefern, sich meist nicht recht vereinigen
lassen wollen. Auf diese Tatsache ist man bereits aufmerksam
geworden!), aber zu ihrer Erklärung genügt nicht der Hinweis, daß
wir aus den litterarischen Notizen nicht ohne weiteres auf die Nor-
maltracht einer Zeit schließen dürfen: die Schuld liegt gewiß noch
mehr an jener Uneinheitlichkeit der Bilder, die wir soeben methodo-
logisch zu erklären versucht haben. Das Ergebnis dieser ganzen
Betrachtung ist also die Tatsache, daß wir eine wissenschaftliche
Kostümkunde für die früheren Jahrhunderte noch nicht besitzen
können und gewiß noch lange nicht besitzen werden, daß wir für
die in so vielen Fällen brennende Frage: wie war zu der und der
Zeit an dem und dem Orte das Kostüm beschaffen? fast niemals
eine ausreichende Antwort werden erteilen können, daß wir uns
vielmehr bestenfalls mit Einzelheiten zu begnügen haben, die noch
dazu keineswegs als völlig sichergestellt gelten dürfen. Eine künf-
tige wissenschaftliche Kostümkunde wird sich auf einer völlig neuen
Grundlage aufzubauen haben: auf einer Ineinanderarbeitung kritisch
gesichteteter Litteraturnotizen mit denjenigen bildlichenDarstellungen,
die wir nicht nur nach Entstehungszeit und -ort vollständig zu be-
stimmen vermögen, sondern bei denen wir auch die Schulabhängig-
keit und sonstige Beeinflussung des Schöpfers sowie ihn selbst mit
all seinen formalen Schaffensgrundsätzen genau zu kontrollieren
im Stande sind. Die künftige Kostümgeschichte hat somit die ge-
sammte Kunstgeschichte zur Voraussetzung.
1) Alwin Schultz a. a. 0. S. 285.
360 Die Gebärden. Der Ulmer „Eunuchus" und das Theater.
Die Gebärden.
Und kaum hoffnungsvoller liegen die Verhältnisse, wenn wir
nun für die Gebärden die nämhche Frage aufwerfen: die Frage
nach den wirklichen Bewegungen der Menschen, welche in der Pe-
riode lebten, mit deren Theater wir uns zu beschäftigen haben. Im
Gegenteil: hier sieht es womöglich noch trüber aus. Freilich, auf
jene genau differenzierende lokale und chronologische Betrachtung,
wie sie bei den Kostümen nötig ist, kommt es hier nicht an, denn
so scharf nach Zeit und Ort wie die Trachten sind die Bewegungen
natürlich nicht geschieden. Anderseits aber werden wir uns doch
hüten müssen, ohne weiteres die uns allen heute geläufigen Ge-
bärden als die auch damals allgemein üblichen anzusprechen. Sehen
wir doch auch noch jetzt, wie die Gestikulation bei den ver-
schiedenen Völkern eine sehr verschiedene sein kann, wie z. B.
die Gebärden der Deutschen ganz andere sind wie die der Italiener,
ganz abgesehen davon, daß nun weiter auch noch ständische Unter-
schiede zu machen sind. Und auch innerhalb der Entwicklung eines
Volkes tritt allmählich eine Veränderung der Gestikulation ein : das
sehen wir, wenn wir die Gebärden der heutigen Italiener so gut
es geht mit der Gestikulation den alten Römer zu vergleichen suchen.
Und alle Versuche moderner Forschung, die wirkliche, nicht die
künstlerisch verwendete Gestik vergangener Zeiten wieder lebendig
zu machen, sind, wie an anderer Stelle dieses Buches i) zu zeigen
versucht wurde, bisher mißglückt. Vielleicht aber kommen wir
auch ganz ohne die Kenntnis der tatsächlichen Gestikulation der
hier behandelten Zeit aus: wenn wir nämlich sehen sollten, daß
sich die Gebärden unserer Dramenillustrationen von den sonst in
der bildenden Kunst üblichen nicht unterscheiden, wenn sich also
herausstellen würde, daß die betreffenden Illustratoren weder die
Wirklichkeit noch einen etwa existierenden besonderen Stil der
Theatergestikulation im Sinne haben, sondern daß sie sich bei der
Darstellung der Gebärden in diesen Dramenillustrationen gar nicht
anders verhalten, als wenn sie eine beliebige andere, rein bildkünst-
lerische Aufgabe zu lösen haben.
Wenn wir nun also an den Ulm er „Eunuchus" herangehen,
so ist uns das Eine von vorn herein klar: welche Kleider man zu
Ulm im Jahre 1486 allgemein trug und wie man die Hände bewegte,
wenn man sich unterhielt, das vermögen wir nicht zu ermitteln.
Aber der Schade ist in diesem Falle wirklich nicht groß, denn wenn
wir die Eunuchusbilder mit den Darstellungen vergleichen, die der
nämliche Künstler im gleichen Jahre für die Drucke von Lirers
Schwäbischer Chronik geliefert hat, so zeigt sich in Bezug auf die
1) S. 179.
Ulinor uiul Straßburger Terenz und das Theater. 361
Haartracht und die Kopfbedeckung, die Kleider, die Mäntel und
das Schuhwerk bei Männern wie bei Frauen eine so gut wie völlige
Übereinstimmung, eine so völlige, wie man sie bei der gänzlichen
Ungleichartigkeit der beiden Aufgaben nur irgendwie erwarten
kann. Gerade auf dem Gebiete der Bewegungen ferner erweist sich
der Künstler des Ulmer Terenz als ein Meister, der im Modernen so
weit fortgeschritten ist, wie um diese Zeit nur wenige in Deutschland.
Schon tritt der Zug zur Beobachtung des hidividuellen deutlich hervor:
auf die typische Art der Sprechgebärde, wie sie in der älteren Illu-
strationskunst erscheint, auf die Manier, beide Hände beim Sprechen
stets in Bewegung zu setzen, ist verzichtet; bald bewegen die Reden-
den beide Hände, bald nur die eine, wobei das Bestreben sich zeigt,
die ruhig bleibende Hand irgendwie sonst zu beschäftigen; bei größe-
rer Lebhaftigkeit der Rede werden die Bewegungen der Hände und
Arme weiter ausgreifend. Wir werden aber nicht das Recht haben,
hier etwa anzunehmen, der Künstler habe diese mehr naturalistische
Art gewählt, weil er auf dem Theater Schauspieler sich so ungezwun-
gen naturalistisch bewegen sah: nicht nur zeigt die Tendenz, eine
gewisse Abwechslung dadurch herbeizuführen, daß von zwei sich
Unterhaltenden der eine möglichst mit beiden Händen agiert, der
andere nur mit einer, die wesentlich zeichnerische Absicht — ein
Vergleich mit Lirer, so weit er sich durchführen läßt, macht uns
vielmehr besonders deutlich, daß darin nichts speziell Theatralisches
vorliegt, daß der Künstler vielmehr die mythischen alten Schwaben-
helden aller Zeiten, von denen in der Chronik erzählt wird, genau
so naturalistisch agieren läßt wie die Männer und Frauen des Terenz.
Als Material für theatergeschichtliche Erkenntnis kommt der ganze
Ulmer „Eunuchus" somit nicht in Betracht.
Etwas größer ist unsere Hoffnung beim Straßburger Terenz,
wenigstens was die Vollbilder betrifft. Fragen wir zunächst nach
der Leistung des anonymen Künstlers, der die erste Ausgabe vom
Jahre 1496 hergestellt hat, so vermögen wir hier leider nicht eine
andere von ihm herrührende Leistung daneben zu legen; und doch
wird sich auch hier wahrscheinlich machen lassen, daß der Künstler,
der bei jener sonderbaren Übersetzung des antiken Schauplatzes
in den mittelalterlichen unbedingt doch das Theater seiner Zeit im
Sinne gehabt haben muß, zunächst bei den Kostümen jedenfalls
nicht an die Vorführung der etwa damals in Straßburg im beson-
deren üblichen Theatertrachten gedacht haben kann. Darauf führt
schon die Beobachtung, daß er hie und da Trachten jenes, wie
wir eben gesehen haben, ganz untheatralischen Ulmer „Eunuchus"
nachgeahmt hat, in erster Reihe natürlich bei den zu dieser Komödie
gehörigen Bildern, wo z. B. der Titelheld wieder im Narrengewande
auftritt. Andere Kostüme der Straßburger Bilder sind wenn
auch zum Teil mit einigen Modifikationen aus dem Lyoner Terenz
362 ^^^ Straßburger Terenz und das Theater.
Übernommen, so z. B. namentlich in der „Andria" die Mysis mit
den eigenartigen überlangen Ärmeln und im „Eunuchus" der Thraso
mit dem eigentümlichen Mantel, der uns weiter unten noch be-
schäftigen wird. All das weist darauf hin, daß der Künstler nicht
etwa eine besondere Straßburger Theatergarderobe im Auge gehabt
hat. Einen weiteren Vergleich ermöglicht uns das große, oben
S. 320 reproduzierte Bild des Theaters und der Zuschauer: hier sind
doch Personen abgebildet, die mit der Vorstellung auf der Bühne
nichts zu schaffen haben. Hätte der Künstler also den Trägern
der einzelnen terenzischen Rollen besondere, von den gewöhnlichen
Trachten abweichende Theaterkostüme anziehen wollen, so müßten
die Gewänder dieser Zuschauer sich von denen der Chremes und
Parmeno und Thais usw. durchaus unterscheiden. Tatsächlich aber
ist das nicht der Fall, i)
Im Terenz von 1499 zeigen diejenigen Cliches, die Johannes Grü-
ninger zur Ergänzung schadhaft gewordener alter hinzugefügen ließ,
keineswegs irgend welche Rücksichtnahme auf eine Übereinstimmung
mit den Kostümen der älteren Bilder; im ganzen scheinen diese
Trachten einen etwas neumodischen Charakter zu tragen. Jeden-
falls aber und mit noch größerer Sicherheit als vorher können wir
hier feststellen, daß der neue Zeichner 2) an theatralische Sonder-
kostüme jedenfalls nicht gedacht hat, denn neben seine Terenzzeich-
nungen vermögen wir verschiedene Leistungen seiner Kunst aus der
allernächsten Zeit zu legen, und da zeigt sich : die Trachten, die er
z. B. im Jahre 1499 den Helden des Vergil, im folgenden Jahre den
Gestalten des Hugo Schapler und der Königstochter aus Frankreich
angetan hat, sind genau die gleichen, mit denen er hier den Davus
und den Simo und andere terenzische Figuren ausgestattet hat.
Ja, einige von den Bildern, die 1499 als Gestalten der antiken
Lustspiele auftreten müssen, sind schon 1498 für den bei Grüninger
erschienenen Horaz verwendet worden. Auch diese Trachtendar-
stellungen sind also rein bildkünstlerisch oder naturalistisch und
liefern jedenfalls keine besondere theatergeschichtliche Ausbeute.
Noch weniger haben, wie sich das wohl von vorn herein annehmen
ließ, die Gebärden der beiden Straßburger Terenzausgaben beson-
dere theatralische Bedeutung. Sowohl auf den Cliches wie auf den
1) Auffallend ist es höchstens, daß die eine unten links stehende Vmu den Hennin
trägt, jenen übergroßen, spitzen, aus Frankreich stammenden Hut, der damals wohl auch
in Deutschland aus der Mode zu kommen anfing, während auf den Vollbildern und den
einzelnen Cliches keine einzige Frauengestalt mit diesem Hut versehen ist. Indessen hatte
sich ja gezeigt (vgl. o S. 321), daß wir diese Frau nicht zu den Zuschauern, sondern im
Gegenteil zu den Schauspielern zu rec-hnen haben; auch hier ist also der gesuchte Gegen-
satz zwischen Schauspieler- und Zuschauertrachlen nicht vorhanden.
2) In meinen Notizen hat) ich mir seinen Namen notiert; Johannes Curti ; aber meine
Quelle vermag ich leider nicht mehr anzugeben.
Straüblirgt'r und Baseler Terenz und das Theater. 368
Vollbildern zeigen sie bei dem Künstler des Jahres 1496 die typische
Redegebärde der durchschnittlichen Illustrationskunst des Mittelalters:
das Sprechen mit beiden Händen; eine gelegentliche Abweichung
in der Weise, daß nur eine Hand agiert und die andere etwa den
Hut oder den Schwertgriff faßt, ist vermutlich auf zufällige An-
lehnung an die Ulmer oder die Lyoner Vorbilder zu erklären, i)
Diese Redebewegungen sind denn auch keine andern als die, die
wir auf dem Titelbild die im Zuschauerraum versammelten und
mit einander plaudernden Herren und Damen machen sehen. —
Die neuen Cliches, die Grüninger für die Ausgabe von 1499 her-
stellen ließ, weichen noch weniger von dieser normalen Art ab.
Endlich ist auch im Baseler Terenz nichts davon zu spüren,
daß der Künstler für Kostüme oder Gestikulation besondere thea-
tralische Verhältnisse berücksichtigt hätte. Die Tracht, die die
terenzischen Gestalten hier aufweisen, ist im ganzen durchaus die-
selbe, die wir in den von dem gleichen Künstler herrührenden
Zeichnungen zum „Ritter vom Thurn" finden; hier und da lehnt der
Baseler Meister sich auch ziemlich eng an die Tracht des Ulmer
„Eunuchus'* an, aber auch das spricht ja von vorn herein eher gegen
als für die Möglichkeit, daß wir es mit der Nachbildung einer wirklich
vorhandenen Theatergarderobe zu tun hätten. Das Narrengewand
trägt der Eunuch hier übrigens nicht. In den Bewegungen endlich
finden wir hier wieder den naturalistischen Zug, der der modernen
Kunstentwicklung entspricht — stärker noch, wie mir scheint, als
im „Ritter vom Thurn'' und ungezwungener noch als in dem Ulmer
Vorbild, von dem der Baseler Meister doch gerade hier sichtlich
gelernt hat. Die individualisierende Gebärde und ihre zeichnerische
Verwertung sind hier aus einer gewissen Starrheit fast völlig erlöst,
die auf den Ulmer Bildern immerhin noch zu finden gewesen war.
Aber nichts spricht dafür, daß wir hier an etwas spezifisch Thea-
tralisches zu denken hätten. Auffallend ist es, wie in dem Bilde
zur ,,Andria" I, 5 Mysis die Hände über der Brust gekreuzt hält,
ohne daß wir das mit den ihr vom Dichter in den Mund gelegten
Worten irgendwie zusammen bringen könnten. Es ist die typisch
malerische und zeichnerische Devotionsbewegung, wie sie vor allen
Dingen aus den zahlreichen Verkündigung- und Marienkrönungs-
bildern jener Jahrhunderte uns entgegentritt, und tatsächlich hat
die ganze Haltung der Mysis, wie die Stellung des hinzueilenden
Ritters eine so ausgesprochene Ähnlichkeit mit der Haltung
1) Auf dem Vollbild der „Andria" kommt hier einmal ausnahmsweise eine Bewegung
vor, die den Affekt des Schmerzes zum Ausdruck bringt: bei der Darstellung der Titel-
heldin, die wir hier auf dem Schmerzenslager vor uns sehen, während sie bei Terenz
hinter der Szene bleibt. Die Gebärde besteht in einem Hochheben beider Arme an den
Seiten des Kopfes, ohne daß sich die Hände einander nähern; vermutlich auch eine An-
passung an die Leidgesten des Lyoner Terenz (vgl. u. S. 410.)
364 Der Lyoner Terenz und das Theater. — Lebende Bilder.
der Maria und des Engels auf den Annunziationen, daß es
höchst wahrscheinlich ist: der Baseler Meister hat sich hier bewußt
oder unbewußt in der Komposition an irgend ein Verkündigungs-
biid gehalten. Auch daran sehen wir: er steht durchaus mit seiner
Leistung in rein bildkünstlerischen, kaum in theatralischen Zu-
sammenhängen.
So bleibt schließlich lediglich der Lyoner Terenz vom Jahre
1493 übrig, und bei ihm hatte die Entstehungsgeschichte uns am
meisten Hoffnung darauf gemacht, daß wir wirkliche Theaterelemente
in seinen Bildern finden werden. Die Untersuchung ist hier zunächst
besonders durch den Umstand erschwert, daß wir nur ganz all-
gemein die Schule des unbekannten Meisters bestimmen konnten,
aber nicht in der Lage sind, andere Leistungen von seiner Hand
vergleiche;id neben seine Szenenbilder zu legen. Anderseits aber
sind wir imstande, das Untersuchungsmaterial hier wesentlich durch
den Hinweis auf bisher unbenutztes Material zu erweitern, das
auch außerhalb unseres Zusammenhanges betrachtet seine theater-
geschichtliche Bedeutung besitzt. Es handelt sich bei den Dar-
stellungen, die wir im Auge haben, um
Lebende Bilder.
Die lebenden Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts im Zusammen-
hange mit der Theatergeschichte eingehend betrachtet zu haben, ist
ein Verdienst der „Histoire du theatre" von G. Bapst, die bei uns
in Deutschland entschieden zu wenig beachtet worden ist. Freilich
bezieht sich dieses Werk im Grunde nur auf die Geschichte des
französischen Theaters, und so sind denn wesentlich auch
nur die lebenden Bilder Frankreichs berücksichtigt worden: es wird
uns auch wenig mehr geboten als eine fleißige und mühselige Zu-
sammenstellung des an verstreuten und uns in Deutschland viel-
fach unzugänglichen Orten gedruckten archivalischen Materials;
mehr um eine Gesamtgeschichte als um theatergeschichtliche Aus-
beutung handelt es sich und vor allem mehr um eine Geschichte
der Fürsteneinzüge überhaupt, bei denen unter anderm auch
die lebenden Bilder vorgeführt zu werden pflegten, als um eine
konsequente Beschränkung auf dieses speziell theatergeschichtliche
Material. 1) Trotzdem müssen wir für die hier gegebene Anregung
dankbar sein; es fehlt nun leider freilich an Beiträgen der gleich-
zeitigen bildenden Kunst zu der Überlieferung dieser lebenden
1) Eine rein bibliographische Zusammenstellung der Fürsteneinzüge bei Vinet-
Dehaines, Petes et marches hisloriques en Belgique (Sociele. des Sciences., de Lille
V, 1) Lille 1895, bietet so gut wie nichts. Die Notizen bei Petit de JulleviUe, Les
mysleres 2 (Paris 1880), S. 186 ff, beziehen sich vor allem auf die „Mysteres minies" im
eigentlichen Frankreich. Immerhin hat JulleviUe (vgl auch 1, S. 196—200) offenbar auch
Bai)st die Anregung zu seiner genaueren Darstellung gegebiMi.
Holzsclinitle und Zcichiuingoii h^x'iider Bilder. 365
Bilder, und uiisern Vorstellungen von ihnen niant^elt es wenigstens
für die ältere Zeit an Sicherheit und an Anschaulichkeit. Die
ältesten Zeichnungen dieser Art, die bisher bekannt sind, liegen in
einem großen Holzschnittwerk vor, das 1515 in Paris erschien und
uns den im vorhergehenden Jahre erfolgten Einzug Karls V. in
Brügge samt den damals vorgeführten lebenden Bildern in reiz-
vollen Darstellungen zeigt. Diese Bilder aber gehören schon einer
Übergangszeit an; Bapst hat sie beschrieben i), indem er diese
niederländischen Leistungen etwas mühsam zur Erläuterung seiner
Darstellung der französischen Verhältnisse heranzieht. Nach älteren
Bildern, die den gleichen Stoff behandeln, zumal nach Zeichnungen
ist bisher vergeblich gesucht worden; auch die Illustratoren der
Froissart-Handschriften, denen wir Einblicke in so viele Kultur-
gebiete jener Zeit verdanken, lassen die hierher gehörigen Berichte
des Chronisten ohne bildliche Erläuterung. So mag der Hinweis
auf eine Handschrift des 15. Jahrhunderts schon an sich willkommen
sein, weil sie in reicher Fülle das bisher Vermißte bietet; für unsern
Zusammenhang hat sie eine besondere Bedeutung dadurch, daß es
sich um die westlichen Niederlande und um die 90er Jahre des
15. Jahrhunderts handelt, um den Ort und die Zeit also, die für
unsern Lyoner Terenzillustrator in Betracht kommt.
Die Handschrift 78 D 5 des königlichen Kupferstichkabinetts zu
Berlin ist in einen schönen braunen Lederband gekleidet und um-
faßt 62 Blätter in Folio, Bilder und Text. Die Einrichtung ist fast
durchgehend die, daß wir rechts eine farbige Zeichnung sehen —
denn auch diese Eigenschaft haben die hier behandelten Bilder vor
den bisher bekannten Darstellungen voraus — während links der
dazu gehörige erläuternde Text handschriftlich in lateinischer
Sprache zu lesen ist. Das ganze Werk ist bestimmt, den feierlichen
Einzug zu verewigen, den die junge spanische Prinzessin Johanna,
die Gattin von Kaiser Maximilians einzigem Sohne Philipp dem
Schönen, späterhin die Mutter Kaiser Karls V., im Jahre 1496 zu
Brüssel gehalten hat, jene Johanna, der der heißgeliebte Gatte ein
Jahrzehnt später durch den Tod entrissen wurde und die seitdem
den schaurigen Beinamen ^die Wahnsinnige" durch die Welt-
geschichte schleppt. Damals lebte sie in den Honigmonden der
jungen Ehe, und die flandrischen und brabantischen Städte mühten
sich um die Wette, die junge Herrscherin unter Aufbietung des
größten Pompes in ihren Mauern zu begrüßen, um auf solche Weise
einmal den geheimen Gegensatz des Landes zum Herrscherhause
zu übertünchen und anderseits der unbeschreiblich quellenden
Festesfreude der Bewohner entgegen zu kommen. Der unbekannte
1) a. a. 0. S. 111. Er weiß übrigens nicht, daß es einen im Jahre 1850 in Brügge
erschienenen Neudruck des sehr selten gewordenen Originals gibt.
366 Der Brüsseler Einzug vom Jahre 1496.
Berichterstatter der Berliner Handschrift meldet im Eingange (Fol. 2)
das Folgende: Quo Egregios animos noiiitatumqiie ciipidos quam
exertis brachiys pronis affectibiis patulisque ymmo effusis precor-
clijs insignis Bnixellariim diicatus brabantie opidi eines quinto ydus
decembris anni nonagesimi sexti in occiirsiim Serenissimi Johanne
gloriosissimi Fernandi hyspanie Castillie etc. regis Illustrissimi Phi-
lippi archiducis Anstrie Romanorum regis Maximiliani semper
augusti filii coniugis vtpote eorum principis ac domine desideratis-
sime prodiere quamque sincerissimis votis festiuis applausibus pro-
fusis gaudiis Jocundum eins suorumque aduentum excepere, minime
lateat hoc in libello summis quasi labris sollicHe depictas effigies
intuenti viderit vbi et pro subscriptis titulis seu argumentis qui
ordine quo cuiusque officij digniiatisue prosilierint denique flguris,
quas personagias vocamus quid scenis operam dantes tropologes
pretenderint quo et benignissima hera devotos sue excellentie eines
foneat congratulansque inspector sine denti si quid negligentie pre-
cipitior affeetus admiserit suppleat liquide patebit.
Man konkurrierte vor allem mit Antwerpen, wo Johannas Ein-
zug schon am 19. September stattgefunden hatte. Der Chronist
Jean Molinet berichtet darüber i): leelle tres illustre dame et ver-
tueuse . . . la plus richement aornee que jamais fut paravant venue
es pays de monseigneur Varehiduc, estait montee sur une mute
ä la mode d Espaigne, ayant le chief deeouveri, estoit accompaig-
nee de seizes nobles dames et une matrone qui, vestues de drap
dor, la snivoient, montees de parelle sorte; avoit paiges accoustrez
de riches parurures . . . . Plusienrs histoires par personnaiges furent
faietes par ceulx de la ville, qui long seroient ä les reciter . . . icelle
tres exeellente dame estoit habituee de drap dor, estoffee de pierre-
ries tant precieuses et riches . . .
Ganz kurz ohne irgend welche Einzelschilderungen handelt
Molinet dann auch von Johannas Einzug in Brüssel, indem er er-
zählt, daß dazu auch madame Marguerite d^Autriee, sa belle-soeur,
Kaiser Maxens Tochter, übrigens eine geborene Brüsselerin, herbei
geeilt sei. Wenn wir dann die zu fol.31 unserer Handschrift gehörige
Darstellung ansehen, wo die Fürstin und hinter ihr eine zweite
Dame auf Maultieren reitend und von einer glänzend ausgestatteten
Gilde eskortiert dargestellt sind, so entspricht das durchaus diesen
Molinetschen Schilderungen. Anderweitige genaue Nachrichten über
den Brüsseler Einzug werden sich schwerlich auffinden lassen, da
die älteren Brüsseler Archivalien im Jahre 1695 beim Bombardement
der Stadt zugrunde gegangen sind. ZufäUig haben sich ein paar
Auszüge aus den alten städtischen Rechnungen erhalten, die sich
jemand privatim im Jahre 1628 angelegt hat, und hier heißt es zum
1) Molinet, Chroniques ed. Buclion (Paris 1828) 5, S. (>2.
Der lirüsselcr KiiiziiK vom .laliic 149fi.
367
Jahre 1497 i): Item Wonlt verliaelt den cost (jhedaen ter incamste
van vroiiwe Johannen, der cronincx dochter van Spaignen, die t)innen
deser statt quam, des vri/dachs avondt, opten neghensten dach van
de maendt van decemhri int jaer 1496.
Abb. 60. Brüsseler Einzug: der histrio.
Auf den ersten 29 Blättern der Handschrift sind uns nun die
Aufzüge vorgeführt, die vor jener Gruppe der Herrscherin einher-
1) Vgl. Galeslot: Conipte rendue des seances de la commission royale d'histoire
3. Serie, tom. 9 (Bruxelles 1867), p. 493.
368 Aufzüge und Schaugerüste.
schritten; auch abgesehen von der Vorführung der damahgen Gilden-
trachten enthahen diese Bilder allerlei Merkwürdigkeiten, die zumal
im volkskundlichen Interesse eine genauere Untersuchung wohl
verdienten: da produzieren sich vier musikalische Narren; dann
kommt (Abb. 60, s. S. 367) ein histrio, ein Mann in langem rotem
Kittel mit einem Federhut auf, mit einem Knüppel unter dem Gurt
und einem andern in den Händen, hinter dem fünf Straßenbuben
neckend und spottend einherziehen i). Weiter folgen wilde Männer
mit einer Mohrin, ein Narr, der sehr possierlich hinten auf einem
alten Pferde hockt (Abb. 61, s. S.369); weiter (Abb. 62, s. S.371) ein
sehr merkwürdiger Aufzug (zu fol. 16): Hoc scemate Represen-
tantiir qiiidam qiii traha vecti faciesqiie tecti dhiersis miisis artis
siie acceptissimam armoniam compegerunt ; fihif seltsame Gestalten,
man weiß nicht, sind es Männer oder Frauen mit eigentümlichen
dudelsackartigen Musikinstrumenten in den Händen und mit dun-
keln spitznasigen Masken vor dem Gesicht sitzen in einer Art
Schlitten, und auf dem Gaul, der ihn zieht, zeigt sich eine sechste
ähnliche Gestalt. All das aber sind für uns nur Nebensachen, die
Hauptsache beginnt auf Fol. 32, und hier meldet der Berichterstatter
das Folgende: Seqiiiintiir effigies seil scemata figiirariim qiias per-
sonagias vocamiis in scenis seil eleiiatis et claiisis esschaiifaiidis
In conis viconim locaiariim qiii pretereuntiiini cum oportunitaie
tum reqiiesta cortinis ad hoc aptatis nunc velabantiir nunc patebant
obtutibiis qiie nediim gesiorum congrua fictione ac mirabili pom-
posoqiie apparatu quam optime condecentis tropologie (vt patebit)
appUcatione cunctonim, litterarumque precipue, animos oblectauere.
Und nun folgen 27 Blätter, deren jedes das Bild eines Theater-
gerüstes zeigt.
Über die Art der Einrichtung dieser Bühnen mit den Inschriften,
die sie tragen, mit dem Vorhang, der sie verschließt, wird weiter
unten ausführlich die Rede sein; für den allgemeinen Eindruck
wird zunächst ein Blick auf die verschiedenen Reproduktionen
aus unserm Kodex genügen, die wir weiterhin liefern. An dieser
Stelle wird vielmehr zuerst darauf hingewiesen werden müssen,
daß wir diese Schaugerüste nicht etwa nur deswegen in nächste
Beziehung zum wirklichen Theater setzen, weil sie tatsächlich
einen der modernen Bühne durchaus entsprechenden Anblick
bieten — das würde vielmehr eher umgekehrt zur Vorsicht mahnen,
weil es sich ja um etwas handelt, was von dem sonst uns bekannten
mittelalterlichen Theater durchaus abweicht; wir vermögen vielmehr
1) zu fol. 12: Hoc scemate represciitatur histrio qiiidnm qni j>artiiii luiiatico cerebro
correptiis populo frecpientem risüm extorquere sueuit hie quod nee dii dedignantiir suomo-
diilo affectum piuni kt/rieleijson kijriel. alta voce ingeminans lUustrissime domine cui allusere
prata virencia queqiie prodidit. — Ob die Pfeife auf Abb. 61, die natürlich keine Tabaks-
pfeife sein kann, nachtriiglicli auf das Bild gekommen ist, wage ich nicht zu entscheiden.
Scliaii<<criislt' für lebende Bilder.
369
den Zusammenhang dieser Darstellungen lebender Bilder und wirk-
hell theatralischer Vorstellungen kulturgeschichtlich nachzuweisen
Ähnliche Buhnengerüste wurden in jenem Grenzgebiete zwischen
Holland und Frankreich offenbar nicht nur auf der Straße, sondern
Abb. 61, Brüsseler Einzug: der Narr zu Pferde.
auch in den großen Festsälen aufgeschlagen, und nicht nur unbe-
wegliche Bilder wurden auf ihnen vorgeführt, sondern auch ganze
Fantomimen, die einen vollständig dramatischen Charakter haben,
bo erzählt uns der Chronist Olivier de la Marche von dem prunk-
vollen Feste, das Adolf von Cleve 1453 für Philipp den Guten von
Herr in a ii n , Theater.
24
370 Lebende Bilder und dramatische Aufführungen.
Burgund in Lille veranstaltet hat. Zu den vielen Vorführungen
eines überraffinierten Luxus, die hier während des Mahles geboten
wurden, gehört auch die Aufführung einer Pantomime, deren Gegen-
stand Jasons Heldentaten sind. Sie wird wie unsere lebenden
Bilder personage genannt, obwohl es sich, wie aus der hier fol-
genden Schilderung ihrer ersten Abteilung hervorgeht, um ein wirk-
liches Stück, wenn auch nur ein Stück ohne Worte handelt, das
der Chronist an anderer Stelle denn auch geradezu als mistere
bezeichnet : i) et tantost apres sonerent, moult-haut, quatre clairons,
et firent iine joyeiise hatiire. Ces clairons estoijent derriere iine
courtine verde, iendue sur wie grande bourd faict au bout de la sale.
Quand leur bateure finit, soudainement fut tiree la courtine: et lä
fut veu, sur ledict hourd, une personnage de Jason, arme de toutes
armes: c/ui se promenoit en celle place, regardant au tour de lug,
comme sil fust venu en terre estrange. Puis s'agenouilla, et re-
garda vers le ciel: et lisit un brief que Medee lug avoit baillee,
quand iL se partit delle, pour la Toison d'or conquerre: et, ä son
relever, il veit venir contre luy, grands et horribles beufs, qui luy
vindrent courir sus et ä tant fut la courtine retiree: et cessa
ce mistere, pour celle fois. Ebenso werden zu Brügge 1468 bei der
Hochzeit Karl des Kühnen mit Margarethe von York die Taten des
Hercules aufgeführt. Bei andern Gelegenheiten handelt es sich
zwar wieder wie in unserer Brüsseler Handschrift um auf der
Straße an den verschiedenen Ecken aufgestellte Schaugerüste mit
lebenden Bildern, aber sie stehen nicht wie hier unter einander in
keinem Zusammenhang, sondern stellen nacheinander die einzelnen
Szenen eines Gesamtherganges dar, so daß auf diese Art schließ-
lich doch ein stummes Drama zustande kommt. Ja, es findet sich,
daß man diese Szenen nicht auf einzelne Schaugerüste verteilt,
sondern sie ohne Unterbrechung hinter einander auf einer ganz
ungewöhnlich langen Bühne zur Darstellung bringt; Ansätze dazu
sind auch auf den Brüsseler Bildern vorhanden, anderwärts aber
konnte auf solche Weise die ganze Passion oder auch ein Toten-
tanz wie eine Art dramatisches Relief dem Auge der einziehenden
Fürstlichkeiten dargeboten werden. Wieder anderwärts kommt es
vor, daß aus dem lebenden Bild eine Person sich von den übrigen
löst, hervortritt und eine Ansprache hält: Beispiele dafür finden
wir auf den Brügger Bildern des Jahres 15152). Endlich zeigt sich die
Verwandtschaft zwischen diesen lebenden Bildern und wirklich
dramatischen Aufführungen auch darin, daß bei manchen Fürsten-
einzügen neben jenen wortlosen Vorführungen auch wirkliche Dramen
auf der Straße aufgeführt werden; eine andere Verbindung zwischen
1) Nouvelle CoUection des memoires pour servir ä l'Hlstoire de France parMichaud
et Poujoulat, 3 (Paris 1837), p. 482 ff.
2) Ein allerdings bedeutend späteres Beispiel aus Brüssel bei Creizenach 3, S. 464.
Lebende Bildci' und dramatische Aufführungen.
371
beiden theatralischen Formen ist schHeßHch im 16. Jaln-hundert in
den großen Auf führungen der niederländischen Rederijkers gefunden,
wo man im Laufe der Handlung den Vorhang im Hintergründe des
Abb. 62. Brüsseler Einzug: maskierte Musilvanten (vgl. S. 368).
Schauspiels aufzuziehen und eine Vertooning zu zeigen pflegte,
ein Bild, das auch aus lebenden Personen bestehen konnte, i)
Alle die Einzüge, denen das hier verwendete Material ent-
nommen ist, haben sich auf niederländischem und französischem
1) Creizenach 3, S. 457.
24^
372 Lebende Bilder und dramatische Auffüln-ungen.
Boden abgespielt, richtiger gesagt wohl auf nordfranzösischem, denn
bei den entsprechenden Festlichkeiten des südlichen Frankreichs
treffen wir die uns hier interessierenden Veranstaltungen entweder
gar nicht ') oder nur in spärlicheren, offenbar von Norden her über-
nommenen Resten. Nach dem eigentlichen Deutschland ist die
ganze Sitte offenbar überhaupt nicht übernommen worden; wir
besitzen zwar auch hier nicht wenige Schilderungen von Flh'sten-
einzügen im 14. und 15. Jahrhundert 2), und auch hier ging ein solcher
fürstlicher Besuch den städtischen Behörden gehörig an den Geld-
beutel; aber man begnügte sich meist mit einem einfacheren Ehren-
geleit und legte das Geld lieber in anders gearteten Genüssen:
in Nahrungsmitteln nämlich oder Schmuckgegenständen an 3).
Anders endlich in Italien, wo die fiu'stlichen Einzüge in dem festes-
frohen Leben der Renaissancezeit wieder eine besonders wichtige
Rolle spielten 4). In mancher Beziehung scheinen die Festeskünstler
hier und dort in jener nördlichen französisch-niederländischen Sphäre
in geistigem Konnex zu stehen, und der Zug zum Drama macht
sich hier wie dort geltend. Aber während die ruhigere Natur des
Nordens ihn zu festen Bildern erstarren läßt, bleibt er hier im
Süden in wirklich lebendiger Bewegung: die Teilnehmer des Ein-
zuges selber stellen, indem sie durch die Straßen ziehen, gewisser-
maßen einzelne Szenen von Theaterstücken vor; das Prachtstück
dieses durch die Gassen fließenden theatralischen Lebens sind die
trionfi, von deren Bedeutung für die Renaissancekultur hier nicht
erst die Rede zu sein braucht. Eine Sonderstellung nimmt Venedig
ein, wo die Natur der Straßen jene Bewegtheit ausschloß; hier
stellt man auf den Hinterteilen der bei der Einholung durch die
Kanäle fahrenden Schiffe feste lebende Bilder dar. 5) Diese Bilder
aber unterscheiden sich von den uns interessierenden doch gerade
in dem wesentlichen Punkte: daß sie nämlich im Sinne des mittel-
alterlichen Theaters von allen Seitin her sichtbar sind, während
die lebenden Bilder auf den niederländisch-französischen Schau-
1) So ist z. B. in der ausführlichen Schilderung, die wir von dem Einzüge Karls VIII.
an einer uns für unsern allgemeineren Zusammenhang besonders interessierenden Stelle:
zu Lyon im Jahre 1495 besitzen (Godofroy, Le ceremoniel fran^ais I, Paris 1649,
S. 685), von der Vorführung lebender Bilder auf der Straße nicht die Rede.
2) Vgl. die Zusammenstellungen bei Alwin Schultz S. 449 ff.
3) Auf dem Konstanzer Konzil sind gelegentlich lebende Bilder vorgeführt worden:
aber das ist ein internationaler Kongreß, und die Vorführenden sind keine Deutschen.
Vgl. A. Springer in den Mitteilungen der Zentralkommission zur Erforschung und Er-
haltung der Baudenkmäler . . 1860, S. 125 ff.
4) Vgl. besonders Burckhardt, Kultur der Renaissance, 7. Aufl. 2, S. 136 ff.,
ferner z.B. Kristeller, Mantegna, Leipzig 1902, S. 300 ff.
5) Vgl. außer dem bei Burckhardt angeführten Älaleiial tjcsondcrs den interessanten
Bericht über den Einzug, den die Königin von Cypern 1490 in Venedig hielt: l)ei Lünig,
Theatrum ceremoniale (1719 ff.) S. 33.
Lebende Bilder und dramatische Auffühnnifren. 070
gerüsten im Stile der modernen Bühne nur von einer Seite her
sich betrachten lassen und den Anblick wirklicher Bilder gewähren
Jene venetianischen Vorführungen erinnern mehr an die im ganzen
Mittelalter üblichen theatralisclien Darbietungen auf den durch die
Abb. 63. Brüsseler Lebende Bilder: .Judith und Holofernes.
Straßen fahrenden Wagen, wie diese übrigens auch in den Nieder-
landen keineswegs fehlen.
Welches Land nun Anspruch auf den Ruhm hat, diese modernen
lebenden Bilder zuerst hervorgebracht zu haben, soll hier nicht
374 I^i® Personagia und die Rederijkers.
untersucht werden, um so weniger als jenen Zusammenstellungen
über die Geschichte der Einzüge in Frankreich eine gleiche Samm-
lung für die Niederlande sich nicht an die Seite stellen läßt^); in
Paris ist eine derartige Veranstaltung zum ersten Mal im Jahre
1389 bei dem Einzug der Königin Isabeau belegt. Daß Künstler
aus Cambrai sich gelegentlich im Jahre 1439 in Gent, also auf
flandrischem Boden einen Preis für ihre jeiix de personnages
holend), ist natürlich noch kein Beweis für die Priorität der franzö-
sischen Leistungen; vielleicht ist der burgundische Hof der eigent-
liche Erfindungsort und hat nach Osten und nach Westen seinen
Einfluß ausgeübt. Jedenfalls aber sehen wir diese neue Kunst als-
bald in den Niederlanden eifrig in Pflege genommen und zu der
Eigenart heimischer Kunstübung in die engste Beziehung gesetzt.
Die halb literarische, halb malerische Aufgabe, die hier gestellt war,
mußte ein Land besonders reizen, das auf beiden Kunstgebieten
rastlos sich zu betätigen bemüht war.
Die literarischen Väter oder Pflegeväter der Personagia sind
die Rederijkers. Hier ist nicht der Platz, sie genauer zu charak-
terisieren oder gar auf ihre Geschichte im einzelnen einzugehen;
der öfter versuchte Vergleich dieser niederländischen Rederijkers mit
den deutschen Meistersingern liegt in unserm theatergeschicht-
lichen Zusammenhange besonders nahe; eindringlich aber müssen
gerade hier auch die Unterschiede hervorgehoben werden. Dabei
haben wir nicht sowohl die Verschiedenheit der finanziellen Hilfs-
mittel zu betonen, die sich bei der Vergleichung der holländischen
Vertreter bürgerlicher Poesie mit ihren deutschen Kollegen ergibt,
als den Umstand, daß die Rederijkers geradezu vom Drama aus-
gehen, während die Meistersinger erst ganz spät, nachdem ihr
Hauptgebiet, die Lyrik und die lyrische Epik, wesentlich abgewirt-
schaftet ist, sich zu dramatischer Betätigung aufraffen. Sonst aber
gibt es nicht wenige Ähnlichkeiten zwischen beiden, die auch für
die Erläuterung derjenigen Leistung in Betracht kommen, mit der
wir es hier zu tun haben: hier wie dort ein ausgesprochener Zug
zur Lehrhaftigkeit ; hier wie dort ein entschiedener Mangel an Ver-
ständnis für alles Nichtbürgerliche bei aller löblichen Neigung, den
Horizont zu erweitern; hier wie dort endlich als Stimulans aller
Kunstübung der Wettbewerb. Gerade in letzterer Hinsicht sind
wir um die Zeit, von der wir reden, in die eigentliche Glanzperiode
der Rederijkers eingetreten: im Mai des gleichen Jahres 1496, in
welches unsere Brüsseler Vorführungen gehören, hatte in Antwerpen
das erste berühmt gewordene Landjuweel, der erste große dra-
matische Weltkampf der verschiedenen Städte und der in ihnen
ansässigen Rhetorikerkammern, stattgefunden. Gerade danuüs inter-
1) Doch. s. oben S. ;5(i4 die Schrill von Dehaines.
2) Creizenach 1-, S. 401 Anm. 2.
Die Rederijkers.
375
essierten sich auch Nichtbürger besonders für die Leistungen der
Rederijkers; Fürsten und Prinzen traten in ihre Kammern ein, und
PhiHpp der Schöne selbst hatte im Jahre 1493 einen großen Zentrali-
sierungsversucli für die Kammern des ganzen Landes gemacht,
Abb. 64. Brüsseler Lebende Bilder: Tobias und Sara.
indem er Gent zum Vorort erklärte. Man dachte nun freilich nicht
daran, die Verordnungen der Genter zu respektieren, und mit am
wenigsten gewiß in Brüssel, dessen vornehmste Kammer im Gegen-
satz zu den Blumennamen, die man anderwärts meist gewählt hatte,
die rein literarische Bezeichnung Het Boek führte.
376 Rederijkers und Lukasgilden.
Wie die Vertreter der Dichtl^unst in den Kammern der Rede-
rijkers, so haben sich, mit einer noch größeren praktischen Be-
deutung natürhch, die Vertreter der Malerei in den St. Lukasgilden
zusammengetan. So wenig wie von der Geschichte und den Ein-
richtungen der Rederijkers soll hier von der Entwicklung und von
den Institutionen dieser Künstlergilden die Rede sein, denen ein
zusammenfassendes Werk, wie es scheint, bisher noch nicht ge-
widmet ist.i) Hier kommt es für uns vor allem darauf an zu be-
tonen, dal5 nicht etwa nur die Großmeister der Malerei, sondern
auch die kleinen Leute bis zu den Handlangern herunter diesen
Gilden angehören konnten und daß gerade sie für die Dekorations-
malereien und die ähnlichen Aufgaben, um die es sich in unserm
Zusammenhange handelt, besonders in Betracht kamen. 2) Daß in
unsern Brüsseler Festlichkeiten die St. Lukasgilde ihre Hand im
Spiele gehabt hat, ist zwar nicht durch ein äußeres Zeugnis
verbürgt, ein inneres unserer Handschrift spricht aber dafür um
so vernehmlicher: das letzte Schaugerüst, das einzige, das aus
allen andern Zusammenhängen herausfallend dem Kreise spe-
zifisch christlicher Vorstellungen entnommen ist, stellt den Schutz-
patron der Gilde, den heiligen Lukas dar, wie er die Madonna
mit dem Kinde abkonterfeit: hier hat sich die Gilde offenbar
selbst ein Denkmal ihrer Teilnahme an den Festesvorbereitungen
gesetzt. Im Übrigen fehlt es aber auch sonst nicht an Zeugnissen
dafür, daß die Rederijkers mit den Lukasgilden für ihre Veranstaltungen
sich zusammentaten; ausdrücklich ist es uns z. B. für Antwerpen
bezeugt, wo ein besonders siegreicher Bund zwischen beiden im
Jahre 1480 geschlossen wurde ^j; von einem außerordentlich inter-
essanten Fall, in welchem wir einen der berühmtesten Maler des
15. Jahrhunderts in der Gesellschaft der Rederijkers treffen werden,
soll alsbald die Rede sein, und noch mehr als hundert Jahre später
finden wir in Karl van Mander einen Künstler, der die Funktionen
des Dekorationsmalers und des Dramendichters vereinigt.^) Übrigens
pflegten auch in Frankreich zu jenen festlichen Einzügen, von
denen früher die Rede war, stets die hervorragendsten Künstler
der betreffenden Stadt herangezogen zu werden; die berühmtesten
Namen der damaligen französischen Kunst, Foucquet und Jehan Perreal,
werden wiederholt in solchem Zusammenhange genannt; bei den
1) Ein typisches Bild gewinnt man etwa aus den Zusammenstellungen von Kä-
st e e 1 e , Keuren 1441 — 74. . . et autres documents inedits concernents la gilde de St. Luc
de Brügges. Brügge 1867.
2) Derartige Nachweise für Gent imd Haarleni bei C r o w e und C a v a 1 c a s e 1 1 e ,
Geschichte der alten niederl. Malerei, deutsch von Springer (1875), S. 199, 204 ff.
3| Vgl. Stecher, Histoire de la Litterature Neerlandaise en Belgique (Bru-
xelles 1886), S. 186.
4) Vgl. Plettinck, Karl van Mandor (Gent 1896).
Kederijkeis iiiid Lukasgilden.
377
burgundischen Festen ist es nicht anders : zu jenv:;r Hochzeit Karl des
Kühnen zu Brügge im Jahre 1468 wurden viele Maler aus Tournai,
Brüssel, Antwerpen und andern Städten der Niederlande be-
schäftigt, i) Der berühmteste von ihnen ist Hugo van der Goes,
Abb. 65. Brüsseler Lebende Bilder: Abimelecli durch einen Steinwurf getötet (vgl. S. 382).
der im Jahre 1482 in noch jugendlichem Alter geistesgestört in der
Zelle eines Klosters bei Brüssel gestorben ist; in seiner Blütezeit
1) Wir wissen das aus den erhajtenen Rechnungen, die am vollständigsten veröffent-
licht sind bei Busscher, Recherche sur les peinteurs gantois (1853), S. lOOff: vgl.
auch Michiels. Histoire de la peinture flamande, 2. ed. 3 (Paris 1866), S. 350 fL
378 Personagia und Liikasgilden.
war er Dechant der St. Lukasgilde zu Gent. Gerade er aber hat
nicht bloß bei Gelegenheit jenes burgundischen Hochzeitsfestes seinen
Pinsel in den Dienst der dramatischen Festmalereien stellen müssen;
die Genter Stadtrechnungen bezeugen vielmehr, daß man ihn auch
später immer wieder bei derartigen Gelegenheiten mit Aufträgen be-
dacht hat, und er ist der eben schon erwähnte Künstler, für den
die Verbindung mit den Rederijkers direkt bezeugt ist^). Das mag
uns besonders interessieren, weil wir hier nicht bei den archi-
valischen Ermittlungen stehen zu bleiben brauchen, sondern weil
wir hier einmal an eine Stelle kommen, an der wir den Zusammen-
hang zwischen Theater und bildender Kunst direkt beachten können.
Freilich zunächst nur in der Weise, daß wir den Einfluß des
Theaters auf des Meisters Gemälden zu studieren vermögen. Ein
glänzender Beweis für diesen Einfluß scheint mir zunächst das in
neuerer Zeit vom Berliner Museum erworbene Bild, die Anbetung der
Hirten. Hier sehen wir, genau wie auf den Schaugerüsten der Brüs-
seler Handschrift, am rechten und am linken Bildrande einen zurück-
gezogenen Vorhang, der hier nur dadurch etwas mehr ins Bild-
kimstlerische gezogen wird, daß an jeder Seite ein Prophet in seine
Falten greift. Aber auch davon abgesehen wird man geneigt sein,
einen gewissen Mangel an Einheitlichkeit in der Komposition, das
bloße Nebeneinanderrücken innerlich nicht ganz verbundener Motive
und Gestalten auf die Anlehnung an ein wirklich gestelltes lebendes
Bild zurückzuführen. Theaterelemente aber zeigen sich auch sonst
auf den wenigen Bildern, die wir von Hugo van der Goes besitzen :
so ist auf den „Sündenfall" in Wien die Schlange als ein Mensch
dargestellt, den man in das theaterübliche Drachenkostüm gesteckt
hat, der ruhig auf zwei Beinen steht und sich neben Adam und
Eva an den Stamm des Erkenntnisbaumes lehnt; auf dem rechten
Flügel des Florentiner Triptychons steht die Margarethe auf einem
Höllenrachen, der ganz und gar das hölzerne oder papperne mittel-
alterliche Theaterrequisit ist. — Welche Künstler nun bei unserm
Brüsseler Einzug des Jahres 1496 dekorative Hilfe geleistet haben,
läßt sich nicht bestimmen. Die Leuchte der Brüsseler Kunst, der
große Roger van der Weyden ist damals schon Jahrzehnte lang
tot, und wie weit man an seine Schüler, etwa auch an seinen Sohn
Goswin van der Weyden zu denken hätte, entzieht sich der sicheren
Feststellung; die Bilder selbst sprechen ja auch durchaus dagegen,
daß es sich um Künstler ersten Ranges gehandelt hat. 2)
1) Vgl. Busscher S. 105.
2) Ein paar Namen von Brüsseler Malern des Jahres 1497 erfahren wir durch die
Namensverzeichnisse einer fronnnen Brüderschaft, der sie angehörten (mitgefeilt von J.
T h. de Raadt: ASocArcheolBruxelles (5, S. 3ö7f.l: Anton van Wouveringen, Nicolas de
Landmetere, Jean Cai)i)uge der Jüngere, Laurent von der Heyden (Weyden?). Über
Brüsseler Plastiker handelt üestree, Les sculpteurs Bruxellois au 15. et 16. siecle
(Brüssel 1888).
Personasia und Liikasgilden.
379
Die Brüsseler Feste sind nun auch in Holland keineswetrs die
letzten ihrer Art, und erst einer gründlichen Durchforschung der
in Betracht kommenden Archive, wie man sie hier für unsere
Zwecke nicht verlangen darf, wird es gelingen, eine vollständige
Abb. 66. Brüsseler Lebende Bilder: Salonios Vermählung.
Geschichte dieser Feste und ihrer theatralischen Elemente in den
Niederlanden zu geben. Immerhin läßt sich auch jetzt schon einiges
nachweisen. Von Personagien erzählt auch ein Gedicht, das
Philipps Einzug zu Brügge im Jahre 1497 besingt'). Und ferner:
1) Gedruckt :_ Belgisch Museum 9, S. 155 ff.
380 JDiß Brügger Personagia vom Jahre 1515.
als im Jahre 1508 Kaiser Max zusammen mit seiner Tochter
Margarethe von Österreich, die auch jenen Brüsseler Einzug mit-
gemacht hatte, und seinem Enkel, dem späteren Karl V., feierlich in
Gent eingeholt wurde, da waren wiederum Schaugerüste mit leben-
den Bildern (diesmal allerdings nur vier) auf den Straßen auf-
gestellt; wir wissen davon eben nur diese Tatsache aus archi-
valischen Aufzeichnungen, es ist aber bekannt, daß auch von
diesem Einzug eine mit Bildern geschmückte Darstellung vorhanden
gewesen ist, die freilich bis jetzt noch nicht wieder hat auftauchen
wollen. ') Dagegen besitzen wir, wie schon erwähnt, die mit vielen
Bildern gezierte Beschreibung des Einzuges, den Karl V. 1515 in
Brügge gehalten hat. Der Text rührt her von dem Hofhistorio-
graphen des Königs, Remy Dupuys : das Buch ist gedruckt, selt-
samerweise nicht in den Niederlanden, sondern in Paris, und zwar
bei Gilles de Gourmond, einem Verleger, zu dessen schwergelehrter
Verlagsrichtung diese leichte Ware ganz und gar nicht paßte.
Offenbar ist sie nur durch einen Zufall, vielleicht durch irgend
eine persönliche Beziehung des Autors hierher gekommen: so
werden wir ihr und speziell ihrem illustrativen Teil ruhig nieder-
ländischen Ursprung und somit die Authentizität zusprechen dürfen,
die sie für uns zu urkundlichem Material macht. Gewiß sind diese,
freilich stark stilisierten, Holzschnitte nach Skizzen angefertigt, die
mit den wirklichen Darbietungen zusammenhängen: wo Brügger
Lokalverhältnisse hineingezogen sind, scheinen sie mit der Wirk-
lichkeit übereinzustimmen. Die neunzehn Darstellungen von leben-
den Bildern, die der Druck uns zeigt, stimmen nun in mancher
Beziehung mit der Brüsseler Art noch überein, so daß wir ihre
Verhältnisse weiter unten zur Erläuterung unserer Zeichnungen
werden heranziehen können; anderseits zeigt sich doch schon der
Übergang zu einer neuen Art, das Eindringen der Renaissance-
elemente: Triumphbogen werden errichtet, und statt auf die ein-
fachen Schaugerüste werden die lebenden Bilder gern irgendwohin auf
solche größeren Bauwerke gestellt. Die Tendenz dieser lebenden
Bilder führt ferner vom Theatralischen immer weiter weg zur
bildenden Kunst: nur wenige wirkliche Menschen sind an ihnen
noch beteiligt, meistens werden Puppen benutzt, die aus Holz oder
Wachs gefertigt sein mögen; an die Stelle der Vorhänge sind zur
Deckung des Bildes Türen getreten, die ganz wie Altarbilder von
außen bemalt sind. In späteren Jahren ist dann der Renaissance-
charakter völlig durchgedrungen, und das rein malerische Prinzip
hat durchaus den Sieg davon getragen; das zeigt sich bei dem
Einzüge, den der spanische Philipp 1549 in Antwerpen gehalten
hat. Von der Beschreibung dieses Festes, die wir durch Gra-
1) Vgl. Kervyii de Volkaer sl)ek, .loyeuse enfree de Maximilian ä (5and (1850).
Literarische Erklärung der Brüsseler fiilder.
381
pheus (Scliryver) erhalten haben, soll hier aber weiter nicht die
Rede sein.
Nachdem wir auf solche Weise unsere Brüsseler Bilder in ihren
allgemeinen historischen Zusammenhang gerückt haben, bleibt nur
noch übrig, sie im besonderen auf ihre literarischen, malerischen
und theatralischen Elemente zu durchmustern.
«KT
Abb. 67. Brüsseler Lebende Bilder: Rebeccas Vermählung.
Wir beginnen die literarische Erklärung damit, daß wir
feststellen, welche Gegenstände überhaupt hier in Brüssel als
lebende Bilder dargestellt worden sind. Der eine große Stoffkreis
wird gebildet durch das alte Testament. Da finden wir Tubal als
den Erfinder der Musik, dann sehen wir Judith (Abb. 63, s. S. 373)
332 Di^ Stoftkreise der lebenden Bilder.
im Begriff, dem Holofernes das Haupt abzuschlagen; es folgen weiter
zwei Situationen aus der Geschichte des Tobias (Abb. 64, s.S. 375), weiter
wird (Abb. 65, s. S. 377) gezeigt (nach dem Buch der Richter 9,53),
wie Abimelech durch den Steinwurf einer Frau getötet wird, die
hier merkwürdigerweise, ohne daß die Bibel einen Anhalt böte, den
Namen Thecvites empfängt. Auf einem andern Bilde (Abb. 66,
s. S. 379) sehen wir, wie Salomo sich mit der Tochter des Ägypter-
königs vermählt; weiter wird Michal durch Abner dem König
David zugeführt. In drei Bildern, auf einem, altarhaft gestalteten,
Schaugerüst aber wird (Abb. 67, s. S. 381) Rebeccas Verlobung ge-
zeigt; ein anderes Gerüst (Abb. 68, s. S. 383) führt in zwei Szenen
Esther vor Ahasverus vor ; weiterhin bringt dann die Königin von
Saba dem König Salomo Geschenke dar, Debora weiß die Krieger
des Barak im Kampfe zu begeistern (Abb. 69, s. S. 385), und Jael
schlägt (Abb. 70, s. S. 387) dem Sisera den Nagel durch den Kopf.
Ein zweiter Stoffkreis ist dann die Geschichte. Kaiser Hein-
rich gibt seine Tochter Sophie Gottfried dem Bärtigen von Brabant
zur Frau; auf einem dreiteiligen Schaugerüst wird die Verlobung
einer spanischen Königstochter und eines Mailänder Herzogssohns
vorgeführt, die sich vor der persönlichen Bekanntschaft in die
ihnen vorgewiesenen Portraits verliebt haben; der König von Gra-
nada unterwirft sich der Königin Isabella von Kastilien, der Mutter
der nun in Brüssel einziehenden Johanna. Die meisten Bilder aber
gehören dem Altertum an. Astyages träumt, daß dem Schoß seiner
Tochter ein Baum entsprießt (Abb. 71, s. S. 389). Paris läßt (Abb. 72,
s. S. 391) die drei Göttinnen Revue passieren. Und endlich eine merk-
würdige Folge von berühmten Frauen des Altertums, von denen
jede von zwei Dienerinnen umgeben auf einem Schaugerüst sich pro-
duziert: Semiramis, Tamaris, Pantasilea und Jpolita ; dazu endhch fast
oder ganz unbekannte: Deiphilis,Sinopis (Abb. 73, s. S. 393), Menelopa,
Lampeto und Tenca. Ein typisches Bild dieser Gattung, mehr von
der Seite her aufgenommen, wird (Abb. 74, s. S. 395) unter der all-
gemeinen Bezeichnung tres virgines geboten.
Schließlich noch zwei Bilder, die zu keinem der beiden großen
Zusammenhänge gehören: ein Domiis delicie et jociinditatis (Abb. 75,
s. S. 397) und jenes Bild (Abb. 76, s. S. 399), auf dem Lukas die heilige
Jungfrau malt.
Die Tendenz bei der Auswahl dieser Stoffe ist anscheinend die
gewesen, immer etwas zu finden, was als ein Analogon zu der
fröhlichen Veranlassung des ganzen Festes gelten kann, was sich
irgendwie auf die persönlichen Verhältnisse der einziehenden jungen
Herzogin ausdeuten ließ. Der den Bildern beigegebene lateinische
Text macht in allen Fällen auf die symbolische Bedeutung des be-
treffenden Bildes aufmerksam. Offenbar ist das eine Tendenz, die
für die bei den Fürsteneinzü<ren aufiiestellten lebenden Bilder stets
Die Sloffkreise der lebenden Bilder.
383
in Betracht kam : auch fiir die Brügger Veranstaltung ist sie offen-
bar maßgebend gewesen, wenngleich sie dort nicht so aufdringhch
Iiervortritt und niclit so gewaltsam um Jeden Preis durchgeführt er-
scheint. Mit welchen Mitteln die Analogie hier in Brüssel zu
Abb. 68. Brüsseler Lebende Bilder: Esther vor Ahasver.
Stande gebracht oder richtiger bei den Haaren herbeigezogen^wirdi
dafür mögen zwei jener Textbeigaben sprechen, die wir ziemlich bhnd-
lings herausgreifen. Zum ersten Bilde heißt es: Primo^ioc scemate
Representatur Quam vti medio sonantium malleorurnudiilcem nuisices
384 D^^ Stbffkreise der lebenden Bilder.
melodiam jubal seu tiibal adinuenit. . . Sic Johanna hijspanie graui
auctoritate quam in triginta patrias accepit mille milium animos in
vnam pacis accordantiam adunabit und zum letzten Bilde: Vti
congratulantibus angelis sanctus Lucas ymaginem beatissime maiie
depinxit Sic parenfibus fatis Rerum conditor Jahannam hyspanie
amplectandam ymaginem brabantie aduexit. Der Zug zur Allegorie
und zum Symbol ist ja bekanntlich ein beherrschendes Element in
dem holländischen Schrifttum dieser Jahrhunderte und besonders
auch in den literarischen Leistungen der Rederijkers. Aber während
dort im allgemeinen die Allegorie direkt hervortritt dermaßen, daß
z. B. in der dramatischen Literatur allegorische Gestalten mit Vor-
liebe auf die Bühne gestellt werden, ist sie hier bei den Brüsseler
Darstellungen doch nur etwas Künstliches, nicht von vornherein
die Leistung Bestimmendes. Mit Vorliebe hat man Stoffe gewählt,
die sich entweder auf hervorragende Taten von Frauen oder auf Ver-
lobung und Heirat beziehen; von dem eigentlich symbolischen Sinn
aber, den die Bilder haben sollen, hat man sich schwerlich bei der
Auswahl leiten lassen: wenn solche Deutungen erlaubt sind, wie
sie hier geboten werden, kann man schließlich jeden beliebigen
Stoff mit der Hochzeit und dem Einzug der Herzogin Johanna in
Zusammenhang bringen. Die Hauptaufgabe war entschieden vielmehr
die, sich in erster Reihe auf denjenigen Stoffgebieten zu bewegen,
die für alle lebenden Bilder offenbar die üblichen waren: die Ge-
schichte und das alte Testament. Ganz ebenso ist es in Brügge,
und hier macht der Historiker der Festlichkeiten sogar direkt auf
den Zusammenhang zwischen diesen beide Stoffgebieten auf-
merksam: car ä chascune ou la plus pari des histoires faisant
monstre des advenues en la ville de Bruges fiit enioinct ung sem-
blable mistere du viel testament comme sil eust este figure et
signifiance des prosperite, adversite et conduyte dicelle ville.
Hier wo es sich darum handelt, Karl V. und die Stadt Brügge
zu verherrlichen, sind die historischen Bilder natürlich anders ge-
wählt, und auch die Vorführungen aus der Antike, aus der sich
Cadmus, Perseus, Hercules, Alexander der Große, Romulus, Traja-
nus und Theodosius produzieren, haben in Brüssel nicht unmittel-
bar ihres gleichen; dagegen greift man zu ein paar ähnlichen
Stoffen des alten Testaments: neben Jakobs Abreise von La-
ban, neben Moses, Josua und David werden in Brügge wie in
Brüssel Esther und der König Salomo gezeigt, und der Traum
des Nebucadnezar, wie er hier sichtbar gemacht wird, erinnert
lebhaft an den Brüsseler Traum des Astyages. An einer di-
rekten allegorischen Zugabe, wie sie in Brüssel das Domus
delicie bildet, fehlt es auch hier nicht: das Glücksrad wird
als lebendes Bild vorgeführt. Jene Nebeneinanderrückung histo-
rischer und alttestamentarischer Hergänge aber führt inis auch
Die Stoffkreise der lebende» Bilder und des Dramas.
385
direkt zum allgemeineren literarischen, genauer gesagt dramalischen
Zusammenhang. Daß zur Versinnbildlichung neutestamentlicher
Hergänge Szenen aus dem alten Testament gezeigt werden, ist eine
bekannte Eigentümlichkeit des mittelalterlichen Dramas überhaupt,
Abb. 69. Brüsseler Lebende Bilder; Debora feuert die Krieger an.
aber auch an selbständigen dramatischen Arbeiten aus diesen
beiden Stoffkreisen, dem alten Testament und der Geschichte, fehlt
es speziell der holländischen Literatur dieser Zeit nicht, wenngleich
weitaus die Mehrzahl der Leistungen ins neutestamentliche Gebiet und
Herr m a n n , Tlieater.
25
386 Diß Stoffkreise der lebenden Bilder und des Dramas.
in die Welt der christlichen Legenden gehört. Im Ausgang des 15. Jahr-
hunderts ist inDeventer ein Spiel von David undGohath und, was uns
in unmittelbarste Nähe unserer Brüsseler Stoffe führt, ein Ahasverus-
Drama aufgeführt worden i), und gewiß stellen die zufälhg darüber
erhaltenen archivalischen Notizen nur einen trübseligen Rest dar,
aus dem wir ganz wohl auf das einstige Vorhandensein von weit
mehr derartigen Dichtungen schließen dürfen ; noch ein Jahrhundert
später bevorzugt jener Karl van Mander, der Rederijker und Maler
zugleich war, diese Stoffe und verfaßt z. B. — wieder dürfen wir
an den Zusammenhang mit unsern Brüsseler Bildern erinnern — ein
Drama von der Königin von Saba : diese späten Leistungen darf man
freilich nicht ohne weiteres in die alte Tradition hineinstellen, weil
ja inzwischen das Schuldrama auch in den Niederlanden den Blick
besonders auf die Stoffe des alten Testaments gelenkt hatte.
Wichtiger noch ist die literarische Parallele, die man gerade in Hol-
land zwischen jenen lebenden Geschichtsbildern und vielfach auf-
geführten und stellenweise noch erhaltenen historischen Dramen
ziehen kann; es sind vor allem jene abele speien^ auf die wir
bei anderer Gelegenheit2) schon aufmerksam gemacht hatten,
jene romantischen Ritterdramen, die ganz isoliert stehend in der
Weltliteratur ihres gleichen nicht haben. Vom 14. bis tief hinein ins
16. Jahrhundert haben sich derartige Spiele lebendig erhalten^). Daß
es sich in solchen Dramen wie z. B. dem „Esmoreit" und den
Haimonskindern nicht um wirklich historische, sondern um sagen-
hafte Vorgänge handelt, weist sie nicht aus unserm Zusammenhang
hinaus: denn für jene Zeit sind diese Dinge natürlich geschicht-
liche Wirklichkeit. Schon unter diesen abele speien scheint ein
antiker Stoff: der Stoff der Argonauten aufzutauchen. In das
gleiche dramatische Stoffgebiet hatten wir schon einmal hinein-
geleuchtet, als wir auf die dramatischen Pantomimen von Jason
und von Hercules hinwiesen, und weitere Zeugnisse für eine dra-
matische Ausnutzung der antiken Sagenwelt finden wir, wenn wir
den Blick richten auf ein Verzeichnis dramatischer Spiele, das
nicht in den Niederlanden, sondern in Deutschland entstanden ist,
an einem Orte aber, der künstlerisch durchaus unter dem Einfluß
1) Vgl. Creizenach 1-, S. 344. In einem aus den Kreisen der Rederijkers stam-
menden Gedicht auf die festlich begangene Abreise der Margarethe von Oestereich nach
Spanien (1497) — es ist gedruckt: Belg. Museum 9, S. 149 ff. — findet sich die fol-
gende Stelle:
Doe meii Hester aen Asiierus knockte,
Ell was noi/t sulcken jonste perfect, —
der Vergleich ist wohl durch eine Erinnerung an ein zum Preise einer modernen Für-
stin aufgestelltes lebendes Bild von Esthers Triumph dem Dichter nahegelegt worden.
2) Vgl. o. S. 308 ff.
3) Creizenach 1-, S. 367 i'f.
Die Stolfkreise der lebenden Bilder und des Draniiis.
387
des benachbarten niederländischen Gebietes steht: in Lübeck, wo
ja, wie die Lübeci<er Bibel beweist, auch die bildende Kunst
ganz und gar in die Hände niederländischer Meister gekommen ist. i)
In dem berühmten Verzeichnis von Aufführungen, die die Lü-
Abb. 70. Brüsseler Lebende Bilder: Siseras Ermordung durch Jael.
becker Zirkelbrüder im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert
veranstaltet haben, finden wir nicht nur ein alttestamentliches
Drama, dessen Held auch auf den Brüsseler Schaugerüsten
1) Vgl. auch W a 1 1 h e r : IbVNiederdS. 6, S. 12 ; C r e i z e n a c h P, S. 485.
25*
388 Verhältnis der lebenden Bilder zur Malerei.
erscheint: Salomos erste Gerichte, sondern auch ein Spiel von
Jason mit dem goldenen Vließ (1454), von Troja und dem
hölzernen Pferd (1472) und endhch, im Jahre 1455, ein Drama, das
in seiner Stoffwahl direkt mit einem der auffallendsten Brüsseler
Bilder übereinstimmt: Van Paris van Troe iinde van den dreu
nakeden Juncfniwen^). — Aus allen dramatischen Zusammenhängen
heraus führen nur jene vielen antiken oder antik sein sollenden
Frauengestalten, die die Brüsseler auf ihre Schaugerüste gestellt
haben : wenn da z. B. der Menelope nachgesagt wird, das sie cum
sorore ypolita ingentia arma conficiens totam greciam triumphan-
tissime subegit, so handelt es sich bei ihr und ihren ähnlich als
Heldinnen herausgeputzten Genossinnen offenbar nicht um mythische
Gestalten, an deren tatsächliche Existenz die Brüsseler Rederijkers
etwa so geglaubt hätten, wie die deutschen Meistersinger an die
fabelhaften Stifter ihrer Kunst, sondern um eine freie Erfindung,
wie sie jenes Prinzip des Wettbewerbes erzwungen hatte, der das
Wesen der Leistungen der Rederijkers überhaupt und speziell bei
einer solchen Gelegenheit bestimmte; in so viele Städte zog die
Fürstin ein, so viele berühmte Vertreterinnen ihres Geschlechtes
mußten ihr die Rederijkers vor Augen stellen : der gewiß nicht
kleine Vorrat, den etwa Boccaccios Zusammenstellungen berühmter
Frauen lieferten, war auf solche Weise rasch erschöpft, und so
fabriziert man neue Fabelwesen oder erfand wenigstens für bloß
dem Namen nach überlieferte Frauen die Heldentaten frei hinzu.
Dem Publikum des Jahres 1496 konnte man diese Dinge noch
bieten, bei dem Brügger Einzug des Jahres 1515 findet sich Ähn-
liches nicht mehr: inzwischen hatte in den Niederlanden die Re-
zeption des Humanismus zu wesentliche Fortschritte gemacht.
Wenn wir nun unsere Bilder nicht nur in den literarischen,
sondern auch in den malerischen Ort- und Zeitzusammenhang
hineinzustellen versuchen, so müssen wir auch hier zunächst die in
den kunstgeschichtlichen Darstellungen scharf, fast zu scharf be-
tonte Tatsache hervorheben, daß in den Niederlanden das Inter-
esse der bildenden Künstler wie das der Dramatiker sich in erster
Reihe auf die Stoffkreise richtete, die in unsern Brüsseler Bildern
so gut wie ganz fehlen : auf das neue Testament und die Legenden.
Aber wir müssen doch bedenken, daß von den Leistungen, die
jene Jahrhunderte tatsächlich geschaffen haben, nur ein ver-
hältnismäßig kleiner Teil auf uns gekommen sein wird und daß
namentlich von den Arbeiten der geringeren Künstler das Meiste
zerstört ist; wir betonten aber schon: gerade geringere Künstler
müssen es gewesen sein, die gewöhnlich fih* die dekorative Aus-
1) Wehr mann: IhVNiederdS. (i, S. 4. 1444 wird ein Spiel vom (Uücksrad auf-
geführt: zu vergleichen ist das Brügger Bild.
Verhältnis der lebenden Bilder zur Malerei.
389
schmückung der Schaugerüste herangezogen wurden. Im übrigen
aber bieten auch die wirklicth auf uns gekommenen Werke der
damahgen niederländischen Kunst zwar nicht die Gelegenheit, irgend-
wo direkt einmal ein Bild nachzuweisen, das einer der Brüsseler
Abb. 71. Brüsseler Lebende Bilder: der Traum des Astyages.
Dekorationskünstler einfach nachgebildet hätte; wohl aber vermögen
wir es wahrscheinlich zu machen, daß es auch hier an Zusammen-
hangen nicht fehlt. Jenes eine Bild aus dem Kreise christlicher An-
schauung, das in Brüssel 1496 zu sehen war, die Szene, wie St. Lukas die
390 Die Stoffkreise der lebenden Bilder und der Gemälde.
Jungfrau Maria mit dem Kinde malt, ist ein in der niederländischen
Kunst beliebtes Thema : eine berühmte Darstellung z. B. hat Roger
van der Weyden geliefert; freihch sitzt der Maler hier noch nicht
wie auf dem Brüsseler Schaugerüst an einer Staffelei, die dann
erst auf den Gemälden des 16. Jahrhunderts : bei Lanzelot Blondeel,
bei Martin de Vos auftaucht. i) Wenn auf unserm Bilde nicht nur
Maria mit dem Kinde erscheint, sondern von Engeln umgeben
ist und wenn im Hintergrunde auch die Heilige Cäcilia an einer
Portativorgel sitzend sich zeigt, so mag das auf Memlingsche Mo-
tive zurückgehen: auf dem berühmten Antwerpener Bilde ist die
Darstellung der heiligen Cäcilia recht ähnlich, und die Stellung, in
der Maria mit dem Kinde von zwei Engeln flankiert dasitzt, findet
sich auf einem Bilde Memlings, das im Privatbesitz zu Glasgow ist.
Vor allen Dingen aber zeigt ein Gemälde von Gerard David (jetzt
in Ronen), das freilich erst im Jahre 1509 den Brügger Karme-
literinnen übergehen wurde, wo wir ganz wie hier auf jeder Seite
der mit dem Kinde auf dem Schoß dasitzenden Gottesmutter einen
musizierenden Engel treffen, wie geläufig die Motive der bildenden
Kunst jener Zeit sind und wie leicht es für den Brüsseler Deko-
rateur war, sie für das lebende Bild zu verwenden. Aber auch
jene beiden Stoffkreise, die für Schaugerüste in erster Reihe her-
halten mußten : das alte Testament und die Geschichte, w^erden von
der bildenden Kunst keineswegs so ganz vernachlässigt. Schon
Jan van Eyck hat auf einem Gemälde, das jetzt der Gräfin Pour-
tales zu Paris gehört, einen der Stoffe dargestellt, den wir in
Brüssel trafen: die Königin von Saba, wie sie Salomo Geschenke
bringt. Ein anonymes Bild der Brüsseler Sammlung Kardon, das
ebenfalls dem 15. Jahrhundert angehört, zeigt in zwei Szenen den
gleichen Hergang 2); auf beiden Darstellungen ist die Anordnung
der Brüsseler Komposition nicht ganz unähnlich. Hugo van der
Goes, der ja, wie wir gesehen haben, dieser Theatermalerei be-
sonders nahe stand, hat in einem leider verlorenen Freskogemälde
Abigail bei Davids Werbung vorgeführt 3) ; von seinem Adam- und
Evabilde war schon die Rede, und das erste Menschenpaar ist auch
von Roger van der Weyden dargestellt worden. Diese Liste ließe
sich erweitern, wenn wir den Blick noch mehr auf Bilder ausdehnen
würden, die ohne Zuweisung an einen bestimmten Meister geblieben
sind, wie z.B. das Berliner Josephbild; im 16. Jahrhundert tritt die
Neigung für Darstellungen aus dem alten Testament dann immer
deutlicher hervor: nur auf Lukas van Leydens Esther mag hier
wegen der direkten Übereinstimmung mit einem der Brüsseler
1) Bei Gossaert malt er an einem Pult.
2) Vgl. den Katalog der „Exposition des primitivs flainmandos et d'arl ancienno" zu
Brügge 1902, der mir au(;h sonst wesentliche Dienste geleistet hat.
3) Waiiters, Hugo van der Goes, S. 9ff.
Die Stoffkreise der lebenden Bilder und der Gemälde.
391
lebenden Bilder hingewiesen werden. In der Miniaturmalerei vol-
lends— man denke etwa an die köstlichen „Heures de Turin" — spielen
die Motive aus dem alten Testament eine große Rolle; im Brevier Gri-
mani treffen wir die Königin von Saba vor Salomo, und der die Madonna
, V£HV^ • .IVHO. ^p7tLL73[S^
Abb. 72. Brüsseler Lebende Bilder: das Urteil des Paris.
mit dem Kind malende Lukas hat wie auf dem Brüsseler Bilde den
lagernden Ochsen zu seiner Rechten und sitzt gar schon (im Gegen-
satz zu den Tafelbildern) vor der Staffelei. Aber auch die Historien-
malerei geht nicht ganz leer aus, und gerade den Zusammenhang,
392 Die Stoffkreise der lebenden Bilder und der Gemälde.
aus dem heraus wir verschiedene der Brüsseler Personagia er-
klären können, finden wir hier wieder: die Neigung, die Gegen-
wart durch künstlerische Darstellung der Vergangenheit zu feiern.
So hat in Brüssel selbst der große Roger van der Weyden das
Rathaus durch jene berühmten Bilder aus der Geschichte eines
sagenhaften Erkenbald geschmückt, die leider durch Feuer zer-
stört und uns nur in der Nachbildung der burgundischen Teppiche
erhalten sind; so hat Jan van der Meyre für Karl den Kühnen die
Gründung des Ordens vom Goldenen Vließ durch Karls Vater,
Philipp den Guten, in einem verschollenen Gemälde dargestellt, so
hat Dierick Bouts zu Loewen z. B. Otto den Großen vorgeführt.
Auch die Antike fehlt nicht ganz; wir wissen, das Gerard van der
Meure die Lucretia gemalt hat, und Gerard Davids Urteil des Cam-
byses besitzen wir noch heute. Das historische Portrait spielt eine
Rolle; die Miniaturen kommen hier ebenfalls in Betracht i) und
ganz besonders die Kunst der Teppichweberei, in der Motive aus
der Geschichte neben solchen aus dem alten Testament bevorzugt
werden.'^) Überall Spuren, daß die Künstler der Personagia, wenn
sie historische und namentlich auch antike Stoffe darstellen wollten,
gewiß vielfach an vorhandene Traditionen malerischer Art sich an-
lehnen konnten.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhange endlich
jenes Bild Domiis delicie etjociinditatis (Abb. 75, s. S. 397). Allerdings :
daß es sich um ein Haus und nicht um einen Garten handelt, ist
einigermaßen befremdend, sonst aber stellt sich gerade dieses
lebende Bild ganz sichtlich in einen großen Zusammenhang inter-
nationaler Art hinein, dem im 15. und 16. Jahrhundert eine
ganze Reihe von Leistungen bildender Künstler: die sogenannten
Liebesgärten angehören. In Italien sind es Blätter von Boldini
und Robetta, in Deutschland kommen der Meister ES und der sich
eng an ihn anlehnende Meister des Hausbuches, ferner im letzten
Viertel des 15. Jahrhunderts Wolf Hammer, später im 16. Hans
Brosamer und Jost Amman in Betracht, in Holland endlich der
Meister der Liebesgärten und der Meister der Sybille, bis hier end-
lich im 17. Jahrhundert ein Gemälde von Rubens die ganze Reihe
beschließt. Bis auf den Italiener Robetta stehen diese Leistungen
eigentlich alle in einem gewissen Zusammenhang, und ihm ordnet
sich deutlich auch unser Brüsseler lebendes Bild ein. Wenn hier
im Haus der Liebe ein Narr erscheint, so treffen wir einen solchen
auch im Liebesgarten des Hausbuchmeisters, bei Hammer und bei
Brosamer. Wenn wir die verschiedenen Liebespaare mit Lesen,
1) Vgl. z. B. die illustrierte Chronik von Flandern : Ms. 1307:5 der Brüsseler
Bibliothek.
2) Vgl. die Zusammenstellung von Donnet: ASArchBruxellos 10 — 12.
Die Stoffkreise der lebenden Bilder und der Gemälde. 393
Tanzen, Musizieren, Essen und Ruhen beschäftigt sehen, so sind
diese in Brüssel vereinigten Motive in mehr oder weniger grol.^er
Vollständigkeit auch auf den übrigen Bildern nachzuweisen. Von
besonders starker Übereinstimmung mit unserer Darstellung aber
Abb. 73. Brüsseler Lebende Bilder: „Sinopis".
ist ein Blatt, das wir bisher noch nicht genannt haben, weil es dem
Titel nach kein Liebesgarten zu sein scheint, das aber tatsächlich
doch offenbar sich der von der Überlieferung für die Liebesgärten
gebotenen Motive, wenn auch in freischöpferischer Kraft, bedient. Es
394 Bildkünstlerische Formprinzipien bei den lebenden Bildern.
ist die Einfülirung der Magdalena in das Weltleben von Lukas van
Leyden (Bartsch 122 1). Wie auf unserm Bilde finden wir hier
ein Mittelpaar: einen Mann, der die Magdalena führt, und so sehr
erinnert ihre Stellung an die Beschäftigung des Tanzens, um die
es sich bei dem Mittelpaar des Brüsseler Bildes handelt, daß die
Darstellung des Lukas van Leyden früher geradezu als „Magda-
lena beim Tanz" bezeichnet worden ist. Wie auf dem Brüsseler
Bilde sehen wir links ein Paar ruhend und zwar so, daß das Haupt des
Mannes im Schoß der Frau liegt, und rechts eine Gruppe, die
mit Lesen sich die Zeit vertreibt; auf beiden Bildern im Hinter-
grunde den Narren und einen Pfeifer. Daß bei Lukas van Leyden
noch andere Motive dazu kommen, die sich auf unserm Bilde
nicht finden, tut dem Zusammenhang keinen Eintrag und ebenso-
wenig der Umstand, daß sein Blatt erst aus dem Jahre 1519 her-
rührt. Denn hier soll natlh'lich nicht behauptet werden, daß die
beiden Darstellungen in unmittelbarem Zusammenhang stehen,
sondern nur, daß der Theaterkünstler des Jahres 1496 ganz ähn-
liche Motive zu seiner Verfügung hatte, wie sie dann mehr als
zwanzig Jahre später ohne jede Verbindung mit dem Theater
Lukas van Leyden benutzte^).
Endlich aber läßt sich vielleicht auch von solcher Aufspürung
verwandter Motive abgesehen ein Zusammenhang unserer Persona-
gia mit den Leistungen der bildenden Kunst andeuten. Vielleicht
vermögen wir auf unsern Abbildungen Spuren davon aufzuzeigen,
daß beim Stellen der lebenden Bilder hier und da gewisse formale
Rücksichten im Spiel gewesen sind, wie sie sonst nur für die
Schöpfungen der Bildkunst tiefste Bedeutung haben. Man wird
von vornherein nicht erwarten, hier mehr als Spuren und Rudi-
mente zu finden, schon aus dem Grunde, weil ja ganz sicher
in Brüssel fast nur untergeordnete Künstler am Werke gewesen
sind; auch daß solche formalen Tendenzen nur auf einzelnen
Abbildungen sich zeigen, kann nicht befremden, denn sicherlich
sind nicht sämtliche Bilder von einem und demselben Künstler
gestellt worden, sondern talentvolle und talentlose sind beschäftigt
gewesen. Manches mag auch der Zeichner verdorben haben.
So beobachten wir denn auf einigen Bildern eine gewisse
Symmetrie im Aufbau, die auf bildkünstlerische Veranlagung oder
Schulung des Anordners schließen läßt. Es kommt z. B. vor,
daß, wenn man genau zusieht, die Personen in konzentrischen Halb-
kreisen aufgestellt erscheinen; oder wir finden, sogar auf dem
1) übrigens gibt es auch ein mit dem Stich last völlig übereinstimmendes Gemälde
des gleichen Meisters.
2) So ist auch das Glücksrad, das 1515 in Brügge vorgeführt wurde (vgl. o. S. 388,
Anm. 1), ein beliebter Gegenstand der bildenden Kunst — vgl. zuletzt Weinhold, Glücks-
rad und Lebensrad: Abhandlungen der Berliner Akademie 1S92.
Bildkünsflerische Foriiii)rinzi|)ien bei den lebenden Bildern. 395
verunglückten Schlachtbilde (Abb. 69, s. S. 385), einen gewissen
Ansatz zur Herstellung von Richtungskontrasten, die von einem
Zentrum aus verlaufen. Auf kihistlerische Schulung weist das
Judithbild (Abb. 63, s. S. 373), u. a. durch die Art, wie die zwei
L>^
*^^?Ä
Abb. 74. Brüsseler Lebende Bilder: „tres virgines".
schlafenden Wächter als Eckfiguren gelagert sind. Es kommt
vor, daß für die einzelnen Personen die Höhe der Standorte ver-
schieden gewählt ist: daß die vorderste Gestalt kniet, die zur
nächsten Reihe gehörige knieend auf einen höheren Platz ver-
396 Bildkünstlerische Formprinzipien bei den lebenden Bildern.
wiesen ist, während noch weiter zurück eine Person aufrecht stellt.
Auf solche Weise gelingt es, Gruppen zu bilden. Auf bildkünst-
lerische Tendenz weist auch das Bestreben, wenigstens die Haupt-
personen dem Publikum das Gesicht zukehren zu lassen und sie
auf solche Weise eben als Hauptpersonen herauszuheben. Ander-
seits ist hier und da auch für die Nebenpersonen etwas geschehen:
sie brauchen nicht immer nur hölzern daneben zu stehen, sondern
es wird, wie es die bildende Kunst auf vorgerückterer Stufe zu
tun pflegt, wenigstens gelegentlich der Versuch gemacht, sie in
die eigentliche Handlung einzuziehen, sie ein Interesse an dem
Hergang bekunden zu lassen. Auf eine gewisse Stellungsdifferen-
zierung ist man auch sonst aus; das zeigt sich besonders auf der
langen Reihe der berühmten Frauen, wo die Stellungen der Be-
gleiterinnen zu der Hauptperson wechseln; anderseits macht sich
gerade hier die bloß handwerksmäßige Schulung der Anordner
bemerkbar, da sämtliche Anordnungen schließlich doch auf ein
paar Typen zurückzuführen sind. Übrigens sind auch die besten
unter den beteiligten Künstlern nicht Künstler genug, um das, was
sie auf solche Art zu erreichen beginnen, nicht durch ganz un-
künstlerisches Verhalten wieder zu zerstören, vor allen Dingen
dadurch, daß durch die Vorhänge und durch die die Bühne oben und
unten begrenzenden Leisten rücksichtslos [Stücke des Bildes ab-
geschnitten werden; allerdings soll vielleicht durch solche Über-
schneidung bei den vielfach vorgeführten Massenszenen der Ein-
druck einer sich weithin fortsetzenden Personenfülle hervorgerufen
werden. Am weitesten entfernt von der ganz unkünstlerischen
Art, die uns nur zu oft entgegentritt, am ausdrucksreichsten in
formaler Hinsicht ist das letzte Bild : das Bild mit dem heiligen Lukas
(Abb. 76, s.S. 399). Hier ist Maria mit den beiden Engeln in ein Dreieck
konzentriert, die Einzelgruppe, die so entsteht, wird im Hintergrunde
durch die heilige Cäcilia fortgesetzt, der heilige Lukas tritt etwas
zurück, aber in die ihm sachlich gebührende Position wird er da-
durch gebracht, daß er etwas höher gestellt ist; der Kopf der Maria
überschneidet eine zweite Horizontale, die durch das Paneel an
der Wand geliefert wird: auf solche Art wird ein Gegengewicht gegen
die Vertikalen gebildet, die sonst das Bild sichtlich beherrschen, und
eine gewisse Beruhigung tritt ein. Der eine der musizierenden
Engel, eine Gestalt also, die mit dem eigentlichen Hergang nichts
zu schaffen hat, wird zu ihm dadurch in die engste Beziehung ge-
setzt, daß er sein Flötenspiel direkt für das Christuskind hervor-
bringt, das Maria auf dem Schooß hält. Endlich zeigt auch die
Art des Faltenwurfes an den Kleidern der sitzenden Gestalten hier
eher die anordnende Hand eines bildenden Künstlers.
Nachdem wir auf solche Weise die literarischen und malerischen
Zusammenhänge dieser Brüsseler Personagia wenigstens angedeutet
Tlieatergeschiclitliche Boiknituii'j dor lebenden Bilder.
397
haben, bleibt noch übrig, ihre eigentlich theatergeschichtliche
Bedeutung zu wih-digen, und bei dieser Gelegenheit werden wir
nun auch von den Bildern des Lyoner Terenz wieder zu reden
In.
Qj^s/SMuca:
Abb. 75. Brüsseler Lebende Bilder: „Domiis deliciae".
haben, um derentwillen in erster Reihe wir hier von jenen Brüsseler
Leistungen gesprochen haben. Zunächst die Bühne. Der ganze
Aufbau des Brettergerüsts mit seinem Balkenwerk, wie er auf
unsern Reproduktionen deutlich sichtbar wird, stimmt ganz und
398 Bühnengerüst und Dekoration der lebenden Bilder.
gar mit dem Bau der Terenzbühne übereiii, wie er auf den früher
nachgebildeten Szenen des Lyoner Druckes erscheint, i) Jedes Ge-
rüst trägt eine lateinische Inschrift: den Namen des dargestellten
Bildes. Das gleiche Erläuterungsverfahren war nach Dupuys' Be-
richt auch 1515 in Brügge noch üblich, ja hier waren sogar Spruch-
bänder angebracht, die die Reden der im Bilde vorgeführten Per-
sonen verzeichneten, auch das ein Symptom dafür, daß die ganze
Brügger Leistung gegenüber den Brüsseler Vorführungen einen ent-
schiedenen Schritt weg vom Theatralischen zum Bildkünstlerischen
bedeutet. Nachträglich wird uns nun eine vorher kaum verständ-
liche Stelle in den „Praenotamenta" des Jodocus Badius begreiflich,
aus denen heraus wir die bei der Herstellung des Terenztheaters
in Badius und den von ihm beratenen Künstler lebende Theater-
auffassung zu erfassen suchten: Badius berichtet, auf der antiken
Bühne sei jedes Mal der Titel des aufzuführenden Stückes und der
Name des Verfassers verzeichnet gewesen. Offenbar hat diese
Sitte, die wir hier für die Brüsseler Schaugerüste feststehen konnten,
auch bei den eigentlichen dramatischen Aufführungen in Flandern :
bei der Darstellung der abele speien bestanden. — Das Gerüst
ist mehrfach durch schmale Scheidewände in zwei oder drei Teile
zerlegt, in denen mehrere Szenen zugleich gezeigt werden können ;
vielleicht war auch diese Einrichtung der geteilten Bühne bei der
Aufführung der abele speien verwendet worden, die das gleich-
zeitige Vorhandensein mehrerer Schauplätze voraussetzen, ohne
daß wir doch an die sonst dafür übliche großartige Inszenierung
der geistlichen Dramen denken dürften. 2) — Vom Vorhang ist schon
die Rede gewesen^); so kommt die Frage nach der Dekoration. Hier
beobachten wir eine doppelte Art der Einrichtung. In den meisten
Fällen ist auf eine Dekoration im modernen Sinne verzichtet und
nur ein Stoffhintergrund geboten, der fast immer einfarbig und
zwar meist dunkel sich darstellt, einmal aber auch aus großge-
mustertem Zeuge besteht; genau die gleiche Art treffen wir in
Brügge wieder, wo mit den gemusterten Stoffen offenbar ein be-
sonders großer Luxus getrieben wird. Auch hier können wir nach-
träglich noch einmal auf die Beziehungen dieses Theaters zur
Malerei hinweisen. Auf manchen Gemälden des Jahrhunderts, z. B.
auf zwei Madonnenbildern des Brüsselers Roger van der Weyden,
von denen das eine in Montpellier, das andere zu Paris im Privat-
besitz sich befindet, treffen wir genau den gleichen großgemuster-
ten Stoffhintergrund; nicht unmöglich, daß der Künstler die An-
regung dazu von dem Anblick solcher Personagia empfangen hat.
Anderseits ist doch für manche von den Brüsseler Szenenbildern
1) Vgl. be.sonders Abb. 33, S. 306.
2) S. Creizenach 2, S. 368.
3) S. o. S. 378.
Dekoration bei den lebenden Bildern.
399
versucht, eine Dekoration in jetzigen Sinne zu bieten: eine Zimmer-
einrichtung, eine Landschaft, in der ein Gebäude sich befindet, das
freihch, da es niedriger ist als eine auf ihm stehende Person, mehr
symbohschen Charal<ter hat, einen Felsen oder (auf dem Paris-
Abb. 76. Brüsseler Lebende Bilder: Sankt Lukas malt die :\Iadonna.
bilde) einen Garten mit einer Fontäne. Befremdend ist in den
meisten dieser Fälle besonders der Umstand, daß auch der Boden
mit Rasen bekleidet erscheint. Man wird zunächst Bedenken tragen,
an eine panoramenartige Malerei zu glauben, wie sie dafür not-
wendig sein würde; doch scheint auch die Beschreibung der Brüsseler
j^QQ Kostüme, Requisiten, Beleuchtung bei den lebenden Bildern.
Bilder darauf hinzuweisen, daß solche Übergänge aus dem Plasti-
schen ins Malerische nicht unmöglich waren. — Auch an Requi-
siten wird für diese Bilder nicht wenig erfordert; haben sie doch
für das niederländische Drama eine so große Wichtigkeit, daß sie
wenigstens später samt den Kostümen sogar eine besondere alle-
gorische Bedeutung haben können i). Alle möglichen praktikablen
Zimmergeräte werden angebracht: Throne in verschiedenen Aus-
führungen, Betten, Tische mit allerlei Geräten, ein Kronleuchter
an der Decke, ein Triptychon an der Wand, eine Staffelei, eine
Portativorgel und andere Musikinstrumente, Fahnen, Waffen aller
Art und anderes mehr. In Brügge treffen wir großenteils andere
Dinge, aber der Thron spielt auch hier eine besonders große Rolle,
und auch an Tieren fehlt es nicht: wenn in Brügge dem träumenden
Nebukadnezar allerlei Tiere des Waldes, darunter auch ein Löwe
erscheinen, so ist in Brüssel dem malenden Lukas, wie auf Bildern nicht
selten, der Ochse beigegeben : bestimmt kein wirkliches Tier, sondern
eine künstliche Nachbildung. Wenn dagegen auf dem einen Esther-
bilde ein Hund zu den Füßen des Thrones liegt, so werden wir
hier wohl an ein wirkliches, gut abgerichtetes Tier denken dürfen,
denn während es sich in jenen andern Fällen um Tiere handelt,
die sachlich erforderlich oder doch sehr erwünscht waren, haben
wir hier eine rein malerische Zugabe vor uns, um derentwillen
man gewiß nicht erst den Holzschnitzer bemüht hätte. Dem Stein, mit
dem das Weib von Thebez dem Abimelech das Haupt zerschmettert
(Abb. 65, s. S. 376), sehen wir seinen Requisitencharakter deutlich an;
er erinnert an die im mittelalterlichen Drama üblichen, mit rotem Saft
angefüllten, steinfarbig angestrichenen und leicht zerbrechlichen
Requisiten, die am Kopfe des von ihnen getroffenen Darstellers
zerbarsten, ohne ihm wehe zu tun, und den Eindruck hervorriefen,
als sei das Opfer zu Tode verletzt und blutüberströmt. — An die
moderne Bühne mahnt uns endlich noch ein Umstand, der der Art
mittelalterlicher Vorführungen völlig widerspricht. Die großen
geistlichen Spiele fanden stets bei vollem Tageslicht statt, die
lebenden Bilder dieser Schaugerüste dagegen stellten sich des
Abends, also bei künstlicher Beleuchtung dar. Der Umstand,
daß die Teilnehmer des Festzuges in Brüssel Lichter in den Händen
tragen, daß das eine besonders kompliziert gebaute Schaugerüst
(Abb.67, s.S. 381), auch oben mit Kerzen ausgeputzt ist und daß wir eine
derartige Illumination dann auf den Brügger Bildern sehr häufig finden,
beweist an sich noch nichts, denn anderwärts scheint es gerade für
einen besonders raffinierten Genuß gegolten zu haben, eine der-
artige Illumination bei Tage anzustellen; aus dem Berichte des
Dupuys aber geht hervor, daß Karl V. abends in Brügge einzog,
1) Creizenach 3, 8.450.
Lebende Bilder: Beleuchtung, Kostüme.
401
und wenn auch der Brüsseler Berichterstatter über die Zeit des
Einzuges der Johanna schweigt, so genügt doch hier jene früher
mitgeteilte, im übrigen mehr als kärgliche archivalische Notiz, um
uns darauf aufmerksam zu machen, daß das ganze Fest des vri-
Abb. 77. Brügger Lebende Bilder: Der junge König Salonio mit seinem Hofstaat.
dachs avondt stattfand. Von der Art der Bühnenbeleuchtung ver-
mögen wir uns freilich eine Vorstellung nicht zu machen.
Wir kommen zu dem schwierigsten Punkte : der leidigen Frage
nach dem Kostüm. Betrachten wir zunächst hinsichthch der Trachten
H e r r m a n n , Theater.
26
402
Lebende Bilder: Kostüme.
der mitwirkenden Personen die Brüsseler Bilder ganz für sich allein,
so müssen wir von vorn herein darauf verzichten, hier bis in alle
Einzelheiten diese Kleidung vorzuführen. Eine Betrachtung der
Abb. 78.
Brügger Lebende Bilder: Moses bringt die Tafehi, Louis de Nevers gibt Brügge Privilegien.
von uns reproduzierten Bilder muß die Ergänzung liefern, obwohl
gerade sie, die nur einige von vielen auswählen, nicht imstande
sind, von der Buntscheckigkeit des gesamten Kostüms eine völlig
ausreichende Vorstellung zu geben. Wir heben hier vielmehr nur
einige Punkte heraus, die eine besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Leht^mle Bilder: Kostüme. 403
und namentlich solche, an die sich auch die allgemeine Kostüm-
geschichte wohl mit Recht vornehmlich zu halten pflegt. Das ist
vor allem die Gestaltung der Frauenkopt'trachten und die Behand-
lung des Schuhwerks. Das letztere ist hier verhältnismäßig ein-
heitlich: wenn wir von dem einen barfußgehenden Tubal absehen,
tragen alle Männer vorn breite Schuhe, Knöchelstiefel oder Waden-
stiefel; die Frauenschuhe sind noch mehr spitz gehalten. Ganz
uneinheitlich dagegen ist die Kopftracht der Frauen. Am meisten
verwendet sind weiße schleierartige Kopftücher, die selten noch
mit einem das Kinn deckenden Tuch versehen sind; oft dagegen
ist noch über dieses Kopftuch dem Hinterkopf eine Mütze oder
eine Krone aufgesetzt. Daneben findet sich wohl auch die Gold-
haube mit der Perlstickerei und den eigenartig bis auf die Wangen
reichenden Klappen; auch auf sie wird wohl noch ein Hut gesetzt.
Judiths Magd trägt einen Turban, eine phrygische Mütze kommt
mehrfach vor und einmal, bei der Sinopis, auch der Hennin. Im
übrigen sind diese mehr oder weniger fabelhaften antiken Frauen
auch mit mehr oder weniger seltsamen Kopfbedeckungen, mit
hörner-, halbmond-, haken- und giebelartigen Hüten ausgestattet. —
Bei den Männertrachten fallen vornehmlich die vielen Kragen auf,
unter denen die meisten blau sind. An den Frauentrachten ist
besonders die Gestaltung der Ärmel beachtenswert und gar nicht
einheitUch. Auf der einen Seite ganz enge Ärmel, die gelegentlich
so lang sind, daß sie einen großen Teil der Hand mit bedecken,
und daneben ganz weite lang herunterfallende vorn offene Ärmel,
aus denen die Hand wie verloren herausragt. — Nur wenige Männer
oder Frauen tragen Gürtel : Abraham und David und ein paar von
den antiken Frauen, und diese wenigen Gürtel sind ganz dünn,
nur Lampeto erscheint mit einem großen breiten Wehrgehänge.
Was endlich die benutzten Kleiderstoffe betrifft, so beobachten wir
auch hier keine Einheitlichkeit: neben ganz glatten Stoffen sind
groß- und buntgemusterte vielfach verwendet.
Vergleichen wir dieses Gesamtbild nun mit den entsprechenden
Verhältnissen der Brügger Bilder, wo uns freilich der Mangel an
farbiger Darstellung von vorn herein etwas ungünstiger stellt, so ist
die Einheitlichkeit des Schuhwerks hier eher noch größer: fast über-
all breite, vorn förmlich durch eine gerade Linie abgeschlossene
Stiefel oder Schuhe. Die Mannigfaltigkeit der Frauenkopftrachten
ist ebenfalls sehr reduziert, und einfache Kopftücher spielen
eine noch größere Rolle. Im übrigen aber ist die Ähnlichkeit nicht
gering: auch hier ist die Männertracht vielfach, wenn auch nicht
so häufig, durch einen Kragen ausgezeichnei ; auch hier finden wir
weite und enge Frauenärmel nebeneinander, doch so, daß die
engen entschieden mehr zurück treten; auch hier fehlen die Gürtel
bis auf wenige ganz schmale vollständig; auch hier endlich werden
26*
404 Lebende Bilder: Kostüme.
auf demselben Bilde Kleider aus glatten und aus großgemusterten
Stoffen vorgeführt; man wird vielleicht sagen können, daß die ge-
musterten nicht mehr so in den Vordergrund treten. Im großen
und ganzen ist eine entschiedene Verwandtschaft der in Brüssel
und der in Brügge verwendeten Kostüme nicht zu leugnen.
Wenn wir dieses in den lebenden Bildern vorliegende Kostüm-
material in seiner Gesamtheit überblicken, so fällt auf der einen
Seite die ungemein große Buntscheckigkeit auf, in andern Punkten
zeigt sich eine nicht minder eigentümliche Zwiespältigkeit in der
Art, wie die äußersten Gegensätze friedlich neben einander stehen,
und um so merkwürdiger ist es schließlich, daß es all dem gegen-
über wenigstens in einem Punkte an einer gewissen Einheitlich-
keit nicht fehlt.
Wie vermögen wir diesen Zustand zu erklären? Einmal mag
es sich in der Hauptsache einfach darum handeln, daß in jener
Buntscheckigkeit und Zwiespältigkeit die Kleidung vor uns steht,
die tatsächlich in einer Übergangszeit getragen worden ist : in einer
Periode, in der neue Moden aufkommen, in der aber die alten noch
nicht ganz verdrängt sind. Wenn man später einmal Bilder aus
der Gesellschaft unserer unmittelbarsten Gegenwart betrachten wird,
werden sich dem Beschauer besonders in Hinsicht der Frauentracht
ebenfalls die äußersten Gegensätze auf demselben Bilde vereinigt
zeigen. Mit Sicherheit werden wir freihch solchen Wirklichkeits-
verhältnissen der damaligen Epoche nicht nachzugehen vermögen:
welche bürgerliche und höfische Trachten zu Brüssel im Jahre 1496
üblich waren, ist nicht festzustellen. Eine einzige Brüsseler Kleider-
ordnung scheint sich ermitteln zu lassen, aber sie stammt schon
aus dem Jahre 1385 und kommt also für unsere Untersuchung
nicht mehr in Betracht, i) Wenn wir uns auf die Darstellungen
der Kostümgeschichte, wie sie heute betrieben wird, verlassen
können, so befinden wir uns tatsächlich in Bezug auf die europäische
Tracht überhaupt damals in einer großen Auflösungszeit, die
die äußersten Gegensätze nebeneinander stellt und die barocksten
Formen in der Kleidung und allen ihren Einzelheiten zeitigt. Aber
freilich: wie weit hier nicht das doch in erster Reihe der bildenden
Kunst entnommene Material in seinem Wirklichkeitswert über-
schätzt, wie weit hier nicht barocke Neigungen der Künstler allzu
rasch der tatsächlich existierenden Mode aufs Konto geschrieben
1 ) Gedruckt Belgisch Museum 5, S. 93 i'f. Wenn man gelegentlich iür die Nieder-
lande „Coiffes et ornements de femmes de la fin du 15. siecle" auf Grund von Porträts
zusammengestellt hat (D. van Kellen, Nederlands-Oudheden, Amsterdam 1861, PI. 7a),
so ist das dort benutzte Material gar zu dürftig, um irgendwie allgemeiner verwendbar
zu sein. Die sehr sorgsame Arbeit von P. Post, Die französisch-niederländische Männer-
tracht einschließlich der Ritterrüstung im Zeitalter der Spätgotik 1350—1475 (Halle, Diss.
1!)1()), zielit leider den Ausgang des .Jahrhunderts nicht mehr iti Bctrjicht. .
Lebende Bilder: Kostüme. 405
werden, läßt sich vorläufig schwer entscheiden. Immerhin: wenn
wir uns an das unverdächtigste Material halten und, wenigstens
in der niederdeutschen Sphäre bleibend, etwa die Miniaturen des
Hamburger Stadtrechts vom Jahre 1497 auf ihre Trachten hin prüfen,
bei denen dem Gegenstande nach am ehesten die Wahrscheinlich-
keit vorliegt, daß sie unmittelbar der Wirklichkeit nachgebildet sind,
so treffen wir hier zwar nicht im mindesten volle Übereinstimmung
mit den Brüsseler Kostümen, aber doch z. B. auch jenes Neben-
einander von engen und ganz weiten Frauenärmeln.
Anderseits könnte es sich in den Brüsseler Bildern bei dem
engen Zusammenhang mit der Malerei, den wir festgestellt haben,
auch um eine einfache Herübernahme der in der malerischen Tra-
dition gebräuchlichen Trachten handeln: um eine Neuanfertigung
von Kostümen für die lebenden Bilder ganz nach dem Vorbild, das
vorhandene Gemälde und Zeichnungen boten. Aber auf der Jagd
nach solchen künstlerischen Vorbildern kommt man in die grollte
Bedrängnis. Wieder und wieder meint man bei der Durchmuste-
rung der großen Leistungen altniederländischer Kunst auf der
richtigen Spur zu sein, aber über die Feststellung von vereinzelten
Gleichheiten oder Ähnlichkeiten kommt man doch fast nirgends
hinaus. Am entschiedensten tritt uns die Verwandtschaft hinsicht-
lich der Kostüme, wie mir scheint, auf dem großen Triptychon des
sogenannten Maitre d'Outremont entgegen, das im Brüsseler Museum
verwahrt wird und eine Anzahl von Situationen vom Leidenswege
Christi darstellt. Hier treffen wir enge und weite Ärmel auf dem-
selben Bilde, hier finden wir großgemusterte Stoffe neben glatten
für die Kleider verwendet, hier zeigen die Männerröcke fast durch-
gängig Kragen, hier sind durchaus breite Schuhe und Stiefel ver-
wendet, und auch die Formen der Frauenhüte, so wie sie uns auf
den Brüsseler Bildern entgegentraten, erscheinen hier großenteils
wieder, wobei hervorgehoben werden mag, daß der Hennin fehlt.
In andern Punkten treffen wir wieder Abweichungen: so spielen
hier z. B. Gürtel eine weit größere Rolle als auf den Brüsseler
Bildern. Leider aber kommen wir auch, selbst wenn wir uns mehr
an die tatsächliche Übereinstimmung halten, durch diesen Ver-
gleich noch nicht sehr weit, denn jenen Maitre d'Outremont ver-
mögen wir, vorläufig wenigstens, weder lokal noch temporal sicher
unterzubringen. ') Und ferner: da es sich hier nur um einen ein-
zelnen Fall handelt, brauchte die Übereinstimmung noch immer
nicht auf eine Nachbildung der Theaterkostüme nach dem Muster
der Leistungen der bildenden Kunst zurückzuführen zu sein, sondern
1) Heibig, Revue de Tart chretien 1S98 S. 349 H., verlegt das Triptychon in das
erste Viertel des 16. Jahrhunderts und erklärt es für brabantisch oder holländisch mit
etwas niederrheinischem Einfluß. Anderseits denkt man wohl auch an Mostaert, den Hof-
maler der Margarethe.
^Qg Kostüme der lebenden Bilder und des Lyoner Terenz.
umgekehrt könnte ja der Maler auch Theatertrachten übernommen
haben.
Nur vermuten können wir also, daß wir in diesen Trachten
der lebenden Bilder von allen Elementen etwas vor uns haben und
daß sich dadurch vor allem jene Buntscheckigkeit erklären läßt.
Neben der einfachen Übernahme von Alltagskleidern, die wirkhch
damals gerade im Zeichen der Zwiespältigkeit gestanden haben
werden, Leistungen der Malerphantasie, die sich besonders gegen-
über der Aufgabe, eine Reihe von antiken Frauengestalten vor-
zuführen, betätigt haben mag. Hier wird man also auch die Kosten
für Neuanfertigungen nicht gescheut haben. Daneben aber hat
man sich wohl auch, zumal was die biblischen Bilder anlangt, an
das vorhandene Inventar gehalten und Kostüme, wie sie bei den
geistlichen Aufführungen üblich waren, bei lebenden Bildern ver-
wendet. Endlich sind wohl neben den Alltagskleidern auch Trachten
und Trachtenteile benutzt worden, wie sie bei den festlichen Auf-
zügen im Schwange waren. So stimmt z. B. die Form eines auf-
fallenden Frauenhutes auf einem der antiken Bilder überein mit der
Kopfbedeckung, die auf jenem damals durch Brüssels Straßen sich
bewegenden Aufzug eine Mohrin trug; auf den Brügger lebenden
Bildern treffen wir wilde Männer, und auch solche sind im De-
zember 1496 durch Brüssels Straßen gezogen, wie denn die An-
legung derartiger aus Werg gefertigten Wilden-Männer-Kostüme
ein beliebter Maskenscherz der Zeit war. Auf solch doppelte
Weise: durch die Verwertung alter Theatergarderobe und die Be-
nutzung von Feierkleidern und Maskenkostümen mag sich die Vor-
führung jedenfalls längst veralteter Trachten erklären, die auch
in jener Übergangszeit niemand mehr trug. So ist tatsächlich der
Hennin, den wir hier sehen, gewiß damals in Brabant nicht mehr
eine lebendige Mode gewesen. Die Buntscheckigkeit aber, die auf
solche Art zustande kam, entsprach dem Zweck der ganzen Ver-
anstaltung gewiß am allerbesten. Besonders bemerkt mag endhch
werden, daß die Kostümierung des Engels und des Teufels durch-
aus den üblichen Darstellungen der bildenden Kunst entspricht: der
Engel trägt ein kuttenartiges weißes Gewand mit Ärmeln und Flügeln,
die hoch über den Kopf herüberragen und unten tief herunter-
reichen, der Teufel hat statt der Füße und Hände vier Krallen,
ferner rote Augen, einen großen Rachen und einen langen Schwanz.
Und wie verhalten sich zu diesem Zustande, bei dessen Erklärung
wir schließlich leider doch im Bereich der Vermutung bleiben, die
Kostüme des Lyon er Terenz? Ganz gewiß werden wir keine
völlige Übereinstimmung fordern dürfen, denn die Aufgabe war hier
eine völlig andere. Die vorzuführenden Personen gehören hier so
ausschließlich dem Bürgerstand an, wie es sonst bei Leistungen der
bildenden Künste gewiß nur ausnahmsweise damals der Fall ist,
Kostüme des Lyoner Terenz. 407
während die Brüsseler Bilder bis in die höchsten Kreise hinauf-
führen; und während hier die Vorführung von Frauen beinahe über-
wiegt, treten sie in den terenzischen Komödien verhältnismäßig
sehr zurück. Ans dem Rahmen des bürgerlichen Lebens fallen
im Ganzen nur wenige terenzische Gestalten : der Parasit etwa und
dann vor allem der Sprecher des Prologs.
Und wirklich ist denn auch neben einer gewissen Gleichheit, die
sich nicht nur in Einzelheiten, sondern auch im Gesammtcharakter
der Tracht äußert, die auch hier wieder sehr buntscheckig und
barock erscheint, von völliger Übereinstimmung nicht die Rede
Die Schuhe allerdings sind hier wie dort durchaus breit, aber schon
die Frauenkopftrachten unterscheiden sich. Der Zug zur Mannig-
faltigkeit tritt auch im Terenz deutlich hervor, und an einzelnen
Übereinstimmungen mangelt es nicht. Aber hier bemerken wir als
Haupttracht jene gestickte Haube, die in Brüssel nur gelegent-
lich auftritt; hier fehlt einerseits der Hennin ganz, und von den
ganz phantastischen Kopfputzen jener lebenden Bilder ist ander-
seits nicht die Rede. — Die Frauenärmel sind hier durchaus eng
und zum Teil wieder überlang, die ganz weiten Ärmel dagegen
fehlen, während bei den Männerärmeln die Zwiespältigkeit tatsächlich
hervortritt. Was die Stoffe betrifft, so werden wohl helle, dunkle
und gestreifte unterschieden, die großgemusterten aber suchen wir
vergeblich. Die Männerkragen dagegen sind wieder vielfach zu
finden, allerdings fehlen sie auffallendervveise in einigen Komödien
ganz. Die Verwendung von Gürteln ist wenigstens beim männ-
lichen Geschlecht viel stärker als auf den Brüsseler lebenden
Bildern. — Anderseits zeigen die Terenzkostüme einige Eigen-
tümlichkeiten, die in Brüssel nicht zu finden sind, so die Ver-
wendung von Braguettes an den Männerhosen, — auffallenderweise
ist sie auf die Sklaven beschränkt, während wir sie sonst in der
bildenden Kunst 2) auch bei der Darstellung vornehmer Personen
treffen. Der Schnitt der Männertrachten ist viel abenteuerlicher
als auf den Brüsseler Bildern : durch allerhand Auszackungen sind
da seltsame Formen hergestellt, und das Eigenartigste ist die
von Stück zu Stück wechselnde Tracht des Prologsprechers;
namentlich kommt dabei ein Mantel zur Verwendung, der völlig
aus allem herauszufallen scheint, was uns sonst auf niederlän-
dischen Bildern entgegentritt. 3)
Fragen wir nun auch hier wieder : ist das einfache Übernahme
der tatsächlich damals irgendwo getragenen Kostüme? so sind
wir für die Beantwortung besonders schlecht gestellt, weil wir mit
1) Vgl. Alwin Schultz S. 93.
2) Vgl. z. B. die Burgunder Teppiche.
3) Der immerhin auffallende große, künstlich drapierte Mantel der Semiramis aus den
Brüsseler Vorführungen des Jahres 1496 ist doch wesentlich anderer Art.
408 Kostüme des Lyoner Terenz.
noch geringerer Sicherheit als sonst anzugeben vermögen, welchem Ort
der Künstler seine Kostümeindrücke verdankte. Allerdings können wir
zur Kontrolle hier vielleicht jenes dem ganzen Werke vorangestellte
Theaterbild heranziehen, das uns ja einen gefüllten Zuschaueraum und
außerdem die Bewohner und Besucher der fornices vorführt. In der
Tat finden wir hier zwar nicht alle — dazu reicht das Material nicht
aus — aber doch viele Eigentihnlichkeiten der Tracht wieder, die uns
auf den Szenenbildern aufgefallen sind. Nur ist das noch kein Be-
weis für die reale Existenz dieser Trachten, denn der Künstler könnte
ja auch, um das Theaterpublikum als Zeitgenossen jener in den
Szenenbildern vorgeführten Personen zu charakterisieren, ihm
ebenfalls das nicht schlechthin mit der Wirklichkeit übereinstim-
mende Thaterkostüm angezogen haben. Auch hier ist es wieder
schwierig, in der bildenden Kunst Leistungen zu finden, die
mehr als einzelne Übereinstimmungen in kostümlicher Hinsicht
an den Tag legen. Etwa so nahe wie den Kostümen der Brüsseler
Bilder die Trachten auf jenem Triptychon des Maitre d' Outre-
mont stehen den Terenzkostümen die Trachten, welche die ja
im niederländischen Stil geschaffene Lübecker Bibel des Jahres
1494 aufweist. Die Frauenärmel halten sich auch hier im Ganzen
noch in der engen und zum Teil überlangen Art, während die Männer-
ärmel nicht selten bauschig sind. In den Kopfbedeckungen beider
Geschlechter ist vieles ähnlich: Kragen und Gihiel sind im Ganzen
gleich behandelt. Die Braguettes kommen nicht selten vor, aller-
dings ohne daß jene Beschränkung auf die niedersten Stände sich
geltend machte, und vor allem endlich ist die barocke Gestaltung
der Männerkleider dort vielfach sehr ähnlich wiederzufinden ; der
merkwürdige Mantel allerdings fehlt hier völlig. Breite und spitze
Schuhe finden sich noch ziemlich bunt durcheinander.
Auch hier werden wir im Hinblick auf die Buntscheckigkeit und
auf die Erklärung, die sich uns für die nicht minder große Bunt-
scheckigkeit der Brüsseler Bilder aufgedrängt hatte, schließlich viel-
leicht vermuten dürfen, daß eine Mischung zugrunde liegt, an der
auch rein Theatralisches seinen Anteil hat. Wenn es uns vorher
als wahrscheinlich erschien, daß damals von den Frauen ganz enge
und ganz weite Ärmel nebeneinander getragen wurden, so mag der
Umstand , daß hier im Terenz die ganz weiten Ärmel noch völlig
fehlen, vieheicht darauf schließen lassen, daß man auf der Bühne,
deren Kostüme der Terenzillustrator im Sinne hatte, es vermied,
die neuesten Errungenschaften der Mode vorzuführen , und sich an
eine vorhandene Theatergarderobe hielt, die solche Extravaganzen
noch nicht kannte. Daß im Gegensatz zu aller sonstigen Bunt-
scheckigkeit die Brüsseler Bilder wie die Terenzilluslrationen durch-
aus die ganz modernen breiten Männerschuhe zeigen, wird sich
ebenfalls aus dem lebendigen Theatergebrauch erklären: die Dar-
Geberdcii auf <i(;n lel)enden Biklern und im Lyonor Terenz. 409
steller werden, wenn sie sich auch sonst umkleideten, ihr gewöhn-
liches Schuhwerk beibehalten haben. Endlich jener phantastische
Mantel des Prologsprechers. In den Niederlanden scheint er, wie
wir schon sahen, seinesgleichen nicht zu haben; dagegen treffen
wir ihn bei Dürer und zwar auf Bildern, die sicherlich unter italie-
nischem Einfluß entstanden sind. Wenn wir nun auch früher
schon einen Zusannnenhang jener flandrischen Bühne mit dem
italienischen Volkstheater glaubten ahnen zu dürfen, so mag in
diesem Mantel des Prologsprechers ebenfalls ein solcher Rest einer
Anlehnung an die fremden Theaterverhältnisse gefunden werden
dürfen.
Es bleibt die allerletzte Frage : liefert unser Material uns einen
Anhalt für die Beantwortung der Frage, ob auf dem Theater beim
Vortrage bestimmte spezifisch theatralische Gesten üblich ge-
wesen sind? Von vornherein werden wir hier die Brüsseler
Bilder nicht für allzu ergiebig halten dürfen. Einerseits nämlich
wird in der Anordnung der Gebärden gerade hier wieder die male-
rische Leistung der ganzen Veranstaltungen zu ihrem Rechte ge-
kommen sein: die Maler-Regisseure werden eine Neigung gehabt
haben, ohne die Rücksicht auf die etwa theaterüblichen Gebärden
die Hände der Personen so anzuordnen, wie sie es von den Bildern
her gewohnt waren. Anderseits verbot der Umstand, daß es sich
um lebende Bilder handelt, deren Teilnehmer in der gleichen Situ-
ation längere Zeit unbeweglich zu stehen gezwungen waren,
die Vorführung transitorischer Stellungen durchaus. So ist denn
auch wirklich in den meisten Fällen hier nichts Besonderes zu
beobachten. Mit Vorliebe haben die Regisseure beiden Händen der
mitspielenden Personen einen Halt gegeben: sie stützen sich auf
Stöcke oder Waffen, halten irgend einen Gegenstand, der ein
Herabhängenlassen des Armes motiviert, oder die Hände sind ganz
versteckt oder wenigstens gefaltet. Gelegentlich kommt der Affekt
des Entsetzens in der Gestikulation zum Ausdruck: auf dem Bilde
der Jahel, wo die zuschauenden Frauen beide Hände in einem ge-
wissen Abstand voneinander vor der Brust erheben, — eine ty-
pische Bewegung, die in der bildenden Kunst häufig genug be-
gegnet. Beim Gelöbnis hebt Eleazar die eine Hand ; in pathetischer
Pose halten verschiedene von den berühmten Frauen des Alter-
tums gleichfalls die eine Hand in die Höhe. Den Versuch, die ein-
fache Sprechbewegung anzudeuten, findet man eigentlich nur ein-
mal auf dem Bilde tres virgines , mid hier sind ganz wie in der
nicht individualisierenden mittelalterlichen Illustrationskunst beide
Hände in Aktion.
Viel interessanter dagegen ist immerhin das Material der Lyon er
Terenzbilder. Wir vermögen hier symbolische Gesten, Affektbewe-
4;[0 Geberden im Lyoner Terenz.
guiigen und endlich die einfache Aktion der Arme beim Gespräch
zu unterscheiden.
Die Arme nämhch sind es vornehmhch, in deren verschiedener
Haltung das seelische Leben der Personen sich kundtut; viel seltener
lassen sich charakteristische Eigentihulichkeiten in der Haltung der
Hände und der Finger unter scheiden. Die ermahnende Person hebt
(Andria II, 1) den Zeigefinger hoch; bittende Personen: Archillis
(Andria I, 4) und Clitipho (Heaut. V, 3) halten die Hände vor der
Brust und die Fingerspitzen wie zum Gebet zusammengepreßt.
Wichtiger ist die einzige Affektbewegung, zu deren Darstellung die
terenzischen Komödien wiederholt entschiedene Veranlassung geben:
die Gestikulation der Verzweiflung. Die typische Stellung ist hier die,
daß der Verzweifelnde seine Hände etwas über den Kopf zusammen-
schlägt: Pamphilus (Andr. II, 5), Chaerea (Eun. II, 3; Abb. 39, s. o. S.
312), Geta (Phormio V, 2); nicht ganz so hoch hält sie Thraso (Eun. V,
9 — 10); Demea (Adelphi V, 1) steht so, daß wir sehen: er will die
die Hände im nächsten Augenblick zusammenschlagen. Aeschinus
(Adelphi IV, 5) hat die offenbar vorher gleichfalls oben zusammen-
geschlagenen Hände, ohne sie voneinander zu nehmen, tief herunter
gesenkt. Völlig weichen nur Pythias (Eun. V, 2) und Simo (Heaut. V),
3) ab, bei denen es sich offenbar mehr um ein Falten der Hände
in der Höhe des Gesichts handelt, und endlich Davus (Andr. III, 4),
der in seiner Verzweiflung sich ganz nach vorn übergebeugt hat,
so daß die Haare fast den Boden berühren, und nun in dieser Stel-
lung mit beiden Händen an den Haaren reißt. Immerhin: die zuerst
charakterisierte Gestikulation ist ziemlich stereotyp, und das fällt
einigermaßen auf, weil der ganzen Art dieser Kunstleistung nach
vielmehr eine durchaus individualisierende Art der Gebärdenbe-
handlung zu erwarten wäre. Der Zug des Künstlers dazu zeigt
sich auch gelegentlich ganz deutlich, so etwa in der Darstellung
des Simo (Adelph. IV, 2), der die Hand ans Kinn legt. Die Illustra-
tionen der Lübecker Bibel, die wir sonst dem Lyoner Terenz
einigermaßen nahe rücken durften, weichen hier durchaus ab. Und
auch sonst ist in der spätmittelalterlichen Kunst, wie wir in anderm
Zusammenhange (vgl. o. S. 233, 239) darlegten, dieses Zusammen-
schlagen der Hände über dem Kopf als Zeichen der Verzweiflung
fast niemals von der starken Bildwirksamkeit wie hier. So werden
wir immerhin die Möglichkeit nicht für ausgeschlossen halten, daß
der Terenzillustrator hier tatsächlich eine typische Theaterbewegung
im Sinne gehabt hat. In einem ganz andern Zusammenhange:
bei der Betrachtung der auf der deutschen Meistersingerbühne
des 16. Jahrhunderts üblichen Gestikulation haben wir sie geradezu
im Mittelpunkt der Gebärdensteigerung getroffen. ')
1) Vg!. o. S. 24fiff., 255 f.; s. auch ii. S. 41 i).
Geberden im Lyoner Terenz. 411
Viel schematischer noch aber als diese schließlich doch nur
gelegentlich auftauchende Affektgeste ist im Lyoner Terenz die
eigentlich auf jedem einzelnen Bilde vorgeführte Bewegung beim
einfachen Sprechen. Es im höchsten Maße auffallend, wie hier von
ganz wenigen, völlig verschwindenden Ausnahmen abgesehen
immer nur die eine Hand die gewöhnliche Rede begleitet, während
die andere einfach herabhängt oder einen Teil des Gewandes oder
sonst irgendetwas festhält. Der Oberarm pflegt fest am Körper
zu liegen, der in Bewegung begriffene Unterarm dagegen mit ihm
bald einen spitzen, bald einen rechten, bald einen stumpfen Winkel
zu bilden. Diese Gestendarstellung widerspricht durchaus dem,
was wir in der Illustrationskunst beobachten können : wo hier über-
haupt eine stereotype Art sich zeigt, pflegen, wie wir das schon
öfter betont haben, beide Hände in Aktion zu treten. Handelt es
sich hier also um eine wirklich auf dem Theater übliche Art der
Geste beim einfachen Gespräch, dürften wir annehmen, daß beim
Vortrag der gewöhnlichen, affektlosen Reden wenigstens der
niederländischen Bühne der eine Arm des Schauspielers stets in
Ruhe, der andere dagegen in einer die Hand beständig von oben
nach unten und von unten nach oben führenden Bewegung ge-
wesen ist? Hat der Künstler, der für Jodocus Badius arbeitete,
diese ihm wohl bekannte Deklamationsbewegung seines heimat-
lichen Theaters auf die Darstellung antiker szenischer Hergänge
übertragen? Auffallend ist es immerhin, daß sein Venetianer Nach-
ahmer, der sich sonst so getreu an ihn anschließt, die strenge
Durchführung dieser Gesprächsgesten einigermaßen verwischt hat:
er hat diesen speziell theatralischen Charakter seiner Vorlage nicht
mehr begriffen. Es gäbe allerdings noch eine andere Erklärung.
Im klassischen Altertum heischt es die gute Sitte, auf der Straße
die eine Hand im Mantel verborgen zu tragen und nur die andere
zur freien Verfügung zu haben; dieses Prinzip läßt sich bei genauem
Zusehen wohl auch auf den Terenzbildern des Codex Vaticanus
oder des Codex Parisinus herauserkennen, und da wir annahmen,
daß Jodocus Badius einen dieser Codices einmal betrachtet hat, so
könnte ihm jene antike Eigentümlichkeit wohl aufgefallen sein, und
er hätte sie dann dem von ihm beschäftigten Künstler zur Ver-
wertung auf den modernen Terenzbildern mitgeteilt.
So schließt auch die letzte Erörterung dieser ganzen mehr ab-
bauenden als aufbauenden Untersuchung mit einem „non liquet*.
Drittes Kapitel :
Illustrationen zu schweizerischen Dramen.
Gerold Edlibach.
Die moderne Reihe setzt in Zürich ein und zwar nicht mit
einer Dramenillustration im gewöhnlichen Sinne des Wortes, mit
Bildern, die einem gedruckten Drama beigegeben wären, sondern
mit einer Leistung, die uns in gewissem Sinne an jene zuletzt be-
sprochenen Bilder zu den Brüsseler Aufführungen erinnert: mit
Federzeichnungen, die ein paar Züricher Spiele aus dem letzten
Viertel des 15. Jahrhunderts vorführen. Diese Züricher Abstam-
mung erweckt ein günstiges Vorurteil für die reine theatralische
Wirklichkeit des hier Vorgeführten: die Möglichkeit, daß es sich
wieder in erster Reihe um eine spezifisch bildkünstlerische Leistung
handle, ist hier von vornherein nicht sehr groß. Denn nur sehr
gering ist der Anteil, den Zürich damals am deutschen Kunstleben
hat. Erst im Anfang des 16. Jahrhunderts lassen sich die ersten
Spuren eines eigenen Buchdrucks nachweisen, und irgendwie
nennenswerte Künstler treten vor dem ebenfalls erst im 16. Jahr-
hundert tätigen Hans Leu kaum auf. Mag man auch in Rechnung
ziehen, daß mancherlei Werke aus dieser Periode zerstört sein
werden, so wird sich doch aus dem Umstand, daß auch der regste
Sammeleifer!) von der Architektur und einigen kunstgew^erklichen
Leistungen abgesehen keine irgendwie beträchtlichen Arbeiten aus
den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts hat aufstöbern können,
der Schluß tun lassen, daß damals keine oder so gut wie keine
künstlerische Tradition bestanden hat. Einen Anteil hat Zürich
allerdings an denjenigen künstlerischen Leistungen, durch die die
Schweiz überhaupt damals besonders hervorragte, und sie hat ihn
(hn-ch eben den Maini, dem wir die hier zu behandelnden theatra-
lischen Zeichnungen verdanken: das ist das Gebiet der Chroniken-
ilhistration, über die wir neuerdings besonders gut unterrichtet
DLR. Ralin, Gesell, d. hild. Künste in d. Sclnveiz von den ältesten Zeiten bis
zum Schluß des Mittelalters (Zürieli 187(j).
Die Bildk-unst in Zürich. Gerold ?:dlii)ach. 413
worden sindi). In Bern hat diese Kunst ihr Zentrum und feiert
hier seit dem Jahre 1470 in den meist von unbekannten Künstlern
herrührenden Bildern zu Diebold Schillintrs Chroniken ihre eigent-
lichen Triumphe, die besonders seit den 80er Jahren in der immer
glänzenderen Durchführung des spätgotischen Realismus zutage
treten. Anno 1486 hat der Rat der Stadt Zürich eines dieser Manu-
skripte, Schillings Beschreibung der Burgunderkriege, von der Witwe
des Verfassers angekauft.
Um die gleiche Zeit aber hatte sich in Zürich bereits der Mann,
von dem wir hier zu reden haben, Gerold Edlibach, mit einer ver-
wandten Arbeit, mit Bildern zu seiner 1485 und 86 geschriebenen
Züricher Chronik versucht, die freilich trotz eines entschiedenen
Zuges zur Wirklichkeit hinter den besseren Berner Miniaturen zu-
rückbleiben. Den Einfluß dieser Berner Kunst auf Edlibach zu
untersuchen, wird aber nicht nötig sein, da er für unsere Theater-
bilder kaum in Frage kommt: sie gehören schon den Jahren 1476
und 1484 an.
Gerold Edlibach, im Jahre 1454 geboren, seit 1473 als Amtmann
des Einsiedler-Stiftes in Zürich tätig, seit 1480 im Besitz öffent-
licher Ämter, w^urde im Jahre 1489 durch die große Züricher Re-
volution vom Regiment verdrängt, ist aber bald wieder emporge-
kommen und in hohen Ehren 1530 gestorben'-).
Hier interessiert er uns nur in seiner Stellung zur Bildungs-
geschichte seiner Zeit; da tritt uns ein Autodidakt und eifriger
Sammler entgegen, wie diese Periode so manchen aufzuweisen hat:
ein Hartmann Schedel en miniature, nur daß ihm der Zug zur
humanistischen Propaganda abgeht. Er brachte mit allen Mitteln
eine Bibliothek zusammen : indem er handschriftliche oder gedruckte
Bücher kaufte oder auch mit eigener Feder umfangreiche Werke
kopierte. So hat er schon im Jahre 1474 eine Prosalegende vom
Heiligen Georg selbst geschrieben (Ms. A 164 der Stadtbibliothek
in Zürich) und im Jahre 1498 ein nicht minder umfangreiches
Passionsbuch, das eben dort als Ms. B 288 bewahrt wird. Als
Schriftsteller hat er sich durch jene schon erwähnte, übrigens ziem-
lich trockene und politisch höchst vorsichtige Züricher Chronik be-
tätigt: seine eigene Handschrift bildet jetzt in Zürich das Ms. A 75^).
Ein Element aber eignet diesen Arbeiten, dem bei Hartman Schedel
nichts entspricht: Edhbach hat seine Handschriften, die Chronik
nicht nur, sondern auch das Georgsbuch, die Passion und anderes
eigenhändig mit Bildern ausgestattet. Auch auf diesem Gebiete
1) J. Zemp, Die schweizerischen Bilderchroniken und ihre Architekturdarstellungen
Zürich 1897.
2) Vgl. Wyss: ADB. 5, S. 646 f.
3) Ich durfte sämtliche drei Manuskripte durch die Güte der Direktion der Züricher
Stadtbibliothek in Berlin benutzen.
414
Edlibachs Zeichnungen zu Zürcherischen Aufführungen.
Abb. 79 — 80. Gerold Edlibachs Federzeichnungen
aber ist Edlibach durchaus Autodidakt, Dilettant, ein Mann, der
einen gewissen Blick für die Erscheinungen des Lebens besitzt,
der auch wohl naiv dem Einfluß berufsmäßiger Kunst, zumal dem
des süddeutschen Holzschnitts unterliegt und in solchem Sinne
seinen Naturalismus stilisiert. Aber die hier zu behandelnden
Arbeiten sind doch so naiv, daß wir jene Beeinflussung nicht zu
berücksichtigen brauchen, und zumal die Entwicklung seines Farben-
sinnes, die sich in den genannten Leistungen deutlich beobachten
läßt, zu erforschen, tut um so weniger not, als unsere theatralischen
Bilderzeichnungen ausnahmsweise ohne Farben dargeboten werden i).
1) Man könnte auf den Gedanken kommen, daß ein Mann, der nachgewiesener-
maßen das Bild öffentlicher Aufführungen mit der Feder festzuhalten versucht hat, in
seinen Bildern zu Christi Leidenssjeschichie sich habe durch die öffentlichen l'assionsauf-
Edlibachs Zeichnungen zu Zürcherischen Auffiihruns^en.
415
^v^ *^fr-<
j-^Vp"
zu dem Spiel von den zehn Altern (Zürich 1484(.
Diese beiden Zeichnungen, die wir hier (Abb. 79 — 80) reprodu-
zieren!), befinden sich in dem jetzigen Cod. 98 der Fürstlichen Biblio-
führungen beeinflussen lassen. Doch zeigte eine Untersuchung des oben genannten Manuskripts
von 1498, daß daran kaum zu denken ist : die meisten dieser Bilder, Abendmahl, Fuß-
waschung, Ölberg, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuztragung, Kreuzigung, Beweinung, Auf-
erstehung usw. stehen durchaus rein im Bann der üblichen Darstellungen durch die bil-
dende Kunst. Aber auch bei den übrigen Bildern, die z. T. Szenen zeigen, welche
von den Malern und Zeichnern sonst kaum vorgeführt werden, ist wohl von einer Nach-
bildung dramatischer Szenen nicht die Rede : sie spielen alle im vollständig geschlossenen
Innenraum. Auffallend ist nur das erste Bild, die Vertreibung der Wucherer aus dem
Tempel: hier befinden wir uns nämlich draußen vor dem Tempel (bei dessen Darstellung
Edlibach seiner auch sonst zu beobachtenden Neigung für die Vorführung vor* Architektur
die Zügel schießen läßtj, während die bildende Kunst sonst uns in das Innere des Tem-
pels zu führen pflegt.
1) Leider ist die erste der beiden Zeichnungen durch Wasser stark beschädigt worden ;
I
^-[g Edlibachs Zeichnung des Zehnalterspiels.
thek zu Donaueschingen 1), dessen Hauptinhalt eine im Jahre 1464 ge-
schriebene Kopie des Schachgedichts 2) von Konrad von Ammen-
hausen bildet; Edhbach hat dahinter eine Reihe von Ausdrücken
aus dem Rotwelschen und eine Prosafassung der Geschichte vom
Meliböus geschrieben. Nicht nur wegen dieses Inhalts ist die Hand-
schrift von der Wissenschaft mehrfach beachtet worden, sondern
auch wegen mancher illustrativer Beigaben, unter denen nament-
hch die Abbildungen von schweizerischen Burgen wiederholt repro-
duziert worden sind. Dagegen ist das, was auf den letzten drei Seiten
der Handschrift sich befindet, eben unsere theatergeschichtlich
wichtigen Federzeichnungen, bisher nur gelegentlich erwähnt
worden 3).
Die erste Zeichnung bezieht sich auf eine Darstellung des
Spieles von den zehn Altern, das in der Geschichte des deutschen
Dramas wiederholt auftaucht und von dem auch wir, wenn wir
von Pamphilus Gengenbach reden, noch zu handeln haben werden.
In Zürich ist es offenbar nicht eigentlich als Drama, sondern in
einer Art Umzug gespielt worden; von solchen für die Geschichte
des Theaters jedenfalls wichtigen Zwischengattungen ist schon
früher bei der Erörterung der Brüsseler Bilder gesprochen worden.
Nach den oben gegebenen Erörterungen über den Stand der
bildenden Kunst in Zürich und über den Dilettantismus des Zeich-
ners werden wir von vornherein erwarten dürfen, hier wirklich
ein Theaterbild vor uns zu haben. Wie in den Illustrationen zu
seiner Chronik kommt es Edlibach darauf an, einen tatsächlichen
Hergang zu verewigen, und vor allem der Umstand, daß der Zeichner
zu jeder Gestalt den Namen dessen fügte, der bei jenem Umzüge
die betreffende Rolle gespielt hat, erlaubt uns die Annahme, daß
wir es hier mit kaum stilisiertem Naturalismus zu tun haben. Wohl
hat das Motiv von den zehn Altern, wie wir später sehen werden,
auch seine rein künstlerische Tradition, aber dem Nichtkünstler lag
doch die Einordnung seiner Darstelhmg in diese Tradition bei
weitem nicht so nahe wie etwa die Anlehnung seiner Passions-
bilder an die gebräuchlichen Vorführungen der bildenden Kunst,
die auch dem Dilettanten fort und fort vor Augen kamen. In
der Tat stimmt seine Zeichnung denn auch eigentlich nur mit einem
einzigen der weiter unten zusammengestellten künstlerischen Motive
die Kunstanstalt von Meisenbach, Riffarth & Co. in Beilin-Schönoberfi hat mit der Feder
an einigen Stellen vorsichtig nachgeholfen. Die Reproduktionen sind stark verkleinert.
1) Die Direktion hat sie mir in liebenswürdiger Weise auf längere Zeit zu meiner
Benutzung nach Berlin gesandt.
2) F. Kluge, Wörterbücher des Rotwelschen Bd. 1, S. l'J meint offenbar, die Abschrift
rühre von Edlibach selbst her; das ist schon darum unwahrscheinlich, weil E. im Jahre der
Herstellung erst 10 Jahre alt war, und wird durch das Bild der Schriflzüge vollends widerlegt.
3) Bei Meyer v. Knouau: Anz. f. Schweiz. Altertumskunde 1870 S. 202 f. ; bei
Baeciilold, Geschichte d. deutsch. Litt, in der Schweiz 1892, Anni. S. 70 und bei Zemp S. 71.
Edlibachs Zeichnung des Zehnalterspiels. 417
Überein: der dreißigjährige Mann wird als Krieger dargestellt;
ferner findet sich Edlibachs Scheidung, daß die Vertreter der Lebens-
alter von zehn bis fünfzig bartlos, der von sechzig bis hundert
bärtig dargestellt sind, auf den Bildern der Kathedrale zu Amiens
wieder. Aber solche Übereinstimmung mag ganz wohl Zufall sein.
So werden wir uns wenigstens über das theatralische Kostüm bei
solchen Fastnachtsspielaufführungen aus unserer Zeichnung orien-
tieren dürfen ; leider nicht über Weiteres, vor allen Dingen, da
es sich um stummen Aufzug handelt, nicht über die theatralische
Gebärde. Edlibachs Notiz meldet: Anno Domini uff' die pfaffen
iiasnach jm 1484 jar sind diese abgemelte personnen mit ein
andren jn hutzenwifS gangen „Jn Butzenwiß"": man wird
geneigt sein, dabei an irgendeine Vermummung, sei es des Ge-
sichts durch eine Maske, sei es des Körpers durch eine besondere
Kleidung zu denken. Unsere Bilder zeigen nun aber, daß eigent-
liche Masken jedenfalls nicht verwendet worden sind; es bliebe
nur die Frage, ob jene Vertreter der Lebensalter Sechzig bis Hundert
vielleicht mit künstlichen Barten versehen worden sind. Das wird
sich endgültig feststellen lassen, wenn wir etwa einmal über das
wirkliche Alter der Vertreter der einzelnen Rollen unterrichtet
werden und also sehen können, ob die höheren Lebensalter von
bejahrten Männern gespielt worden sind: wie Edlibachs Chroniken-
bilder zeigen, pflegen damals die älteren Leute fast durchaus Vollbarte
zu tragen i). Vorläufig läßt sich nur sagen, daß das vorgeführte Alter
mit dem wirklichen Alter der Spieler nicht übereinzustimmen
brauchte, dennEdlibach selbst spielt den Zwanzigjährigen, während er
1484 doch schon dreißig Jahre zählte, und der Darsteller des Zehn-
jährigen ist offenbar ebenfalls ein Erwachsener gewesen. Aber
auch um die Verwendung besonders eigenartiger, vermummender
Kostüme kann es sich nicht gehandelt haben ; die Trachten der zehn
Darsteller stimmen vielmehr durchaus mit den damaligen Züricher Ko=
stümen des Alltags überein 2); lediglich die etwas merkwürdige Tracht
des Zwanzigjährigen mit der großen Schleife läßt sich nicht nach-
weisen. Besonders interessant aber ist es, daß der Dreißigjährige,
der Ritter, nicht etwa in voller ritterlicher Rüstung, sondern auch
nur in der gewöhnlichen bürgerlichen Gewandung erscheint und
daß sein Ritterstand lediglich durch Helm und Hellebarde symbo-
lisch angedeutet wird. So wird man jene Worte jn Butzenwiß
also wohl nicht durch „in einer Vermummung" sondern nur allgemein
„in einem Fastnachtsspielaufzug" übersetzen dürfen. Die Haupt-
sache in der ganzen Ausstattung aber ist der Umstand, daß jede
1) Vgl. Zemp S. 72
2) Um sich davon zu überzeugen, mag man die für diesen Zweck ausreichenden, für
kunstgeschichtliche Betrachtung ungenügenden Proben Edlibachscher Zeichnungen in
Usteris Ausgabe der Chronik (1486) heranziehen.
H e r r m a n n , Theater. 27
418
Edlibachs Zeichnung zu Brunners Fastnachtspiel.
Person eine Stange hält mit einer flatternden Fahne, deren Inschrift
das Lebensalter des Trägers kennzeichnet. Schwierigkeiten macht
nur der Engel, der das Ganze beschließt; hier fehlt der Schau-
spielername, und hier ist auch (etwa durch die Schuld jener Wasser-
flecke?) die Art der etwaigen theatralischen Verwendung der Fahne
mit ihrer Inschrift nicht deutlich. Möglich also, daß es sich hier
um eine rein zeichnerische Ergänzung handelt.
Das zweite Bild aber (Abb. 81) zeigt uns nicht einen doch nur halb
Abli. 81. Edlibachs Federzeichnung zu Brunners Fastnachtspiel.
dramatischen Umzug, sondern offenbar den Schluß eines richtigen
Fastnachtspiels, dessen von Edlibach genannter Verfasser „Brunner
de Zofingen" freilich sonst nicht bekannt ist. Hier ist nicht etwa
eine Illustration zu einem epischen Gedicht gegeben, denn die aus
den Spruchbändern zusammenzustellenden Reden der Personen folgen
aufeinander, ohne daß irgendwo ein episches „darauf sprach der
Nächste" zu ergänzen wäre, und auch der Umstand, daß die Reim-
paare am Schlüsse des Ganzen durch einen Dreireim abgelöst
werden, weist in die gleiche Richtung. Der Schauplatz ist ein
wirkliches Zimmer mit einer Tür, einem Ofen und einem großen
Edlihaclis Zeicliiuing zu Bruiiners Fastnaclitsijiel. P. Gen(reiil)acli. 419
Tisch, um den von drei Seiten die handelnden Personen herum-
sitzen. Rund herum ist das zuschauende Pubhkum zu denken, nur
die vierte Seite bleibt frei, die Seite der Tür, durch die soeben der
Jäger hereintritt. Für die Trachten der Personen gilt wieder das-
selbe, was vorhin beim Spiel von den zehn Altern gesagt ist: alle
diese Gewänder, auch die kurzen Mäntelchen, ferner auch das
große Hörn des Jägers und seine hohen, oben umgekrempelten
Stiefel lassen sich auf Edlibachs Chronikenbildern nachweisen;
nur der Schnitt des Wamses bei den Schmausenden weicht etwas
ab, aber auch hier kann es sich um eine bei der Herstellung der
Chronikbilder schon aus der Mode gekommene Züricher Alltags-
tracht handeln: man kann diesen Schnitt auf den unserm Fast-
nachtsspiel von 1476 zeitlich näherstehenden St. Georgsbildern
Edlibachs (1474) nicht selten wiederfinden. Was endlich die Be-
wegungen anlangt, so ist es ganz auffallend, wie alle diese ruhig
miteinander sprechenden Personen nur den einen Arm agieren
lassen, während wir auf ganz analogen Bildern der Edlibachschen
Chronik, bei der Darstellung von Tischszenen also, die Redenden
oft auch beide Arme bewegen sehen und auch ganz individuali-
sierende Gesten treffen. Wir hatten schon in einem ganz andern
Zusammenhange (S. 411) Grund zu der Annahme zu haben geglaubt,
daß die typische Theatergeste bei der einfachen Rede in einem
Auf- und Abbew^egen des einen Armes bestanden hat: durch diese
Edlibachschen Zeichnungen wird jene Hypothese vielleicht einiger-
maßen bestätigt.
P a m p h i 1 u s G e n g e n b a c h.
Von Zürich haben wir uns nach Basel zu wenden und einen
Zeitraum von etwa dreißig Jahren zu überspringen, wenn wir auf
die nächste uns hier interessierende Leistung treffen wollen : die
Zeit, in welche die bedeutsamsten Schöpfungen auf dem Gebiet der
Terenzbilder fallen, geht hinsichtlich der Illustration deutscher Dra-
men völlig leer aus. Und auch eine direkte Beziehung zwischen
jenen Züricher und den nun zu besprechenden Baseler Arbeiten
existiert nicht. Zwar beginnt die Baseler Reihe merkwürdigerweise
mit Bildern zu einem Drama, das den gleichen Stoff behandelt, den
uns Gerold Edlibachs Federzeichnungen vorgeführt hatten. Aber
über diese Stoffgleichheit hinaus scheinen keinerlei dramatische,
theatralische oder zeichnerische Zusammenhänge zu bestehen. Aus
der kunstarmen Zeit Edlibachs führen uns die Illustrationsreihen
zu den drei dramatischen Arbeiten des Baselers Pamphilus Gen-
genbach und damit in eine Periode reger und bedeutsamer Kunst-
entfaltung. Freilich besitzen wir noch keine eigene Untersuchung,
die uns die Leistungen des Baseler Holzschnitts in ihrer besonderen
^20 Der Baseler Holzschnitt und die Gengenbachsche Offizin.
Entwicklung und in allen wichtigen Einzelarbeiten im Zusammen-
hange vorführte. Und ob das Surrogat, das uns Haendckes Betrach-
tung der malerischen und zeichnerischen Kunst Basels im 16. Jahr-
hundert bieten kann, wirklich ausreicht, wage ich nicht endgültig
zu entscheiden. Er beobachtet, wie hier Schongauers Einfluß durch
die Anlehnung an Dürer abgelöst wird, wie dann aber die Schule
des Mannes, der über die beiden Meister hinausstrebend eben an-
fing, einen eigenen Stil zu gewinnen, die Schule des Urs Graf vor
ihrer eigenthchen Entfaltung durch den alles bezwingenden Ein-
fluß des jüngeren Hans Holbein vollständig geschlagen wurde.
Kleinere und größere Einflüsse scheinen hier in diesem Bilde doch
zu fehlen; vor allem ist es seltsam, daß Ambrosius Holbein voll-
ständig mit Stillschweigen übergangen ist. Eine wirklich ab-
schheßende Monographie wird wohl nur einem kunsthistorisch
geschulten Lokalforscher gelingen.
Für die rein bibliographische Seite unserer Untersuchung, für
die Möglichkeit, die Leistungen der einen in Betracht kommenden
Druckerei in ihrer Gesamtheit zu überblicken, ist durch das große
Werk von Heitz und Bernouilli^) trefflich vorgearbeitet. Immer-
hin aber läßt sich leicht zeigen, daß die Stürme des 16. und 17.
Jahrhunderts auch von den Drucken, die aus der Offizin des Dich-
ters Pamphilus Gengenbach hervorgegangen sind, vieles vernichtet
haben, so daß wir immer darauf gefaßt sein müssen, nur mit
Trümmern zu arbeiten : wiederholt treffen wir in Gengenbachschen
Drucken Holzschnitte, die nicht zu dem Inhalt passen, sondern le-
diglich als Buchschmuck verwendet sind, — solche Bilder setzen
die sonst nicht mehr nachweisbare Existenz von Druckwerken
voraus, für die sie ursprünglich einmal geschaffen worden sind;
auch der Umstand, daß nachträghch, nach dem Abschluß jener
bibliographischen Zusammenstellung, noch hier und da Leistungen
der Gengenbachschen Druckerei auftauchen-^), weist in die gleiche
Richtung. Immerhin besitzen wir soviel Arbeiten des Druckers
Gengenbach, die mit Holzschnitten geziert sind, daß wir erkennen
können: eine ganze Anzahl der Baseler Künstler jener Zeit hat in
seinem Auftrage gearbeitet; nur die modernste Richtung, die Hol-
beinsche Schule, scheint er nicht mehr beschäftigt zu haben.
Anderseits hat Gengenbach auch, nach dem Usus der Zeit, aus
andern Druckereien Holzstöcke, namentlich Zierleisten und der-
gleichen gekauft, und der ganze Illustrationsbetrieb gewinnt bei
ihm in sofern etwas Fabrikmäßiges, als namentlich in der späteren
Zeit auf die oben angedeutete Art viele Werke mit Holzschnitten
1) B. Haendcke, Die Schweizerische Malerei im 16. Jahrhundert (Aarau 1893)
S. 3 ff.
2) Baseler Buchdruckerzeichen (Straßburj^ 1895).
3) Vgl. S. Singer. ZDA. 45, S. 153.
Gengenbachs Spiel von den zeliii Altern. 421
ausgestattet werden, die kaum noch irgend etwas mit ihrem Inhalt
zu schaffen haben. Dagegen hat Gengenbach seine drei eigenen
dramatischen Werl<;e offenbar hoch genug gestellt, um für sie voll-
ständig neue Illustrationen anfertigen zu lassen.
Das erste von diesen Werken ist, wie schon bemerkt, das Spiel von
den zehn Altern. Über die Entstehungszeit dieser dramatischen
Revue sind die Forscher bisher nicht einig geworden. Auf dem
Titelblatt des Originaldruckes steht nämlich: Hie findt man die
zehen alter nach gemainen laufft der wält mit vyl schönen hysto-
rien begri/ffen, vast lieplich zu läsen vnd zu hören. Und sind dyse
alter von wort zu wort nach Inhalt der matery vnd anzaigung der
figuren gespilt worden Im XV' Jor vff der herren fastnacht von et-
lichen ersamen vnd geschickten Burgeren eir loblichen stat Basel.
Im XV" Jor: das heißt natürlich zunächst nichts anderes als: „im
Jahre 1500"; aber die ältere Anschauung, die das Spiel nun darum
wirklich in das Jahr 1500 verlegt, ist schon darum nicht zu halten,
weil das Stück Anspielungen auf historische Vorgänge späterer
Jahre enthält; ein neuerdings hervorgetretener Versuch, diese alte
Datierung zu retten'), ist durchaus gescheitert. Seit Goedeke setzt
man das Spiel ins Jahr 1515, indem man das c hinter XV als
einen Druckfehler für o ansieht, also Jm XV' Jor liest und aas
als eine Abkürzung für „im 1515 ten Jahre" betrachtet. Dem hat
in neuester Zeit Bolte -) widersprochen. Jene Abkürzung 15 statt
1515 hält er darum für unwahrscheinlich, weil auf dem Titelblatt
von Gengenbachs nächstem Drama, das im übrigen jene oben zi-
tierten Worte fast buchstabengetreu wiederholt, zu lesen ist Jm
XV" vnd XVII': jenes c der „Zehn Alter'^ ist also kein Druck-
fehler, die Sache wird sich vielmehr so verhalten, daß hinter dem
XF", das die Zahl des Jahrhunderts angibt, durch ein Versehen
des Druckers die nun noch folgende Ziffer ausgefallen ist. Bolte
sieht keinen Grund, der uns zwänge, gerade auf das Jahr 1515 zu
raten; er möchte sich vielmehr gern für das Jahr 1511 entschließen,
weil in diesem Jaiire nach einer zufällig erhaltenen urkund-
lichen Notiz ein „Fastnachtspiel der Baseler Druckergesellen" statt-
gefunden hat, das ihm mit dem Drama des Druckers Gengenbach
identisch zu sein scheint. So sehr ich aber den ersten Teil seiner
Beweisführung billige, so wenig vermag ich mich dem zweiten an-
zuschließen. Jene Identität wird schwerlich anzunehmen sein, da
Druckergesellen kaum als „ehrsame und geschickte Bürger" werden
1) A. Kl a SS er t, Mitt. über die Michelstädter Kircheubibliothek (Programm Michel-
stadt 1902) S. 17; dagegen Bolte, Jörg Wickram Werke Bd. 5 (1903), S. 20ff. und 30.
Herr Professor Klassert war so freundlich, mich schon vor dem Erscheinen der Bolte-
schen Einleitung in einem ausführlichen Schreiben über die Unrichtigkeit seiner Hypo-
these aufzuklären.
2^ a. a. 0. S. 20 f.
422
Die Holzschnitte zu Gengenbachs Zehnalterspiel.
bezeichnet werden können. Wir werden vielmehr uns wohl auch
jetzt noch am besten für das Jahr 1515 entscheiden; denn auf
diese Art ist jener Ausfall der sog. Minderzahl am einfachsten
zu erklären: der Setzer glaubte, als er die erste XV gesetzt hatte,
auch schon die zweite erledigt zuhaben. Der Druck des Werkes
wird vielleicht erst in die Jahre 1516 oder 17 fallen, weil es sonst
auffallend wäre, daß die datierten Nachdrucke — nur ein unda-
tierter ist etwas älter — erst mit dem Jahre 1518 einsetzen.
X.JotfinMnf!
Al)b. 82. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Zehnjährigen.
Nichts mit der Aufführung hat der Titelholzschnitt des Büch-
leins zu tun ; er zeigt zwei Engel mit einem Spruchband, die einen
Schild mit dem Baseler Wappen halten. Dann aber folgen, abge-
sehen von einem kleinen, die Vorrede eröffnenden Bildchen, das
einen Einsiedler mit Stab und Rosenkranz darstellt, zehn größere
Holzschnitte i): in der Art, daß jedesmal, wenn eine neue Person zu
sprechen anhebt, ein neues Bild geboten wird (Abb. 82 — 91). Die
Illustrations weise ist also szenenmäßig, und da auch das Format
der Holzschnitte an das für die Terenzbilder üblich gewordene er-
innert, so könnte man vielleicht an eine bewußte Nachahmung der
Terenzillustrationen denken, an denen ja auch Basel einen gewissen
Anteil hatte.
1) Hier in Originalgröße nach dem Berliner Exemplar wiedergegeben; auf dem Bilde
ties Hiuidciljährigen ist leider der Ko])!' zerstört.
Der Meister des Zelinalterspiels.
423
Den Künstler, der diese Szenenbilder geschaffen hat, ver-
mögen wir nun leider nicht mit Namen zu bezeichnen. Aber ganz
fremd bleibt er uns doch nicht, denn in einigen andern Gengen-
bachschen Büchern lassen sich Holzschnitte von seiner Hand nach-
weisen: in der kleinen Horaz- Ausgabe^) findet sich hinten ein
Holzschnitt, der einen heiligen Bischof mit dem Krummstab dar-
stellt, wie er in ein Haus, richtiger eine offene Halle, hineingeht,
auf deren Plattform drei Frauen sitzen, unter ihnen die mittelste
XX.JormiJjiingling
Abb. 83. P. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Zwanzigjährigen.
am Spinnrocken : dieses Blatt rührt bestimmt von dem Meister der
„Zehn Alter" her. Das gleiche gilt von einem Holzschnitt, der
Gengenbachs Bearbeitung von Kisteners Jakobsbrüdern am Schluß
beigegeben ist und die heilige Familie, im Hintergrunde Gott Vater mit
dem Heiligen Geist darstellt; weiter von einem seltsamen Bilde, das
ganz sinnloserweise auf der Rückseite des Titelblattes der von Gen-
genbach herausgegebenen antimurnerischen „Novella" abgedruckt
Tst und einen wohlgekleideten Jüngling vorführt, der am Ufer eines
Flusses sitzt und schreibt, während ein im Vordergrunde stehender
Priester ihn auf die Dreieinigkeit hinweist, die am Himmel zwischen
1) Horatius epodon; libri Eiusdem de arte poetica, Basel, Juni 1518, -t». Ich be-
nutze das mir freundlichst übersandte Exemplar der Stadtbibliothek zu Frankfurt a. M.
4^24 Dsr Meister des Zehnalterspiels.
Sonne und Mond erscheint. Vielleicht sind auch einige kleinere Holz-
schnitte in den „Sieben Altern" (1521, fol. c6a und p4b) und in dem
Kalender auf das Jahr 1521 (fol. H4bff.: die vier Temperamente
und der Aderlaß) von demselben Künstler hergestellt. Das Wort
Künstler darf man freilich eigentlich kaum auf ihn anwenden: er
hat etwas Ungefüges, ohne irgendwelche Größe zu besitzen, und ein
gewisser naiver Schongauerismus, der gelegentlich hervortritt, bringt
erst recht einen unkünstlerischen Gegensatz zutage. Die Art vor
Abb. 84. P. Gengenbach, Zelin .\lter : Der Einsiedler mit dem Dreißigjährigen.
allem, wie er die Hände gestaltet, und die recht sinnlose Weise seines
Faltenwurfs sprechen mehr für einen Dilettanten. Fast wäre man
geneigt, auf Pamphilus Gengenbach selbst zu raten; wir haben
freilich kein Zeugnis dafür, daß er nach dem Beispiel mancher andern
Buchdrucker sich auch als Illustrator versucht hat. Aber die Be-
obachtung — die freilich noch an einem größeren Material nachzu-
prüfen wäre, als es hier zur Verfügung steht — , daß Arbeiten
dieses Illustrators in Drucken anderer Baseler Offizinen nicht auf-
tauchen, möchte vielleicht jene Hypothese als nicht so unmöglich
erscheinen lassen. Würde sie sich bestätigen, so höbe sich natürlich
von vornherein der theatergeschichtliche Wert unserer zehn Bilder:
denn der Verfasser des Werkes würde am ehesten auf die Wieder-
gabe der lebendigen Aufführung Bedacht genommen haben und
Die Tradition der Zehnalter-IUuslrationen.
425
würde anderseits als Dilettant am weitesten von dem fälschenden
Zwange rein zeichnerischer Tradition entfernt geblieben sein.
Der Verdacht nämlich, daß es sich bei diesen Bildern nicht
um eine Wiedergabe des Theatralischen, sondern um eine wesent-
lich illustrative Leistung handle, ist in diesem Fall besonders nahe-
liegend, wo ein Gegenstand in Betracht kommt, der von der bil-
denden Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts mit Vorliebe darge-
stellt worden ist. Mit Benutzung älterer Hinweise i) läßt sich eine
XLjorStilflan
^Abb. 85. P. Geiigeiibacli, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Vierzigjährigen.
stattliche Liste von Bilderken zusammenstellen, die die zehn Lebens-
alter des Mannes vorführen2); auch sie wird keineswegs vollständig
sein, aber sie vermag doch wohl die Gesamttradition darzustellen,
in der wir unsern Illustrator finden müßten, wenn er seine Auf-
gabe wesenthch vom Standpunkt der Bildkunst erfaßt hätte.
Es handelt sich da um folgende Darstellungen:
1. Skulpturen am Südportal der Kathedrale von Amiens („Portail
de la Vierge doree"), 13. Jahrhundert.
2. Die Holzschnitte des sog. Meisters von 1464 (Niederrhein):
Passavant, Feintre-Graveur 2, S. 25.
DVgl.ZacherundMatthias, ZDPh. 23, S. 401 f.; Bolte a. a. 0. S. XVIIl. Anm. 1.
2) Von Darstellungen, die die Zahl der Lebensstufen be.schränken und von Vorfüh-
rungen der zehn Altersstufen des Weibes wird hier natürlich Abstand genommen.
426
Die Tradition der Zehnalter-lllustrationen.
3. Einzelblatt von 1482 (Ulm?): Weigel-Zelstermann , Die An-
fänge der Druckerkunst 1, S. 330 f.
4. Italienisches Einzelblatt (Anfang des 16. Jahrhunderts): Berlin,
Königl. Kupferstichkabinett.
5. Skulpturen in der St. Annakirche zu Annaberg in Sachsen,
vollendet 1525: Photographien und Beschreibung, z. T. nach älteren
Zeichnungen, in der „Beschreibenden Darstellung der älteren Bau-
und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen" 4. Heft: R. Steche,
Amtshauptmannschaft Annaberg (Dresden 1885), S. 23 ff.
L.jporioolgfrl)on
Abi). 86. P. Gengeiibach, Zeliii Alter: Der Einsiedler mit dem Fünfzigjährigen.
6. Einzelblatt vom Jahre 1540; von Passavant 3, S. 381 fälsch-
lich Holbein zugeschrieben (Augsburgisch ? Vermutung Weltmanns):
Berlin, Königl. Kupferstichkabinett (Über ein Nürnberger Exemplar :
ZDPh. 23, S. 405).
7. Holzschnitte des Meisters mit dem Zeichen 1. R.: Passavant
4, S. 335: Sachsen, zweite Hälfte des 16. Jh.)
8. Holzschnitte des Tobias Stimmer (um 1570); vgl. G. Hirth,
Kulturgeschichtliches Bilderbuch 3, S, 1369 f.
9. Balthasar Jenichen, Serie von Holzschnitten (um 1580): Berlin,
Königl. Kupferstichkabinett.
10. De Necker, Stamm- oder Gesellenbüchlein (Wien 1579): Be-
schreibung ZDPh. 23, S. 406.
Theatersinii der Bilder zum Zelinalterspiel. Lokales.
427
11. Nicolaiis de Bruyn, Holzschnitte (um KiOO): Berlin, Königl.
Kupferstiehkabinett.
12. Abbildung derer VIII Hertzoge (Zeit?): Beschreibung ZDPh.
23, S. 407f.
Wir behandeln nun die Frage nach dem Vorhandensein wirk-
licher Theaterelemente in den Holzschnitten des Gengenbachschen
Druckes im einzelnen und fragen zunächst nach der Darstellung
des Lokalen. Da fällt es nun sofort sehr auf, daß unsere Holz-
LX.Jorabfion
Abb. 87. P. Gengeubach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Sechzigjährigen.
schnitte keinerlei landschaftlichen Hintergrund, auch nicht Gras
und Kräuter am Boden zeigen , sondern daß die Personen der
Handlung auf einem gedielten Fußboden stehen. Das widerspricht
der rein bildkünstlerischen Tradition durchaus (denn die wenigen
Blätter, die eine sogenannte 'Brücke' zeigen, weisen doch zu einer
derartigen Dielung keinen Ansatz auf), es widerspricht auch den
übrigen, oben 'S. 423 f.) aufgezählten Bildern des anonymen Künstlers,
der sonst immer landschaftliche oder Zimmerhintergründe verwendet.
Da wir nun wissen, daß die öffentlichen Schauspiele gern auf
einem Bretterpodium abgehalten wurden, wird die Vermutung sich
wohl halten lassen, daß der Künstler hier tatsächUch versucht hat,
den Anblick, den die wirkliche Bühne bot, im Bilde wiederzugeben.
Freilich ist es merkwürdig, daß jene Dielung auch auf das durchaus
428
Theatersinn der Bilder zum Zehnalterspiel. Lokales.
untheatralische Titelbild mit den beiden Engeln übernommen ist
und daß bei der Szene des Fünfzigjährigen im Hintergrunde Sonne
und Mond am Himmel erscheinen; hier mag eine Reminiszenz des
Künstlers an jenen oben beschriebenen Holzschnitt aus der „Novella"
vorliegen, der dann freilich wesentlich älter sein müßte als der Druck,
in dem er erscheint, humerhin aber werden wir berechtigt sein,
tatsächlich für unsere Rekonstruktion der Aufführung in lokaler Hin-
sicht von den zehn Szenenbildern auszugehen und auch die Stellung
LXX.^oxMnUtlhtxmt
Abb. S'5. F. Gengenbach, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Siebzigjährigen.
der Personen auf den Bildern für eine Nachbildung ihrer Stellung
auf dem Baseler Theater anzusehen. Da erscheint nun der Um-
stand beachtenswert, daß der Einsiedler, der sich mit den Ver-
tretern der zehn Lebensalter der Reihe nach unterhält, auf den
Bildern immer links steht, während der andere Teilnehmer des
Gesprächs auf der rechten Seite sich befindet. Unmöglich also
kann es sich um einen Bühnenaufbau handeln, der jenen „Brücken"
nachgebildet wäre und die ersten fünf Lebensalter stufenweise
von links nach rechts oben aufsteigend, die übrigen dann wieder
nach rechts unten absteigend gruppiert zeigte, so daß also der Ein-
siedler herumkletternd zu jedem Einzelnen hätte herantreten
müssen.i)
1) Das ist die Vermutung von Baechtold, Gesch. d. deutsch. Lit. in der Schweiz,
S. 277.
Theatersinn der Rihier zum Zehnalterspiel. Lokales.
429
Viel richtiger ist Boltes Anschauung ^j: „ein Einsiedel schreitet
die Reihe der zehn Vertreter der Lebensalter ab, die gleich den Figuren
eines Bilderbogens auf dem Gerüste nebeneinander aufgestellt sind,
und knüpft mit jedem ein Gespräch an.'' Aber ganz korrekt scheint
auch sie mir nicht zu sein; ich meine vielmehr, daß jedesmal der
Betreffende, mit dem der Einsiedler sich unterreden will, einen
Schritt aus der Reihe der Genossen, in die er vorher eingeordnet
ist, dem Einsiedler entgegen tut- oder getan hat: sonst müßten wir
LXXX.jotBttmltmtt
Abb. by. P. Gengenbacb, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Achtzigjährigen.
auf den Bildern jedesmal im Hintergrund die ganze Reihe der noch
folgenden Männer erbUcken, während doch immer nur der eine
Sprecher zu sehen ist. Auch ist eine derartige Absonderung des
Einen aus dem großen Haufen durchaus notwendig, damit auch die
ferner stehenden Zuschauer erkennen konnten, mit w^em der Ein-
siedler sich gerade unterhielt. — Solcher Ausnutzung der Bilder
scheint allerdings noch ein Umstand zu widersprechen: im V. 64
des Spiels heißt es von den zehn Personen : Wie sie dan nach
ain ander ston, während das letzte Bild den Hundertjährigen auf
einem Ruhebette liegend zeigt. Indessen wird man den Ausdruck
stehen wohl so genau nicht genommen haben, und auch die
Worte des Greises (V. 794j: Min füs wend mich auch nümme
1) a. a. 0. S. XIX.
430
Bilder zum Zehnalterspiel: die Attribute der Darsteller.
tragen können doch ganz gut als eine Erklärung für den Um-
stand verwendet werden, daß er liegt und dem Einsiedler als Ein-
ziger nicht entgegen gehen kann. Im ganzen findet sich in lokaler
Hinsicht also kein Widerspruch zwischen dem Text und dem hier
angenommenen Theatersinn der Holzschnitte.
Und auch die Behandlung des zweiten Punktes, die Betrach-
tung der Attribute, die den sprechenden Personen auf den Bildern
beigefügt sind, führt uns darauf, daß wir hier viel eher als sonst-
X€.JjoniÖfrhinöfrf|jott
Abb. 90. P. Gengenbacli, Zehn Alter: Der Einsiedler mit dem Neunzigjährigen.
WO an eine Nachbildung der theatralischen Wirklichkeit denken
dürfen. Denn ganz deutlich stellt sich heraus, daß der Künstler
frei ist von dem Zwange der zeichnerischen Tradition. Die wich-
tigsten Attribute nämlich, die den Vertretern der zehn Lebensalter
auf 'all den oben aufgeführten, rein bildlichen Darstellungen bei-
gegeben sind, sind Tiere: Kalb und Bock und Löwe und Wolf und
Stier und Katze usw.'); nirgends fehlen sie, sogar bei de Bruyn
nicht, der doch sonst das Thema zur Darstellung einer Reihe in
sich vollständig geschlossener Genrebilder benutzt hat. Theatra-
lisch konnten diese Tiere natürlich nicht vorgeführt werden, und
so spricht es ganz deutlich für den Theatersinn der Gengenbach-
1) über diese volkskundlich sehr interessanten Beziehungen haben zuletzt Zaclier
und Matthias a. a. O. gehandelt.
Bilder zum Z(>lni.ilt('rs|)iel : dio Attril)iile tier I);irsteller.
431
sehen Bilder, daß sie liier fehlen, gerade so wie wir sie auf jener
Edhbachschen Handzeichnung des alten Züricher Spiels nicht ge-
troffen haben. Und höchst bezeichnend: auf den Bildern, die der
Augsburger Nachdruck des Gengenbachschen Stückes enthält, sind
die Tiere wieder beigegeben ; hier fehlt das Verständnis für die theatra-
lische Bedeutung der Illustrationen, und die rein bildmäßige Tra-
dition erweist sich alsbald wieder als übermächtig. Auch die
sonstigen Attribute, durch die die einzelnen Lebensalter charakte-
(E.^/ornungnoOöirgot
P. Gengenbach, Zehn AUer: Der Emsiedler luil dem Hunderljähiigen.
risiert werden, zeigen sich auf den Gengenbachschen Bildern unab-
hängig vom Zwange der bildenden Kunst. Es bestand keine ab-
solute Einförmigkeit; aber eine gewisse stereotype Art in der Aus-
stattung verschiedener Lebensalter liegt doch vor, wenngleich es
an Abweichungen, namentlich an einem Austausch der Attribute
unter den Nachbarn nicht ganz fehlt. So erhält das zehnjährige
Kind ein Spielzeug, zuerst einen Kreisel, später ein Steckenpferd;
der Zwanzigjährige trägt den Falken auf der Faust, der Dreißig-
jährige ist ein Soldat, der Vierzigjährige ein Feldherr, der Sechzig-
jährige hat die Geldtasche, der Siebzigjährige den Rosenkranz.
Mit beinahe keinem dieser Hauptcharakteristika stimmen die Gen-
genbachschen Bilder überein: wir finden weder das Kinderspiel-
432 Bilder zum Zehnalterspiel: Attribute, Maske, Kostüme.
zeug, noch den Falken, noch den Rosenkranz, noch das Soldaten-
tum des Dreißig- und Vierzigjährigen; wohl aber treffen wir selb-
ständige Attribute, die zu dem Wortlaut oder dem Sinn der
Reden stimmen, die Gengenbach seinen Personen in den Mund
legt. Der Zehnjährige hat schon den Würfelbecher, der Vierzig-
jährige eine Blume, der Siebzigjährige schmückt sich mit Ringen,
der Neunzigjährige, der kinder spott, trägt eine Rute zur Abwehr
der Höhnenden. Ein Zusammengehen mit der Haupttradition finden
wir eigentlich nur beim Sechzigjährigen, der auch auf dem Gengen-
bachschen Bilde mit der Geldtasche ausgestattet ist; das trifft aber
in diesem Falle durchaus mit dem Inhalt des Spiels und damit
wohl auch mit der Darstellung auf dem Theater zusammen, da der
Sechzigjährige als der typische Geizhals charakterisiert wird. Ähn-
lich steht es mit dem loseren Zusammenhang zwischen dem Bilder-
typus und der Darstellung des Neunzigjährigen in Gengenbachs
Druck: die Rute entspricht einigermaßen dem spottenden Kinde,
das die Zeichner bisweilen dem Alten beigeben, aber auch hier
braucht man nicht einen rein bildmäßigen Zusammenhang anzu-
nehmen. Endlich stimmt das Attribut des Dreißigjährigen bei Gen-
genbach mit demjenigen überein, das der Steinmetz von Anna-
berg seinem dreißigjährigen Manne in die Hand gegeben hat: es
ist der emporgehobene Becher; aber einmal fällt die Annaberger
Darstellung ihrerseits ganz aus der Tradition heraus, und ander-
seits entspricht Gengenbachs Darstellung durchaus einer im Text
(V. 275) gegebenen Situation : Ein frischen trunck den bring ich
dir sagt der Dreißigjährige zum Einsiedler. Auch hier also werden
wir wieder an das Streben des Baseler Künstlers nach Wieder-
gabe der wirklichen Aufführung glauben dürfen; übrigens zeigt
sich zum zweiten Male, daß jener Künstler des Augsburger Nach-
drucks mehr in die rein bildmäßige Tradition hinsichtlich der
Attribute sich einzuordnen sucht.
So dürfen wir nun schon mit einiger Sicherheit auch in der
Beantwortung der noch übrigen Fragen einen gewissen Theater-
sinn der Baseler Bilder voraussetzen. In bezug auf die Wahl
der Maske, d. h. die Frage: bärtig oder unbärtig scheint eine
Tradition in der bildenden Kunst nicht zu bestehen, und das Gleiche
gilt, soweit ich sehen kann, von den Kostümen. Wir müßten hier
also zunächst wieder die andern Holzschnitte des gleichen Meisters
heranziehen, um zu sehen, ob die Kleider, die er dort verwendet,
mit denen übereinstimmen, die wir auf den Bildern zu dem Spiel
von den zehn Altern treffen : eine solche Übereinstimmung würde
einen spezifisch theatralischen Sinn der Kostüme auf unsern Holz-
schnitten ja ziemlich ausschließen. Leider aber ist zur Durchfüh-
rung eines solchen Vergleiches nur wenig Material vorhanden, da
jene andern Bilder vorzugsweise Frauen und Geistliche vorführen.
Bilder zum Zehnalterspiel: Kostüme und Gesten. 433
Immerhin mag man bemerken, daß zwischen dem Rest und den
Bildern der „Zehn Alter" abgesehen von einigen Kopfbedeckungen
nur in einem Fall eine größere Ähnlichkeit herrscht: das Kostüm
des vierzigjährigen Mannes ist dem des Schreibers auf dem Holz-
schnitt der „Novella" sehr nahe verwandt.
Ebenso steht uns leider das Material fiir die Untersuchung der
letzten, hinsichtlich des Kostüms noch aufzuwerfenden Frage nicht
in genügendem Umfange zu Gebote: um zu unterscheiden, ob die
Figuren etwa einfach in die damals zu Basel üblichen Gewänder
gekleidet sind, fehlen unserer Untersuchung die in Basel bewahrten
Handzeichnungen dortiger Meister aus dem zweiten Jahrzehnt des
16. Jahrhunderts; hier müssen wir uns mit den wenigen aus da-
maliger Zeit erhaltenen Porträts und den auch nicht allzu er-
giebigen Skizzen begnügen, die Hans Holbein im Jahre 1515 in
sein Exemplar des Erasmischen „Encomium moriae" gezeichnet hat.
Soweit wir uns nach diesen wenigen Bildern ein Urteil erlauben dürfen,
stimmen die Kleider der „Zehn Alter" nicht mit den damals üb-
lichen Baseler Trachten überein; nur das Gewand des Vierzig-
jährigen hat auch hier wieder eine einigermaßen ähnliche Ent-
sprechung.ij Im übrigen haben die Trachten etwas entschieden
Altertümliches; so gleicht z. B. der Anzug des Zwanzigjährigen ziem-
lich der Jünglingstracht, die wir auf den Terenzbildern des aus-
gehenden 15. Jahrhunderts beobachtet haben. Zur Gewißheit ver-
mögen wir diese Hypothese nicht zu erheben; aber es ist ja auch
an sich nicht unwahrscheinhch, daß die Kostüme für die Auf-
führungen lange Jahre hindurch in Verwendung bheben, da sie nur
wenig abgenutzt wurden, und daß auf solche Art eine größere
Altertümlichkeit in die Theatertracht kam.2)
Wenn wir also in allen diesen Beziehungen einen wirkhchen
Theatersinn der Gengenbachschen Holzschnitte glauben behaupten
zu dlh'fen, so lockt schließlich auch der letzte Punkt, den wir noch zu
erörtern haben, die Behandlung der Handbewegungen, zu einer
ähnhchen Auffassung. Hier handelt es sich nicht sowohl um die
Darstellung der Vertreter der verschiedenen Lebensalter, obwohl auch
bei ihnen die stereotype Art, in der sie die rechte Hand mit oder
ohne das ihnen zugewiesene Attribut erhoben halten, einigermaßen
auffällt; hier ist es vielmehr der Einsiedler, dessen wechselnde
Gesten wirkhch dem Theater abgesehen zu sein scheinen. Zu-
nächst ist man versucht, die ungewöhnUche Größe dieser Gesten
theatrahsch auszudeuten: die Notwendigkeit, die Ausdrucksbe-
wegungen für jeden Zuschauer auf dem gewiß nicht kleinen Schau-
platz sichtbar zu machen, konnte leicht eine Steigerung auch der
1) Es findet sicli auf dem Bilde S. 12 der G. G. Becherschen Ausgabe des Enco-
mium moriae (Basel 1780).
2) Vgl. auch oben S. 406.
H e r r m a n n , Theater.
28
434 Bilder zum Zehnalterspiel: Gesten. Der „Nollhart".
einfachen Handbewegungen bis ins Unnatürliche zur Folge haben.
Hier mahnt aber doch unsere Betrachtungswelse, die immer die
übrigen Leistungen des gleichen Künstlers heranzuziehen sucht,
zur Vorsicht: jene merkwürdig weit ausholenden Bewegungen näm-
lich finden wir auch auf andern seiner Holzschnitte wieder, denen
bestimmt keinerlei theatralischer Sinn innewohnt. Etwas anderes
aber bleibt auffallend und ist wohl nicht rein durch zeichnerische
Gewohnheit zu erklären: ohne daß es der Sinn des Textes ver-
langte, zerfallen die Gebärden des Einsiedlers deutlich in zwei
Teile, von denen jeder fünf Bilder (15—50 und 60—100) umfaßt.
Auf den ersten fünf Holzschnitten agiert der Einsiedler immer nur
mit einer Hand : rein demonstrierend gegenüber dem Zehn- und
dem Fünfzigjährigen, mit anteilnahmevollem Zureden im Gespräch
mit dem Jüngling; dem Text entsprechend macht er gegenüber
dem Dreißigjährigen die heftig abwehrende Gebärde lebhafter Ent-
rüstung, während im Gespräch mit dem Vierzigjährigen nur eine
ruhige Sprechbewegung: der Arm ganz gesenkt zur Anwendung
kommt. Auf den folgenden Bildern dagegen sind die beiden Hände
des Einsiedlers in Aktion: dem Sechzigjährigen gegenüber schlägt er
beide Hände auseinander, als ob er sie dann wieder oben in der Luft
zusammenschlagen wollte, sichtlich die Gebärde des Entsetzens; auf
die Rede des Siebzigjährigen rauft er mit beiden Händen sein Haar, ob-
wohl seine Reden eigentlich gar nicht nach Verzweiflung klingen. Im
Dialog mit dem Achtzigjährigen senkt er beide Hände langsam
nach unten, auf dem nächsten Bild bekreuzigt er sich, um endlich
beim Anblick des Hundertjährigen die Hände zu falten. Auch in
diesen beiden letzten Fällen gibt der Inhalt des Dialogs zu solchen
Handbewegungen eigenthch keine Veranlassung. Wenn man nun
bedenkt, daß, wie wir in einem andern Teil dieser Untersuchungen
(S. 247 f.) gesehen haben, das Zusammenschlagen der Hände über
dem Kopf, das Haarraufen, das „Sich Gesegnen" und das Händefalten
typische Schauspielerbewegungen des 16. Jahrhunderts gewesen
sind, so werden wir wohl die Vermutung wagen dürfen, daß es
Gengenbachs Illustrator darauf angekommen ist, eben diese
typischen Theatergesten auf seinen Bildern anzubringen.
Es fragt sich nun, ob wir zu einem ähnlich positiven Ergebnis
gelangen werden, wenn wir gegenüber den Illustrationen zu dem
nächsten Gengenbachschen Drama die gleiche kritische Methode
anwenden. Das ist der „Nollhart", jenes seltsame Drama der Pro-
phezeihungen, dessen tiefster Sinn literarhistorisch noch immer
nicht zur Genüge erklärt ist. Wie das Titelblatt angibt, ist das
Stück zur Herrenfastnacht des Jahres 1517 gespielt^), und vermut-
1) Warum Creizenach 3, S. 240 1515 angibt, vermag ich nicht zu entscheiden.
Ambrosius Holbeins Holzschnitte zum „Nollhart". 435
lieh ist auch der Druck im gleichen Jahre besorgt worden : die Typen
sind mit den von Gengenbach um diese Zeit verwendeten durch-
aus identisch, und das Wasserzeichen des Papiers stimmt mit dem
der „Alda" vom Jahre 1517 überein. Ein ungleich größerer
Künstler als der, der für die „Zehn Alter" gearbeitet hat, hat die
neunzehn Holzschnitte zum „Nollhart" geschaffen, von denen der
des Titelblatts mit seinen wappenhaltenden Landsknechten für uns
wieder sofort ausscheidet. Dieser Meister ist, was die Literatur-
geschichte bisher merkwürdigerweise übersehen hat, kein geringerer
als Ambrosius Holbein; Woltmannsi) Ansetzung wird durch stilisti-
sche Vergleichung mit sicher beglaubigten Bildern durchaus be-
stätigt. Ambrosius Holbein kann die Aufführung des Spieles, dessen
Druck zu illustrieren er beauftragt wurde, ganz wohl mit ange-
sehen haben: am 24. Februar des Jahres 1517 bereits wurde er in
die Baseler Malerzunft „Zum Himmel" aufgenommen, eben in den
Tagen also, in denen der „Nollhart" zu Basel gespielt wurde.
So könnten wir also vielleicht auch hier hoffen, in den Holz-
schnitten ein Abbild der wirklichen Aufführung vor uns zu haben,
und manches scheint dafür zu sprechen, daß es sich in der Tat so
verhält. Der Umstand, daß die Gruppe der Fragenden stets auf
der rechten Seite, die der Antwortenden dagegen auf der linken
Seite der Bilder steht, könnte darauf deuten, daß der Meister nicht
rein zeichnerische Rücksichten bei der Anordnung seiner Figuren hat
walten lassen. Und noch auffallender ist es, daß die meisten der
Fragenden nicht allein auftreten, wie es die bloße Lektüre des
Textes würde vermuten lassen, daß vielmehr der Papst von einem
Kardinal und einem Herold, der Kaiser von einem Herold und
einem vornehmen Herrn, der König von Frankreich wiederum von
zwei Gestalten geleitet werden, daß neben dem Erzbischof von
Mainz, der allein redet, die Erzbischöfe von Köln und Trier stehen,
über die der Druck nichts angibt, daß ebenso der allein sprechende
Pfalzgraf bei Rhein neben den andern drei weltlichen Kurfürsten
erscheint. Das könnte der Künstler sehr wohl von dem wirklichen
Bühnenbild übernommen haben, da es auf dem Theater ja nahe
lag, die vornehmen Herren nicht allein auftreten zu lassen, son-
dern sie zur Veranschaulichung ihres Ranges mit einem Gefolge
oder mit ihren Standesgenossen zu versehen.
Etwas Zwingendes aber haben solche Argumente bei genauem
Zusehen ganz und gar nicht. Jene strikte Scheidung der Personen
in eine rechtsstehende Gruppe der Fragenden und eine linke der
Antwortenden wird wohl auf eine Nachahmung der Holzschnitte
der „Zehn Alter" zurückzuführen sein, deren Druck auch sonst dem
„Nollhart" äußerlich zum Vorbilde dient, um so mehr, als der erste, der
1) Holbein und seine Zeit, 2. Aufl. Bd. 2, S. 211 ff.
28*
436
Die NoUhartholzschnitte im bildkünstlerischen Zusammenhang.
auf der linken Seite erscheint, hier wie dort ein Einsiedler mit dem
Rosenkranz ist. Die Beiordnung von nicht unmittelbar gegebenen
Gestalten aber läßt sich auch rein künstlerisch erklären, wenn
wir andere, zweifellos theaterfremde Leistungen des Ambrosius
Holbein zum Vergleich heranziehen : auf dem berühmten Bilde der
Insel Utopia, auf seiner Darstellung von Lucretias Tod (1517), auf
seinen Beiträgen zur Illustration der Murnerschen „Gouchmat" läßt
sich das immer wieder beobachteten. Aber sogar noch deutlicher
vermögen wir zu zeigen, daß es sich bei dieser Personalvermehrung
nicht um etwas Theatralisches handelt, und zwar durch einen
Abb. 92. P. Gengenbach, Der Nollhart: Der Bruder mit dem König von Frankreich.
Nachweis, der auch sonst für die Auffassung dieser Holbeinschen
Bilder von Wichtigkeit ist. Der Künstler hat nämlich nicht unab-
hängig gearbeitet, sondern sich an die Holzschnitte eines älteren
Buches angelehnt, mit dem auch der Text des Spieles irgendwie
im Zusammenhang steht. Dieses Buch ist Johannes Lichtenbergers
„Practica", und zwar kommt höchst wahrscheinlich die Ausgabe in
Betracht, die in Straßburg 1499 gedruckt worden ist.^) Hier erscheint
(Bl. A8a) der Auskunft suchende Papst ebenfalls nicht allein, son-
dern mit seinen Kardinälen, ebenso (Bl. E 2a) der Kaiser mit meh-
reren Begleitern, weiter (Bl. C 8b) drei Bischöfe statt eines in einer
t) Exemplar in Berlin, Kgl. Bibl. Incun. 2549. Daß der I n halt dieser Lichtenberger-
schen Practica irgendwie mit Gengenbachs Spiel zusammenhängt, ist auch schon Goe-
deke aufgefallen (Pamphilus Gengenbach S. fiOfif.).
Die Nollhartholzschnitte im l)ii(ikiiiistleri.sclien Zusammenhang. 437
der Holbeinschen besonders ähnlichen Darstellung usw.: hier ge-
wann also Holbein die Anregung, nun fast überall die Personen
des Dramas mit Begleitern auszustatten, wozu er auch sonst schon,
wie wir sahen, rein künstlerisch geneigt war. Merkwürdig bleibt nur
ein Umstand: daß dem Papst, dem Kaiser, dem König von Frankreich
(vgl. Abb. 92) und dem „Venediger" auch ein Herold mit dem be-
treffenden Wappen beigegeben ist: wir haben gesehen, daß in
Hans Sachsschen Stücken der König gern „mit seinem Herold" auf-
tritt, und so könnte man in dieser Beigabe allenfalls auch bei Hol-
bein den Rest einer wirklichen Theaterreminiszenz erblicken. An-
derseits aber weist der Umstand, daß die Zahl der Begleiter nicht
gleich bleibt, sondern daß z. B. der Kaiser auf einem Bilde
mit zwei Begleitern, auf dem nächsten nur mit einem erscheint,
wiederum mehr auf rein bildkünstlerische Erwägungen: Raumfüllung
u. dgl. hin. Indem wir aber auf solche Weise die Nollhartbilder
ganz besonders deutlich in einen theaterfremden Zusammenhang
hineinsetzen konnten, werden sie uns nun weiter dadurch vollends
verdächtig, daß wir im Gegensatz zu den „Zehn Altern" land-
schaftlichen Vorder- und Hintergrund treffen, der ständig wechselt,
auch dort, wo der Ort der Handlung unmöglich verändert sein kann.
Auch hier ist also wieder rein künstlerisches Interesse in Frage
gekommen.
Zu einem gleich negativen Ergebnis gelangen wir, wenn wir uns
um die Attribute der vorgeführten Personen bemühen; besonders
deuthch wird das an der Gestalt der Sibylla. Die hier (Abb. 93, S. 438)
beigegebene reizvolle Darstellung ihres Gesprächs mit dem Papst ')
zeigt sie mit einem eigentümlichen Attribut ausgestattet : sie hält
in der erhobenen linken Hand einen Stern. Die Frage ist also,
ob wir aus unserm Bilde schließen dürfen, daß sie so auch 1517
auf den Baseler Brettern vorgeführt worden ist. An sich ist die
Verwendung eines Sterns im Zusammenhange mit der Sibylle nicht
befremdend: es handelt sich offenbar, obwohl das aus dem Text
nicht hervorgeht, um die Sibylle von Tibur, die der Legende nach
dem Kaiser Augustus die Geburt des Heilands ankündigte und da-
bei auf den Stern hinwies, der im Augenblick ihrer Prophezeiung
am Himmel sich zeigte. Diesen Stern aber ihr in die Hand zu
geben, bleibt doch ein eigentümliches Verfahren. Tatsächlich
können wir sonst in der bildenden Kunst diese Eigentümlichkeit
kaum wiederfinden; die gewöhnliche Darstellung ist die, daß Au-
gustus vor der Sibylle kniet; sie aber weist mit erhobener Hand
gen Himmel, wo entweder der Stern oder Maria mit dem Kinde
in Wolken sich zeigen. So ist es in der Darstellung des
„Meisters mit dem Namen Jesu", in dem großen Holzschnitt auf
1) Ebenso wie Abb. 92 nach dem Berliner Exemplar in Originalgröße.
438
Die Darstellung der Sibylle.
Blatt 327 a des „Gros Mistere du vieil testament par personages
joue ä Paris (Paris, J. Petit um 1500)i), wo dann auch in den fol-
genden zwölf kleinen Sibyllenbildern keine einzige einen Stern,
die Tiburtinische aber eine große Hand trägt, und in dem Nürnbergi-
schen „Schatzbehalter" vom Jahre 1491. Aber auch da, wo wir die
Darstellung der Sibylle auf dem mittelalterlichen Theater kon-
trollieren können, trägt sie keinen Stern in der Hand: weder in
dem Prophetenspiel aus Ronen 2), wo es von ihr nur heißt Coro-
nata et miiliebri habitii ornata, noch in dem ebenfalls in Ronen
Abb. 93. P. üengenbach, Der NoUhart : Papst und Sibylle.
1474 aufgeführten Weihnachtsspiel, wo die betreffende Bühnenan-
weisung eine wörtliche Übersetzung aus den „Vaticinia XII Sibil-
larum" bietet, in denen es heißt: Sibilla Tiiburtina annorum XX,
veste rubea induta, desuper ad collum pellem hyrcinam per scapulas
habens, capillis discopertis, brevem in manu tenens; auf diesem
Brief sollen die Worte stehen: Nascetiir Christus in Bethleemß)
Und auch im deutschen Drama finden wir das Gesuchte nicht;
im Benediktbeurer Weihnachtsspiel tritt die Sibylle ebenfalls auf,
und da sagt die szenische Anweisung -i): Tercio loco Sibylla gesti-
1) Ich benutzte das Exemplar der Universitätsbibliothek zu Bern.
2) Vgl. Sepet, Les prophetes du Christ (Paris 1878) S. 44.
ai Rolhsciiild, Le mistere du vieil testament (i (18911, S. LXVillf.
4) Froning, Das Drama des Mittelalters S. 878.
Die Darstelluiifr der Sibylle. Die „Goiichmat". 439
culose procedat, qiie inspiciendo stellam cum gesto mobili cantet."
Daß dieser Stern nicht auf ihrer Hand, sondern irgendwo in der
Höhe erscheint, geht aus den folgenden Szenen mit Deutlichkeit
hervor. Haben wir also hier auf dem Holbeinschen Bilde wirklich
eine Eigentümlichkeit der Baseler Aufführung? Jener Hinweis
auf die Benutzung der Holzschnitte zu Lichtenbergers Practica
durch Ambrosius Holbein gibt die Antwort in negativem Sinne.
Die in dem Straßburger Druck befindliche Darstellung der Si-
bylle, die Holbein freilich aus dem Plumpen ins Graziöseund Künst-
lerische erhoben hat, zeigt, daß es sich um einfache Herübernahme
einer Eigentümlichkeit der Vorlage handelt, die keinenfalls mit dem
Theater etwa zu schaffen hat.^) Ein ähnlicher Nachweis liei^e sich
für die Attribute der hl. Brigitte führen.2) Endlich scheint ein be-
sonders deutliches Symptom dafür, daß es dem Künstler nicht
darauf ankam, hinsichtlich der Attribute die Wirklichkeit der Auf-
führung nachzubilden, in der Tatsache hervorzutreten, daß der Papst
einmal mit einem Buch in der Hand, auf zwei andern Bildern da-
gegen ohne dasselbe vorgeführt wird.
Das dritte und letzte Gengenbachsche Drama, dessen Druck
mit Illustrationen versehen ist, ist die „Gouchmat"; ihre Bilder sind
in Könneckes großem Bilderatlas zur Geschichte der deutschen
Nationalliteratur reproduziert.
Auch hier muß unserer theatergeschichtlichen Untersuchung
die Feststellung des Datums vorangehen, das dem chronologisch
nicht näher gekennzeichneten Druck zukommt. Die Meinung, daß
das Drama ins Jahr 1516 gehöre, also dem „Nollhart" vorausgehe,
scheint noch immer nicht aus der Welt geschafft, obwohl Baechtold 3)
längst auf das Richtige hingewiesen hat. Eine bestimmte Stelle des
Werkes richtet sich gegen einen Astrologen und Praktikenmacher
jener Zeit, Lorenz Fries; die bekämpfte Schrift ist im November 1520
verfaßt, und Fries' Gegenangriff erfolgte im Jahre 1524: zwischen
diese beiden Termine also muß Gengenbachs ^iGouchmat" fallen.
Baechtold entscheidet sich für 1521 wegen der Anspielung auf eine
in dieses Jahr gehörige Schrift von Virdung; er betont ganz mit
Recht, daß sie schon darum nicht vor den „Nollhart" fallen kann, weil
1) Wenn wir dann in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts auf einem einzelnen
kleinen Holzschnitt des Meisters Wönsam von Worms (Berlin, Kgl. Kupferstichkabinett)
auch die Sibylle mit dem Stern und zwar für sich allein dargestellt finden, so handelt
es sich vermutlich um eine Arbeit, die sich unmittelbar an unsere Lichtenberger-Hol-
beinsche Tradition anschließt.
2) Über Brigittenbilder: Heiig a Brigittas Uppenbarelser utgifna af G. E. Klem ming 5
Stockholm 1883/4, S. 265ff.) und Flavigny, Sainte Brigitte (Paris 1892) S. Xlf ; We ige 1-
Zestermann a. a. 0. S. 71. 193.
3) Gesch. d. deutsch. Lit. in der Schweiz. S. 279 f.
440 Dis Bilder der „Gouchmat" und ihr Ursprung.
sie ihm gegenüber einen dramatischen Fortschritt bedeutet; er hätte
auch den Fortschritt in Gengenbachs allgemeiner Bildung betonen
können, den die „Gouchmat" bekundet. Jene Ansetzung ins Jahr
1521 aber läßt sich noch entschiedener sichern und genauer be-
stimmen, sobald wir das Holzschnittmaterial mit zur Kritik heran-
ziehen: der Drucker Gengenbach hat die Illustrationen seiner
Gouchmat ziemlich sinnlos als Buchschmuck späterer Erzeugnisse
seiner Offizin verwendet, und das erste Mal geschieht das in den
berühmten Drucken der „15 Bundesgenossen" von Eberlin von
Günzburg, deren erste Nummer im Januar 1521 erschienen ist.i)
Die „Gouchmat" ist also älter: das Drama muß, wenn wir den Ter-
minus ante quem non: November 1520 mit berücksichtigen, zur
Fastnacht 1521 aufgeführt und unmittelbar hinterher gedruckt
worden sein. 2)
Diese so notwendig gewordene Verlegung des Druckes in die
20 er Jahre aber erschwert uns die weitere Untersuchung ungemein,
da es vorläufig kaum möglich ist, die Baseler Holzschnittleistung
in dieser Periode auch nur einigermaßen zu überblicken. Wer
war der Künstler, der die Illustrationen zur „Gouchmat" hergestellt
hat? Könnecke nennt Hans Holbein den Älteren, aber er gibt
dafür keine Gründe an^), und es wird auch schwer sein, diese Hy-
pothese einleuchtend zu machen, da wir keinerlei Holzschnitte von
Hans Holbein zum Vergleich besitzen und da auf seinen Gemälden
nicht das geringste an diese Gouchmatbilder erinnert. Rührten
sie wirkhch von ihm her, so würden sie schon dadurch hin-
sichtlich der theatergeschichtlichen Werte stark verdächtig werden,
da uns nichts zu der Annahme berechtigt, Holbein habe sich in
dieser freilich ganz dunklen letzten Periode seines Lebens in Basel
aufgehalten. Wir müssen also diesmal darauf verzichten, andere,
nicht -theatralische Bilder des gleichen Meisters zur Kontrolle dieser
Dramenillustrationen heranzuziehen, und auch nach einer künst-
1) Vgl. J. Eberlin von Günzburg, Ausgew. Schriften her. v. L. Enders. Bd. 1 (Halle
1896), S. IV.
2) Die ältere Datierung 1516 stützt sich wohl auf die Beobachtung, daß die Bilder
auf dem Titelblatt der „Gouchmat", auf dem die Geschichte von vier Liebesnarren durch
Ambrosius Holbein dargestellt sind, sich auch auf datierten Drucken Gengenbachs vom Jahre
1517: der Alda des Guarini und dem Epodon des Horaz, finden. Indessen zwingt uns
nichts zu der Annahme, daß Holbein diese vier Darstellungen direkt für die Illustration
der „Gouchmat" geschaffen habe, an deren Ausstattung er sonst nicht beteiligt ist; er
mag sie für irgendeinen andern, vielleicht verlorenen Druck der Gengenbachschen
Werkstatt geliefert haben, angeregt offenbar durch eine Stelle in Gengenbachs „Zehn
Altern", wo eben diese vier Liebesnarren Salomon, Aristoteles, Vergil und Simson neben-
einander gestellt wurden (Vers 360 ff.). Ein paar Jahre später hat Gengenbach dann diese
älteren Stöcke für das Titelblatt seiner „Gouchmat" recht passend nochmals verwenden
können.
;M Ich habe mich zweimal brieflich an Herrn Geh. Rat K. mit der Bitte um Mit-
tellunj^ seiner Gründe gewendet, aber keine Antwort erhalten.
I)i(> Bilder der „Ooiicliriiat"
441
lerischen Vorlage für das ganze Werk, wie wir sie z. B. beim „Noll-
hart" getroffen haben, werden wir hier wohl vergeblich suchen.
Auch sind es diesmal nicht wie bei den älteren Dramen voll-
ständige Situationsbilder, die dem Text beigegeben sind; abgesehen
von sehr vielem arabeskenartige Buchschmuck, den Gengenbach
vermutlich schon früher verwendet oder von einer andern Druckerei
übernommen hat, sind für die Ausstattung vielmehr lediglich iso-
lierte Bilder der einzelnen auftretenden Personen geboten: Venus,
ihr Hofmeister, der Narr, Circis und Palestra und neben dieser
Herrin und ihrem Hofgesinde die Opfer der Liebesnarrheit, diese
allerdings in zwei Gestalten: erstlich wenn sie
in voller Pracht der Venus nahen, und dann
wenn sie gerupft und geknickt von dannen ziehen
müssen. So treffen wir den Jünghng, den Ehe-
mann, den Kriegsmann, den Doktor und den alten
Gouch. Freilich, die beiden Bilder des alten Gouchs
wollen nicht recht zueinander passen, und vom
Jüngling ist zunächst hier nur ein Bild da, das ihn
in vollem Schmuck zeigt und das für beide Situ-
ationen verwendet wird; der Künstler hatte offen-
bar beide Stöcke richtig abgeliefert, und der eine
war nur verlegt worden: er taucht dann später
1523 in einem Druck der „Novella", in dem eine
ganze Reihe der Gouchmatbilder ohne jeden Sinn
verwendet werden, mitten unter den andern auf,i)
und danach wird er hier (Abb. 95 und 96, S. 442)
zusammen mit dem ersten Bilde des Jünglings zur
Ergänzung der Könneckeschen Reihe reprodu-
ziert'-^). Es folgen dann noch, wieder nur in je
einer Gestalt, die Personen der letzten Hauptszene des Dramas:
Bauer und Bäuerin und endlich, was Könnecke nicht sagt, noch
ein Mönch mit dem Gouch vogel auf der Schulter.
Dieses letzte Bild (Abb. 97, S. 443) zeigt eigentlich schon, daß die
Bilder zur „Gouchmat" keinen spezifisch theatralischen Charakter
haben: denn dieser Mönch tritt im Stücke nicht auf, sondern der Hof-
meister erwähnt nur im Epilog, daß Mönche und Pfaffen auch gerne
auf die Gouchmat gingen. Immerhin bliebe noch die Möglichkeit,
daß hier nur ausnahmsweise einmal eine allgemeine Illustration
sonst rein theatralischen Bildern sich gesellt hätte. Aber unser
Verdacht steigt, wenn wir das erste der kleinen Bilder, Venus mit dem
Cupido, betrachten (vgl. Abb. 94). Zwar tritt auch Cupido redend auf,
aber eben deswegen kann der Künstler bei der Darstellung dieses
Abb. 94. P. Gengen-
bach, Gouchmat : Venus
mit Cupido.
1) Er steht auch in der Gengenbachschen Schrift „Von drien Christen", bl. B 2a.
2) Nach den Berliner Exemplaren in Originalgröße ; ebenso Abb. 94 und 97.
442
Die Bilder der „Gouchmat".
kleinen nackenden Knaben mit der Binde und dem gespannten Bogen
kein Abbild der theatralischen Wirklichkeit beabsichtigt haben : nicht
die Nacktheit spricht dagegen, denn dreißig Jahre später schreibt
noch Hans Sachs ausdrücklich vor, daß der Liebesgott nackt zu
erscheinen habe; wohl aber ist es unmöghch, daß ein so kleiner
Cupido, beinahe ein Säugling, auf die Bühne getreten sei. Dagegen
ist die Zusammenstellung der Venus mit dem noch ganz kindlichen
Liebesgott in der bildenden Kunst der Zeit behebt: bei Lukas
Cranach, bei Dürer, bei Beham, bei Brosamer tritt sie uns ent-
gegen, und aus solcher Tradition muß der anonyme Künstler der
„Gouchmat" geschöpft haben. Eine andere Gelegenheit , die ein-
zelnen Gestalten mit der künstlerischen Überlieferung des gleichen
Motivs zusammenzuhalten, liegt leider nicht vor.i)
Abb. 95 und 96. P. Gengenbach, Gouchmat : der Jüngling vor und nach dem Liebesspiel.
Es bleibt also nur noch die Möglichkeit, die Gestalten des Künst-
lers mit den Worten des Textes zu vergleichen, auf die doch die
Aufführung Rücksicht genommen haben muß. Und auch da finden
sich bedenkliche Abweichungen. So heißt es z. B. von dem Jüng-
ling V. 318, er trüge Rock hosen mantel und auch Dägen (vgl.
auch V. 367); nachher wird ihm angelegt (v. 352) ein zerrissen
hembd und zween bletzt hosen. Ein Blick auf unsere Bilder aber
zeigt, daß sie diesen Forderungen doch nicht recht entsprechen.
Nach V. 501 f., 511 f., 535 soll der Ehemann, wenn er auf den Plan
tritt, einen Rock, Ringe an den Fingern und einen Säckel tragen,
nachher mit einer alten Joppe, Bettlerschüssel, Wasserkrug und
Bettlerstab ausgerüstet sein. Auch hier geben die Bilder wieder
l) Die illustrierten Apuleius-Ausgaben, an die man für die Doktorepisode denken
könnte, bieten nichts.
Die Bilder der „Goiicliinat".
443
manches von dem Verlangten, anderes dagegen, darunter besonders
auffallend der Säckel , ist nicht zu finden. Ähnlich liegt das
Verhältnis auch für Kriegsmann, Doktor und alten Gouch, kurz, bei
allen Gestalten, bei denen uns der Dialog die Kontrolle des Kostüms
und der Attribute ermöglicht. Das Aufsetzen der Gouchfeder, das
V. 930 und 1102 geboten wird, suchen wir vergebens.
Umgekehrt bieten die Bilder uns hier und da zuviel, so daß
wir an der Möglichkeit der theatralischen Durchführung des be-
treffenden Kostümwechsels zweifeln müssen, der ja
doch in ganz kurzer Zeit und vor den Augen des
Publikums zu erfolgen hat. So wenn der Edelmann
als Bettler nun mit einem kranken und umwundenen
Bein vorgeführt wird, wenn der Kriegsmann ganz
überflüssigerweise auf dem zweiten Bilde andere
Hosen trägt und vor allem, wenn der Doktor ganz
und gar in einen Esel verwandelt wird : obwohl hier
(V. 965) der Narr mit zur Bewerkstelligung des Um-
kleidens herangezogen wird, kann es sich schwerlich
um mehr als eine bloße Andeutung des Eseltums
durch Eselsohren und Eselsschwanz gehandelt
haben. Offenbar sind wir hier vielmehr ganz auf
dem Gebiete der nichttheatralischen Illustration.
Der Künstler soll z. B. einen Bettler darstellen und
stattet sein Elend infolgedessen recht sinnfällig
mit dem lappenumwickelten Bein aus. Dabei läßt
es sich nicht verkennen, daß er ziemlich auf-
merksam den Text des Dramas gelesen und manche Andeutung
des Dialogs für Attribute und Kostüme verwertet hat.
Im ganzen ist aber unter den Attributen nichts, was auf eine
spezifisch theatralische Bedeutung schließen ließe und den Illustra-
tionen etwa eines epischen Gedichtes fremd geblieben wäre. Auch
daß Venus hier Szepter und Krone trägt, wird kaum besonders
auffallen, wenn wir diese Ausstattung auch nicht gerade wie die des
Liebesgottes in der Bildkunst sonst nachzuweisen vermögen. i)
Und auch das Kostüm hat im allgemeinen nichts besonders Auf-
fallendes. Der ganze Anzug des Jünglings findet sich fast genau
wieder in den Bildern des Baselers Hans Franck zu Geiler von
Kaisersberg, Brösamlin vffgelesen von Joh. Pauli (Straßburg 1517
bl. 79a), nur der Hut ist anders; einen ziemlich gleichen Hut aber
hat der neben dem jungen Manne stehende Krämer. Die gefalteten
Röcke, wie sie Venus und Circe tragen, finden wir in Holbeins
Zeichnungen zu Erasmus' Narrenbuch; auch die Darstellung des
Narren und des Ehemanns hat hinsichtlich des Kostüms hier man-
ches Analogon. Den eigenartigen Kopfschmuck der Venus sehen
1) Vgl. z. B. auch den Amor im Straßburger Horaz von 1498 fol. XXIV b.
Abb. 97. P. Gengen-
bach, Gouchmat.
444 D'6 Bilder des Gouchmat. Niklas Manuel.
wir auf dem Bilde der Ceres in der deutschen Übersetzung des
Erasmischen „Enchiridion", die im Jalire 1521 in Basel bei Curio ge-
druckt worden ist. Kurzum, es zeigt sich eine Verwendung des
Zeitkostüms, die wir in den Illustrationen jener Jahre und jener
Gegend so allgemein antreffen, daß wir ihr auf unsern Bildern
keinen speziell theatralischen Sinn beilegen dürfen. Einzig und
allein die Darstellung des Hofmeisters ist merkwürdig, und soviel ich
urteilen kann, ohne ein Seitenstück in der bildenden Kunst jener Zeit.
Im übrigen aber müssen wir den theatergeschichtlichen Wert
der Gouchmatbilder bestreiten.
Niklas Manuel.
Von Zürich und Basel kommen wir nun nach Bern und damit
zu ein paar Bildern, deren Ursprung gerade bei unserer Art der
Betrachtung von eigentümlichem Reiz ist ; erst ganz am Ende des
Jahrhunderts kehrt die gleiche Situation auf Tobias Stimmers Zeich-
nungen zu seiner Comedia wieder. Der Urheber der Bilder und
der Verfasser der zugehörigen dramatischen Dichtungen ist näm-
lich ein und dieselbe Person und auf beiden Gebieten ein Künstler
von Rang. Freilich: Niklas Manuel Deutsch ist den größeren Teil
seines Lebens hindurch lediglich Bildkünstler gewesen, erst in den
letzten Jahren führte er auch die Feder; so möchte man ohne Wei-
teres an eine Übermacht des Bildkünstlerischen in jenen Dar-
stellungen glauben und wenig geneigt sein, auch theatralische Ele-
mente in ihnen zu suchen; anderseits aber hat Manuel der Fast-
nachtschwankdichter zweifellos gerade zum reinen Theaterspiel
lebendige Beziehungen. Es wird also notwendig sein, auch den
beiden Blättern, um die es sich hier handelt, mit den gewohnten
kritischen Erwägungen gegenüberzutreten, Anno 1522 vff der
alten Faßnacht, d. h. am 5. März wurde zu Bern Manuels kurzer
Faßnachi schimpff gespielt, in dem zwei Bauern sich über den
in zwei Aufzügen vorgeführten Gegensatz zwischen Christus
und dem Papst tendenziös unterhalten; im Mai 1524 wurde das
Spiel zusammen mit dem viel längeren vom Papst und seiner
Priesterschaft, das eine Woche vor jenem uff der Herren Faßnacht
zur Aufführung gekommen war, unter die Presse gegeben. Dieser
erste Druck i) enthält so wenig wie seine Nachfolger 2) etwas für
unsere Zwecke, denn die beiden Bauern Fläiwe Pflug und Rüede
Vogelnest, die da vor dem Anfang des kürzeren Spiels von zwei
gesonderten Holzstöcken abgedruckt sind, sind solche Dutzend-
ware, daß sie unmöglich als Abbildungen zweier Darsteller be-
1) Ich durfte das Exemplar der Weimarer Bibliothek durch die Freundlichkeit der
Direktion hier in Berlin benutzen.
21 Bibliofrraphie l)ei J. Baechtold, N. Manuel (Frauenield 1878) S. CXLlff. Er-
gänzungen und Berichtigungen bei F. Burg, Dichtungen des Niclaus Manuel: Neues Berner
Taschenbuch auf d. .1. 1897, S. 1 — 136; bes. S. 12] ff.
„Des Papsts und Cliristi Gegensatz": Spiel und Zeichnung.
445
trachtet werden können; an die Autor-
schaft Manuels wird niemand glauben,
ganz abgesehen davon, daß er über-
haupt fast gar nicht für den Holzschnitt
gearbeitet zu haben scheint. Das Mate-
rial unserer kritischen Betrachtung kann
vielmehr nur die hier (Abb. 98) zum
erstenmal vervielfältigte Federzeichnung
seini), die als unzweifelhaftes Eigentum
Manuels durch sein Handzeichen oder Mo-
nogramm freilich nicht nachgewiesen wird,
aber so deutlich seine Art zeigt, daß sie
ihm noch niemand abgesprochen hat.
„Manuel illustrierte 15242) sein Spiel
selbst", so sagt der Herausgeber Baechtold
mit Bezug auf unsere Zeichnung'^). So
ganz unbestritten wie die Zuweisung des
Blattes zu Manuels Arbeiten werden wir
indessen diese Erklärung nicht hinnehmen
können ; der Nachweis ihrer Unrichtigkeit
aber würde das Blatt völlig aus dem Zu-
sammenhang unserer Betrachtung heraus-
rücken. Tatsächlich ist ja 1524, nach mehr-
maliger Umarbeitung des Textes, die
Drucklegung der beiden Spiele erfolgt;
aber für diesen Druck ist die Zeichnung
schwerlich bestimmt gewesen, denn die
erste Auflage ist gerade so wie fast alles,
was Manuel selbst unter die Presse ge-
geben hat, in Oktavformat gehalten; die
Zeichnung dagegen wäre auch für einen
Quartdruck noch bei weitem zu groß, und
an eine wesentliche Verkleinerung bei
der Übertragung in den Holzschnitt wird
f-
\) Sie befindet sich in der Kupferstichsammhing
der Erlanger Universitätsbibliothek unter der Signatur
IE 7; unsere Reproduktion (Originalgröße) geht auf eine
Aufnahme von F. Steffen in Erlangen zurück. Baechtold
p. CXXXVIl gibt eine irreführende Beschreibung; besser,
wenn auch nicht völlig einwandfrei, die Angaben
von Haendcke, Nikolaus Manuel Deutsch als Künstler
<Frauenfeld 1889) S. 95.
2) Diese Zahl steht auf der Sänfte des Papstes.
3) Ebenso Vögel in in Baechtolds Ausgabe S.
CXX; bei Haendcke, S. 95, heißt es von der Zeich-
nung gar, daß sie „das Titelbild zu Manuels Dichtung
bildete".
.*;;
4
1a
446 "Des Papsts und Christi Gegensatz" : Spiel und Zeichnung.
man angesichts der so schon minimalen Größe der Einzel-
heiten in der Zeichnung nicht denken. So bhebe nur die Mög-
lichkeit, daß sie nicht für einen Druck, sondern für eine Hand-
schrift angefertigt ist; und daß wir uns mit einer solchen An-
nahme nicht bloß auf dem Boden reiner Hypothese befinden,
zeigt das gleich weiter heranzuziehende Manuskript des „Ablaß-
krämers" v. J. 1525: dies enthält ebenfalls eine Manuelsche Zeich-
nung und hat großes Format.
Dieser äußeren Möglichkeit aber entspricht zunächst keine
innere Wahrscheinlichkeit. Bei einigermaßen genauem Zusehen
zeigt sich nämlich, daß Zeichnung und Dichtung eigenthch gar
nicht dasselbe darstellen.i) Auf der Zeichnung werden gerade wie
auf einem Doppelbild inL.Cranachs„Passional Christi undAntichristi"
der hoffärtige Aufzug des Papstes und Christi demütiger Einzug
in Jerusalem einander entgegengesetzt; die heihge Stadt ist auf Ma-
nuels Bild durch den biblischen Palmbaum angedeutet und durch
das Kleiderausbreiten der begrüßenden Bürger, während bei Cra-
nach der Moment vor dem Einzug gewählt und durch das offene
Stadttor gekennzeichnet ist. Daß das Fastnachtspiel durch das
gleiche CranachschePassional angeregt ist, soll gewiß nicht geleugnet
werden; aber hier spielt die Szene auf der Gasse zu Bern oder
doch einer Stadt des 16. Jahrhunderts, hier gibt es keinen Palmbaum
und keine kleiderbreitenden Bürger; daß der in Jerusalem ein-
reitende Christus im Spiel nicht gemeint sein kann, geht auch daraus
hervor, daß er hier nach der Bühnenbemerkung vff sinem houpt die
dörnin krön trägt, während die Zeichnung ihm nur die Strahlenkrone
gibt. Gehen wir ferner umgekehrt von der Situation des Spieles
aus, so wie sie uns durch die szenischen Anweisungen des Textes
erkennbar werden soll, so läßt sich freilich nicht verkennen, daß
sie uns zu einer völligen Deutlichkeit nicht verhelfen. Vff einer
syten der gassen reitet der Herr, und hinter ihm schreitet sein
bresthaftes Gefolge, vff der anderen syten reyt der Bapsi mit
seinem Kriegszug — wo stehen da die beiden Bauern, die einzigen
redenden Personen? Doch wohl zwischen den beiden sich anein-
ander vorbeibewegenden Zügen — aber wo war ein Platz, auf dem
sie zwischen den Zügen sichtbar blieben ? Standen sie auf einem
erhöhten Gerüst? oder sind die Zuschauer nur an den Fenstern und
auf den Dächern gewesen? Das wird, wie gesagt, aus dem Spiele
selbst nicht klar — aber das eine ist jedenfalls deutlich, daß die
Anordnung keinesfalls so gewesen sein kann, wie die Zeichnung
sie zeigt: hier ist für die beiden Sprecher überhaupt kein Platz,
hier ziehen die beiden Züge nicht aneinander vorbei, sondern aufein-
1) Der Vergleich wird da(hirch erschwert, daß wir nicht mehr die Originalfassung des
Spiels besitzen, sondern nur die stark verändernde Umarbeitung v. J. 1524 und ein bei
Burg S. 55 bis (il gedrucktes F'ragment einer Zwischenfassung v. J. 1523.
„Des Papsts und Christi Gegensatz": Spiel und Zeichnung. 447
ander los, und völlig unfaßbar bleibt es, sobald man an eine tat-
sächliche Raumnachahmung denkt, wie die beiden Christus huldi-
genden Bürger an ihren Platz gekommen sind: das kann keiner
theatralischen Wirklichkeit entsprechen. Die Widersprüche zwischen
Bild und Spiel häufen sich, sobald wir die Vergleichung im einzelnen
fortsetzen. Das Bild läßt die armen blinden, lamen und mancher-
lei; bresthaftigen, die die szenische Bemerkung vorschreibt, völlig
vermissen; Petrus, der alt glatzet fischer ist, wie aus der Frage
des einen Bauern hervorgeht, bei der Aufführung direkt neben
Christi Esel geschritten, — auf der Zeichnung befindet er sich
mitten unter den Jüngern, und diese folgen dem Herrn hier nicht
schreitend im Zuge, sondern bilden hinter ihm eine stehende Gruppe,
das Gesicht zum Teil völlig von Christus abgewandt. Und ähn-
lich widerspruchsvoll auf der andern Seite: im Spiel reyt der Bapst
im hämisch und mit grossem kriegßziig, und auch von seinem
Gefolge hören wir Genaueres durch die in ihrem Anfang leider ver-
stümmelte szenische Anweisung, die die fragmentarisch auf uns
gekommene Handschrift der der gedruckten Fassung vorausliegenden
Umarbeitung d. J. 1523 bietet i): och Cardinal, bischoff und pfaffen
in harnesch und hochen pferden geritten mit kiirisser strodiotten
och Carthonen j schlangen und ander feld geschützt, huren vh hüben
drömeten pfiffen, wie man zii feld zucht mit dross vnd paner
das die gassen erbidmet. Nicht nur sehen wir von diesem Ge-
folge auf dem Bilde gar nichts, statt dessen vielmehr nur eine
Anzahl der im Spiel nicht genannten schweizerischen Landsknechte,
sondern vor allem: der Papst ist hier nicht im Harnisch, sondern
im geisthchen Ornat und reitet auch nicht, sondern wird in einer
Sänfte getragen.
Nach alledem erscheint es durchaus zweifelhaft, ob wir das
Recht haben, einen so nahen Zusammenhang zwischen Bild und
Spiel zu behaupten, wie es bisher geschehen ist. Es mag sich bei
der Zeichnung um eine im Grunde selbständige Arbeit handeln, die
nur im Grundmotiv mit dem älteren Spiel oder richtiger zunächst
mit dem Cranachschen Werk zusammenhing, das zu dem Spiel die
Anregung gegeben : die einzige antipapistische Zeichnung Manuels
aus dieser Zeit wäre es nicht.2) Das eigentümliche Format der
Zeichnung macht vielleicht die Vermutung nicht ganz unwahr-
scheinlich, daß sie eine Skizze zu Fresken darstellen könnte, die
im Dienste der Architektur verwendet werden sollte; solche Haus-
verzierungen hat Manuel ja öfter hergestellt und auch bei ihnen
seiner Neigung zum Tendenziösen die Zügel schießen lassen.
Immerhin : dem Künstler mußte bei dieser Arbeit unbe-
1) Burg a. a. 0. S. 55.
2) Vgl. Haendcke S. 96{.; Vögelin S. LXXVI.
448 „Des Papsts und Christi Gegensatz": Spiel und Zeichnung.
dingt sein nicht lange vorher verfaßtes und eben damals mehrfach
von ihm überarbeitetes Fastnachtspiel im Sinne liegen, und so
kommen wir leicht auf den Gedanken, daß ihm bei der Herstellung
der Zeichnung Erinnerungen an die Aufführung des Spiels ge-
kommen und auf solche Art durch unser Blatt überliefert sein
könnten. Aber auch für eine solche Annahme läßt sich die Un-
haltbarkeit nachweisen. Gedichtet ist das Spiel jedenfalls
zwischen dem Juni 1521 — denn damals frühestens kann Manuel
Cranachs Passional in die Hände bekommen habend) — und An-
fang Dezember des gleichen Jahres — denn der Papst, der mit
einem kriegerischen Gefolge im Harnisch einherreitet, kann nur
Leo X. sein, der wenigstens als Kardinal noch hoch zu Roß im
Schlachtgetümmel gewesen ist, während seine Nachfolger fried-
liche Leute waren2); Leo X. aber ist am 1. Dezember nach ganz kurzer
Krankheit gestorben. Aufgeführt jedoch wurde das Spiel, wie schon
erwähnt, zu Bern am 5. März 1522, und damals befand Manuel sich
als Feldschreiber im französischen Sold in Italien^); er hat die Auf-
führung also nicht mit angesehen und demnach keine Erinnerungen
an die Inszenierung in seine Zeichnung hinübernehmen können.
Es bleibt also nur ein letzter Schlupfwinkel für den, der das
Vorhandensein theatralischer Elemente auf der Zeichnung behaupten
will: er muß annehmen, daß Manuel seine theatralische Phantasie
mit in Tätigkeit gesetzt, auf die Vorstellung hingedeutet habe,
die er sich von der Aufführung seines Spieles machte. Aber auch
dafür ist kaum ein Anhalt, ganz abgesehen von den wesentlichen
Unterschieden zwischen Spiel und Bild, die oben schon nach-
gewiesen wurden. Denn so ziemlich alles, was wir hier sehen, läßt
sich rein aus bildkünstlerischen Elementen erklären. Zunächst aus
dem Zusammenhang mit andern bildnerischen Darstellungen, der
ja bei einem so anlehnungsfrohen Künstler wie Manuel besonders in
Betracht zu ziehen ist. Gewiß hat er zunächst Cranachs Passional
wieder vorgenommen: die dem Papstzuge voranschreitenden
Schweizer stammen, wenn auch die Ausgestaltung im einzelnen selb-
ständig ist, von dem nämlichen Holzschnitt, der einst die Anregung
zu dem Fastnachtspiel gegeben hatte ; der Zug selber aber mußte, wie
wir sahen, jetzt ohne kriegerischen Grundcharakter, vornehmlich
1) Erschienen ist das Passional Ende Mai: Kawerau in der Weimarer Lutheraus-
gabe 9 (1893), S. 689.
2) So zeigt denn auch unsere Zeichnung v. J. 1524 den Papst nicht mehr als
Krieger, sondern in einem Aufzuge, in dem man ihn noch heutigentags darstellen
könnte.
3j Ende Januar bis Ende April; s. Baechtold S. XXVlllt. Es geht also auch nicht wohl
an, mit Creizenach (3, S. 256) die Berner Aufführung zu den wenigen belegbaren
Fällen zu zählen, in denen „ein Maler bei der Inszenierung von Fastnachtspielen in
hervorragender Weise beteiligt" war.
Manuels Zeichnun{r und die bildkünstlerische Tradition. 449
ohne das Reiten des Kirchenfürsten gebildet werden, und so ent-
nahm Manuel das neue Grundmotiv der Sänfte, in der der Papst
mit dem Krummstab in der Hand von links nach rechts getragen
wird, einem vorangehenden Cranachschen Holzschnitt, nur daß er
zu Trägern nicht wie Cranach Geistliche, sondern Schweizer ver-
wendete. Aber auch der Zug Christi ist von Cranach abhängig
und zwar wiederum von dem zunächst in Betracht kommenden
Bilde. Von hier stammt des Heilands scharf nach links profilierte
Gestalt, die mit der Gloriole ums Haupt auf dem Esel sitzt und
segnend die eine Hand hebt, von hier aber auch jener Haufe der
Jünger hinter dem Herrn. Daß sie nicht im Zuge folgen, sondern
sich miteinander unterhalten, wobei mehrere Christus den Rücken
kehren und zwar namentlich ein Alter, der geradeso wie der eine
Greis bei Manuel hart neben dem Esel steht, ist bei Cranach inner-
hch wohlbegründet: denn hier wartet der ganze Zug offenbar
einen Augenblick, ehe er sich durch das Tor in die Stadt begibt;
bei Manuel ist diese Anordnung ziemlich sinnlos, da bei ihm der Zug
sich ja in voller Entfaltung innerhalb der Stadt befindet : hier han-
delt es sich um keine Theaterphantasie, sondern lediglich um eine
recht äußerliche Herübernahme der Cranachschen Gruppierung.
Es stimmen nun schon bei Cranach wesentUche Züge mit der in der
bildkünstlerischen Tradition des Stoffes herrschenden Auffassung
überein, sowohl solche, die Manuel verschmäht — z. B. die Ver-
legung der Szene unmittelbar ans Tor der Stadt (Schongauer,
Dürer"^ Meister J. A., Meister M. J., Altdorfer, Schäufelin, Penz u.a.)
und die Beigabe eines Eselfohlens zu der Esehn (Meister J. A.) — ,
wie solche, die Manuel übernimmt: das scharfe Profil, die Gloriole,
die Segensgebärde, die Anordnung der Jünger hinter Christus zu
einer stehenden Gruppe, lauter Züge, die sich alle z. B. in Dürers
Kleiner Passion (um 1510) finden; aber auch in den Zutaten, die
Manuel bietet, ohne daß er sie von Cranach übernommen haben
könnte, ist die bildkünstlerische ÜberHeferung mächtig. So zeigt
z. B. Dürer die Gestalt des Bürgers, der sich unmittelbar vor der
Eselin niederbückt, um ein Gewand auf den Boden zu breiten,
und neben ihr steht, wie bei Manuel, ein anderer Bürger aufrecht
und grüßt den Herrn mit einer Devotionsgebärde; im Hintergrund
wächst bei Dürer wie bei Manuel ein Palmenbaum, von dem eben
ein Zweig abgerissen wird. Kurz, Manuel erscheint in allen Mo-
tiven so an die rein bildnerische Tradition gebunden, daß sich
hier nichts wird fürs Theater in Anspruch nehmen lassen. Aber
auch das endlich, was ihm gegenüber solcher Einstellung in die
Überlieferung eigentümlich zugehört, ist offcxibar ganz von den Ge-
setzen seines bildkünstlerischen Schaffens bedingt: die friesartige
Anordnung des Ganzen — man findet sie in den Silberstift- und
Weißstiftzeichnungen seiner beiden „Schreibbüchlein" immer wieder
29
H e r r in a II n , Theater.
450 Manuels „Ablaßkrämer".
durchgeführt i) — und die Anordnung der Figuren ; so stellt er z. B.
links hinler die Sänfte des Papstes Personen seines Gefolges, die
gerade wie die Jünger hinter Christus nicht marschieren, sondern
stehen, indem sie die Gesichter einander zuwenden, und bringt in
die Mitte des Ganzen eine Figur, die zwischen den beiden Auf-
zügen vermittelt : einen Schweizer, der durch seine Tracht zu dem
Papstaufzuge gehört, der aber keine Hellebarde führt wie seine
Genossen, sondern ein Becken hochhält und sich dadurch mit den
beiden Christus huldigenden Bürgern zu einer den Bhck von ganz
oben nach ganz unten lenkenden Gruppe zusammenfügt. Und so ist in
der ganzen Zeichnung kein einziges Element, das wir auch nur
für einen Abglanz theatermäßiger Anschauung in Anspruch nehmen
könnten.
Wenn wir hiervon vornherein den engen Zusammenhang von Bild
und Dichtung leugnen mußten, so ist das bei der zweiten in Be-
tracht kommenden Zeichnung Manuels, bei seinem „Ablaßkrämer",
ganz anders: sie ist, wie schon erwähnt, in der vom Dichter her-
rührenden Niederschrift seines Spiels zu finden und bildet hier das
Titelbild (Abb. 99). 2) Die Dichtung zerlegt sich in vier Szenen: in der
ersten hat der Ablaßkrämer Richardus Hinterlist ein Gespräch mit
dem Bauern Bertschi Schüchdenbrunnen, dem Bettler Steffen Gigen-
stern und drei Weibern , Zilia Nasentutter, Anne Suwrüssel und Trine
Filzbengel — er will sie zum Ablaßkauf bringen, sie werfen ihm
seine alten Betrügereien vor; in der zweiten Szene gehen sie vom
Wort zur Tat über — sie ziehen ihn am Seile hoch und „strecken"
ihn, um ihn durch diese Folterqual zum Bekenntnis seiner Schänd-
lichkeiten zu bringen, und er gesteht auch, aber nicht genug, so
daß sie ihn in der dritten Szene noch einmal hochziehen, wobei
ihm ein viertes Weib, Agnes Ribdenpfeffer, Steine an die Füße
hängt, um die Qual zu erhöhen, — nun bekennt er den Peinigern
alles, unter denen noch drei Weiber, Tüchtle Kröstüchle, Hiltgart
Kuttelpfeffer und Adelheid Stifelhirne erscheinen; schließlich nehmen
sie ihm sein Geld und teilen es, wobei der Bettler das Über-
schüssige erhält. Das Bild gehört, wie man sieht, zu der dritten
Szene, in der die Peinigung des Streckens durch die Beschwerung
der Füße erhöht wird.
1) Zwei Schreibbüchlein des Nikiaus Manuel Deutsch von Bern, her. v. P. Gang-
Berlin 1909).
2) Bl. 2; auf Bl. 3 beginnt der Text. Die Zeichnung- ist S. 451, und zwar in Original-
größe, zum erstenmal veröffentliclit, nach einer Aufnalune, die das Atelier H. Vöilger in
Bern hergestellt hat. Für freundliche Vermittlung bin ich der dortigen Stadtbibliothek
sehr zu Dank verpflichtet, in defen Besitz sich die Handschrift jetzt als Ms. Hist. Helv.
XVi. 159 befindet. Bis vor kurzem -war sie Eigentum zweier Fräulein Manuel in Bern;
Herr Prof. Dr. F. Vetter hat die große Güte gehabt, seine Bleistiftkopie der M.schen
Zeichnung s(!hr lange Zeit in meinem Besitz zu lassen.
Manuels Zeichnung zum „Ablaßkrämer".
451
Abb. 99. N. Manuel, Federzeichnung: Der Ablaßkrämer.
29*
452 Der „Ablaßkrämer", ursprünglich Theaterstück, später Dialog.
Dürfen wir in dieser Zeichnung nun Aufführungselemente
suchen? Man würde diese Möghchkeit ausschheßen, wenn man
den „Ablaßkrämer" von vornherein gar nicht für ein Theaterstück, ja,
nicht für ein Drama, sondern für einen bloßen Dialog im Stile
jener damals viel gepflegten Kampfliteratur erklärte, in dem also
nur aus formalen Gründen Rede und Gegenrede geboten wird. In
Manuels nächstem Werk, der 1526 gedruckten „Barbali", ist das
sicher der Fall; Manuel selbst bezeichnet es auf dem Titelblatt als
Ein gespräch. An sich ist es gewiß nicht unmöglich, daß der
„Ablaßkrämer" von 1525 schon zu dieser Gattung der Gespräche ge-
hört, aber man kann das nicht mit der Erklärung beweisen : „wäh-
rend die vorerwähnten zwei Spiele sehr reichlich mit Bühnenan-
weisungen ausgestattet sind, fehlen diese beim Ablaßkrämer gänz-
hch."i) Sie sind im Gegenteil hier mindestens ebenso reichlich
wie dort vertreten; nur im Anfang allerdings fehlt beim „Ablaß-
ki-ämer" jede szenische Bemerkung. Das aber wird so zusammen-
hängen, daß der Verfasser im J. 1525 seine ursprüngliche Arbeit
nachträglich ebenso wie die beiden Papstspiele stark überarbeitet
und namentlich eine viel ausführlichere Eingangszene hinzugefügt
haben muß ; als Landvogt in dem kleinen Erlach aber hat er nun-
mehr schwerlich an eine wirkliche Aufführung gedacht, und so ist
die theatralische Situation im Anfang unerläutert geblieben. Das
Werkchen vor seiner Überarbeitung aber war zweifelsohne ein
richtiges, für die Aufführung bestimmtes Theaterstück, dessen
Thema der jetzige Vers 509 in den Worten des Ablaßkrämers an-
gibt: Der tüfel het mich ander die wiber tragen! Eine richtige
Fastnachtspielrevue also mit einem Zentrum : der Ablaßkrämer, der
unter die rabiaten Weiber gerät — es sind, wie wir aus der jetzt
verwischten Form doch noch herausrechnen können, die typi-
schen sieben Weiber gewesen — ^): sie strecken ihn, nehmen ihm
das Geld ab und geben den Überschuß dem in der letzten Szene
auch des jetzigen Manuskripts noch namenlosen Bettler. Dies
drastische kleine Spiel, von dem sich in den kurzen Reden der zu-
letzt auftretenden Weiber noch einige Reste erhalten haben, hat
Manuel nun, um längere Ausführungen über den Ablaß geben zu
können, sehr stark beeinträchtigt: er hat den Bettler auch schon
in die früheren Szenen des Stückes gebracht, indem er ihm aus dem
am Ende der Handschrift, das am meisten Reste des alten enthält,
einmal stehengebliebenen ursprünglichen Namen des Ablaßkrämers
Rychardiis Gygenstern von HinderlisO) den Namen Gygenstern
zuweist, und er hat ihm ferner in dem Bauern Bertschi
1) Creizenach 3, S. 257.
2) Man vergleiche etwa das spälmiltelalierliche Spiel von den sieben Weibern:
Creizenach 1 '■', S. 410.
Die Zeiclinung zum untheatralischen Dialog gehörig. 453
Schüchdenbrunnen einen männlichen Genossen gegeben. Auf sol-
che Art ist aber der Charakter des Weiberspiels ganz verwischt,
und die durch den Bauern erzwungenen Bekenntnisse des Ablaß-
krämers über seine intimen Erlebnisse mit Bäuerinnen haben in
diesem Milieu etwas völlig Sinnloses. Die erste Fassung aber
hatte auch einen Zug gehabt, der speziell erfunden war, um die
Aufführung zu ermöglichen; er ergibt sich aus der szeni-
schen Bemerkung, die auch jetzt noch in Manuels Handschrift
steht, vor dem Beginn des ersten „Streckens" 2); Sie namend in
gemeinlich und schlugend in zu der erden mit kellen, kunklen,
schüren; und ein alt bös wib lü ff dar zu mit einer rostigen
alten hallenbarten, und bundend im hend und füess, zugend
in an einem seil hoch vf in aller wis, form und gestalt, wie man
ein mörder streckt . . Diese Hellebarde, die ja ziemlich drei Meter
lang sein kann, ist offenbar eingeführt worden, um bei der Auf-
führung das Aufziehen und Strecken des armen Sünders zu ermög-
hchen: um die Barte sollte das Seil gelegt werden, an das der Dar-
steller des Krämers mit seinen gefesselten Händen gebunden werden
mußte, und ein paar von den Frauendarstellern hatten den fest
auf den Boden gepflanzten Hellebardenschaft und das andere Ende
des Seils zu halten.3)
Unsere Zeichnung aber gehört offensichtlich nicht zu der ersten
Fassung, die für die Aufführung einmal bestimmt gewiesen war,
wenngleich eine solche sich hier nicht wie bei den Papstspielen
belegen läßt, sondern zu der Überarbeitung des Jahres 1525.
Der Charakter des Weiberspiels tritt gar nicht mehr hervor: abgesehen
von dem Volkshaufen, der nichts deutlich Feminines an sich hat,
und dem hängenden Richardus sind drei Weiber (Zilia Nasentutter,
Anne Suwrüssel und vorn rechts Agnes Ribdenpfeffer) und zwei
Männer (der Bauer und der Bettler) zu sehen. Die Hauptsache
aber für unsern Zusammenhang ist die: Manuel hat seit der Zeit der
Abfassung des ursprünglichen Spiels den theatralischen Sinn der
Hellebarde vöUig vergessen; so hält hier Zilia Nasentutter die Waffe
in der Hand, ebenso wie Frau Suwrüssel einen Ablaßbrief (nicht die
vor v. 193 genannten grosse kellen), Richardus Hinterlist aber
1) vor V. 509: vgl. Baechtold im Apparat zu seiner Ausgabe S. 417.
2) Vor V. 284.
3) Gerade diese szenische Bemerkung zeigt uns besonders deutlich die Naht der
beiden Fassungen: während hier in dem übernommenen Rudiment der Urfassung ein
alt bös wib mit der Hellebarde erst da zu läuft, ist die Frau in der Bearbeitung schon
lange Zeit auf der Bühne und am Dialog stark beteiligt, denn schon vor v. 53 steht:
Die pürin Zilia Nasentutter mit der rostigen Hallenbarten : Manuel hat also gerade
dieser Figur bei der nachträglichen Vergrößerung der ersten Szene eine besonders be-
deutende Rolle gegeben, dann aber verabsäumt, die Bühnenanweisung entsprechend zu
verändern.
454 Augustin Fließ und Jakob Ruof.
hängt an einem Seile, das seinerseits an einem völlig imaginären
Halt befestigt sein muß : irgendeine Belehrung über die Inszenie-
rung erhalten wir von hieraus nicht. Im übrigen vermag das Bild
etwas spezifisch Theatralisches überhaupt nicht zu zeigen: der Ort
hat gewiß nichts mit einem wirklichen Aufführungsplatz gemein,
die Gewänder sind die des Alltags, und die wenigen Gebärden
haben nichts Besonderes. Höchstens könnte es dem Betrachter
auffallen, daß der Stein, der dem Hinterlist an die Füße gehängt
werden soll, nicht wie ein wirklich so benutzter Stein aussieht,
d. h. mit Stricken umbunden ist, sondern eher an ein großes Ge-
wicht gemahnt, das oben eine Ose zum Einhängen hat: so erinnert
er einigermaßen an ein Theaterrequisit. Im übrigen aber ist die
ganze Anlage, die hier auch nicht jenen friesartigen Charakter der
andern Zeichnung hat, wohl bestimmt, dem Betrachter als ein
Stück Wirklichkeit gegenüberzutreten. Es wird wohl so sein: der
„Ablaßkrämer", ursprünglich ein richtiges Theaterspiel, ist bei der
Überarbeitung ganz zum Literaturdialog geworden; der Verfasser
hat dem doch wohl eigentlich als Vorlage für den Drucker ge-
dachten Manuskript ein Titelbild beigegeben nach dem Vorbild
der zahlreichen Drucke von Reformationsdialogen jener Zeit, die
mit realistischen Titelholzschnitten ausgestaltet sind, so wie z. B.
auch die späteren Auflagen von Manuels 'Barbali'; und so wenig
wie auf solchen Holzschnitten wird man auf unserer Zeichnung
nach theatralischen Elementen suchen dürfen.
Augustin Frieß und Jakob Ruof.
Bei den zuletzt gebotenen Untersuchungen deutscher Dramen-
illustrationen waren es durchaus die Verfasser der Dramen, auf
deren Tätigkeit wir auch die Bilder zurückzuführen hatten ; nur in
einem Fall war der Autor der Dramen zugleich auch der Verleger
gewesen. Indem wir uns nun dem letzten Kreis von Dramenillu-
strationen zuwenden, dem unsere Betrachtung zu gelten hat, haben
wir es hinsichtlich der Anregung zur Beigabe von Bildern wieder
in erster Reihe mit derjenigen Persönlichkeit zu tun, die wir bei
der Behandlung der Illustrationen zu antiken Dramen fast immer
in die vorderste Reihe zu stellen hatten: mit dem Verleger. Denn
wir treten, indem wir uns jenem letzten Kreise nähern, in das
fünfte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts ein, und inzwischen ist —
wohl nach dem Vorbilde der besonders im vorhergehenden Jahr-
zehnt viel auf den Markt gebrachten neulateinischen Komödien
und Tragödien — auch das deutsche Drama, das bis dahin mit der
eigentlichen Leseliteratur wenig oder nichts zu schaffen gehabt
hatte, endlich ebenfalls ein Gegenstand buchhändlerischen Betriebs
geworden.
Buchausstattunff und Theater in Zürich. 455
Unsere Betrachtung führt uns noch einmal zurück an den Ort,
von dem wir ausgegangen waren: nach Zürich. Hier hatte zwar
der Buchdruclc verhältnismäßig spät begonnen, und in seinen we-
nigen Leistungen spielt der Holzschnitt keine sonderlich große
Rolle. Dann aber in den zwanziger Jahren setzt besonders die
Tätigkeit der Firma Christoph Froschauer imponierend ein und
hält sich das ganze 16. Jahrhundert hindurch auf bemerkenswerter
Höhe. Und hier wird gleichzeitig auch der Holzschnitt für die
künstlerische Ausschmückung der Druckwerke wieder herange-
zogen, zumal für den immer wiederholten Druck der deutschen
Bibel: Holbeinsche Stöcke werden wenigstens leihweise erworben
und benutzt, und gute Kopisten und Schüler Holbeins sind uner-
müdlich im Dienste des Buchdruckes tätig. Neben geschickten
Meistern auch eine nicht kleine Anzahl von geringeren Vertretern
holzschneiderischer Kleinkunst: einen charakteristischen Gesamt-
eindruck solcher Züricherischen Leistung kann man sich verschaffen,
wenn man die von Froschauer im Jahre 1547 hergestellte Aus-
gabe von Stumpfs Weltchronik zur Hand nimmt.
Anderseits war die dramatische Aufführung, die in Zürich von
jeher viel gepflegt worden war, auch im 16. Jahrhundert nicht ein-
geschlafen; ja, gerade hier hatten Drama und Theater nach den
ersten zehn literaturarmen Jahren der Reformationsstürme einen
neuen Aufschwung genommen. Hier treffen wir den unbekannten
Verfasser des Spiels „Vom reichen Mann und armen Lazarus**,
dessen Aufführung im Jahre 1529 die erste Leistung des protestan-
tischen Theaters im deutschen Süden bedeutet, dann Heinrich Bullinger
und Jörg Binder, ferner den Bearbeiter der Birckschen „Susanna",
dessen Name nicht bekannt ist, der aber schwerlich mit einem der
übrigen Züricher Dramatiker identifiziert werden kann, und endlich
den fruchtbaren Jakob Ruof. Die Firma Froschauer hat zunächst
für diese dramatischen Schöpfungen kein sonderliches Interesse:
nur Binders Verdeutschung des „Acolastus" ist bei ihr im Jahre
1535 gedruckt, und von einer künstlerischen Ausstattung ist in
dieser Ausgabe nicht die Rede.
Im Jahre 1540 aber setzt in Zürich die Tätigkeit einer neuen
Firma ein, der einzigen offenbar, die neben Froschauer überhaupt
als eine Druckerei größeren Stils in Betracht kommt. Ihr Inhaber
ist Augustin Frieß, und dieser Frieß hat nun die Herausgabe
deutscher Dramen und ihre Ausstattung mit Holzschnitten geradezu
zu seiner geschäftlichen Spezialität gemacht 2). Wieso er dieser
1) Vgl. F. S. Vögelin, Die Holzschneidekunst in Zürich im 16. Jahrhundert : Neu-
jahrsblätter der Stadtbibliothek in Zürich 1879 — 1884.
2) Es ist natürlich nicht leicht, für diese letzte Behauptung eine ganz sichere Grund-
lage zu bieten, denn bekanntlich fehlt es für die Feststellung deutscher Drucke aus dieser
Zeit im Gegensatz zu denen der vorangehenden Perioden an allen bibliographischen Hilfs-
456 Erste Periode der Dramenausstattung bei A. Frieß.
Spezialität sich zugewendet hat, wird sich schwer entscheiden
lassen : das Interesse des eingeborenen Zürichers für die dramatisch-
theatrahsche Aufführung kann die Veranlassung nicht gewesen
sein, denn Frieß ist keineswegs aus Zürich gebürtig: er heißt eigent-
lich Augustin Mellis, stammt aus Franeker in Westfriesland (daher
der angenommene Name Frieß) und hat erst im Jahre 1538 das
Bürgerrecht erlangt. Das im Züricher Stadtarchiv aufbewahrte
Original des Bürgerbuches sagt darüber: Amjustyn Jörg Mellis sun
vonFranncken ussWestfryessland, ist zu eynem Bürger uffgenommen
umb XX R guldin, die hat er hezalt iinnd den Bürger Eyd ge-
schworen. Sambstags nach Invocavit anno etc. 1538^). Vielleicht
handelt es sich von vornherein um eine Nachahmung der Praxis
des Buchdruckers J, Frölich in Straßburg. Daß Frieß späterhin
von ihm gelernt hat, werden wir alsbald festzustellen haben. Mög-
lich wäre es aber an sich auch, daß die Anregung von einem dra-
matischen Autor gekommen ist, denn unter den drei Drucken von
Dramen, die Frieß in seinem ersten Arbeitsjahr unter die Presse
gegeben hat, befinden sich zwei von dem schon genannten Züri-
cher Dramatiker Jakob Ruof.
Diese zwei haben allerdings bereits wenigstens Titelholzschnitte
und scheinen somit nicht die allerersten Leistungen gewesen zu
sein, da wir sonst mit Rücksicht auf den dritten Druck nochmal
einen Rückschritt zu völliger Ausstattungslosigkeit annehmen
müßten. Vermutlich hat dieser dritte Druck die Priorität: die erste,
freilich schon überarbeitete Ausgabe jenes für das protestantische
Theater so bedeutsamen Spiels „Vom reichen Mann und armen
Lazarus" aus dem Jahre 1529^).
Aber auch die beiden Drucke Ruofscher Dramen, des „Job" 3)
und des „Joseph" 4), sind trotz ihrer beiden Titelholzschnitte kein
für unsere Zwecke interessantes Material. Offenbar ist bei ihrer
Herstellung der Verfasser unbeteiligt: auf den Titelblättern wird
mittein. Immerhin aber ließ sich mit freundlicher Hilfe, zumal der Züricher Stadtbiblio-
thek, eine größere Liste von Frieß gedruckter Werke zusammenstellen; daß sie nicht
allzu unvollständig ist, kann man dem Umstand entnehmen, daß eine Umfrage bei allen
größeren Schweizer Bibliotheken, in denen doch zunächst die Existenz Frießscher Arbeiten
vermutet werden kann, keine Ergänzungen lieferte. Die reichhaltigste Liste hat bisher
Bolte gegeben: Wickrams Werke 5, S. LXV. Ich stelle hier diejenigen Drucke zusammen,
die weder dramatische Texte bringen noch Holzschnitte enthalten und die daher oben im
Text nicht herangezogen werden: 1. Catechismus 1541. 2. Catechismus 1545. 3 Joh.
Hoper, An Answer unto mylord of wynthesters booke intytlyd a detection of the deuyls
Sophistrye. 1547. 4. Joh. Hoper, A declaration of Christ and his offyce. 1547.
1) Diese Ermittlung verdanke ich der Güte des Herrn Stadtarchivars Dr. J. Häne
in Zürich.
2) Exemplar in München, Hof- und Staatsbibliotlu'k. In Zürich noch ein Druck
ohne Jahr.
3) Exemplar ebenfalls in München.
4) Exemplar in Zürich, Stadlbil)liothek.
Erste und zweite Periode dei Dramenaustlattung bei A. Frieß. 457
ebensowenig wie auf dem des Lazarusspiels der Name des Dich-
ters genannt; es handelt sich vielmehr auch hier um eine Speku-
lation des Verlegers, der wohl mit dem Druck solcher in neuerer
Zeit zu Zürich gespielter Dramen ein gutes Geschäft zu machen
hoffte. Zu dem Gedanken, derartige Drucke mit Titelbildern zu ver-
sehen, kann er ganz gut auch durch früher erschienene, in gleicher
Weise ausgestattete Dramendrucke gekommen sein: am nächsten
hegt es, an die Fastnachtspiele des Niklas Manuel zu denken,
dessen nichttheatralischen Dialog „Barbali" Frieß — wir wissen
freilich nicht wann — mehrfach und zwar ebenfalls unter Bei-
fügung eines Titelholzschnittes gedruckt hat; aber auch z. B. die
Nürnberger „Susanna" vom Jahre 1534 und der Wittenberger Druck
des Knaustschen Spieles von Kain und Abel aus dem Jahre 1539
sind in solcher Weise ausgestattet. So wenig aber wie bei allen
diesen Ausgaben haben bei den beiden ersten von Frieß veran-
stalteten Drucken Ruofscher Dramen die Titelholzschnitte einen Zu-
sammenhang mit dem Theater: das Bild für den „Job", das den
Dulder auf dem Misthaufen, daneben sein Weib und rechts die be-
rittenen Räuber mit ihrem Raube zeigt, ist ein Nachschnitt des
einen Hiob-Holzschnittes aus der Froschauerschen Bibel, und das
Joseph-Bild, das den Verkauf des Helden an die Kaufleute vor-
führt und das sicher von einem der für Froschauer tätigen Künst-
ler herrührt 1), erweist sich schon durch die künstlerisch dominie-
rende Vorführung eines Kamels als vöUig theaterfremd.
In eine neue Epoche seiner Bedeutung für die Dramenillu-
strationen tritt Frieß dann durch die schon erwähnte Anlehnung
an die Tätigkeit des Straßburger Kollegen Jakob Fröhch ein:
wann die erste Anlehnung erfolgt ist, läßt sich leider nicht aus-
machen, da die betreffenden Frießschen Drucke undatiert sind, —
jedenfalls aber in der ersten Hälfte der 40er Jahre. Auf solche
Art scheint die rein innerschweizerische Entwicklung hier durch
eine außerschw^eizerische Leistung unterbrochen und in neue Wege
gelenkt zu sein. Sehen wir aber genau zu, so zeigt sich, daß im
Grunde doch auch hier das Schweizerische dominiert: denn der
Straßburger Jakob Frölich ist seinerseits wieder nur ein Nach-
ahmer des Druckers und Dramatikers Pamphilus Gengenbach aus
Basel. Wie das erste hier in Betracht kommende elsässische Drama
rein dichterisch genommen eine Umarbeitung des Gengenbachschen
Spiels von den zehn Altern darstellt — sie ist 1531 von Jörg Wick-
ram verfaßt — , so ist die Ausstattung des Straßburger Druckes
vom Jahre 1534 mit ihrer durchgeführten Illustration der einzelnen
Szenen auf eine starke Benutzung der Leistung des Druckers
1) Vgl. Vögel in S. 63. V. kennt übrigens überhaupt nur zwei bei Frieß gedruckte
Werke mit Illustrationen.
458 A. Frieß als Nachahmer des Straßburger Druckers Frölich.
Geiigenbach zurückzuführen. Im einzelnen kann von diesen Straß-
burger Biklern hier die Rede nicht sein, wo wir es nur mit
schweizerischen Dramenilkistrationen zu tun haben. Auch nicht
von der an sich interessanten Frage, ob bei der Herstellung illu-
strierter Ausgaben der Wickramschen Dramen der Verfasser oder
der Verleger die entscheidende Anregung gegeben hat, und ebenso-
wenig endlich von dem für die theatergeschichtliche Erörterung
wichtigen Problem, ob Wickram, der ja bereits als „selbstgemachter
Maler", als ein arger Dilettant freilich, bekannt ist, auch an der
Herstellung der Illustrationen zu seinen Dramen tätig gewesen ist.
Eine eingehende Betrachtung dieser Bilder von dem hier stets ge-
wählten Standpunkt aus würde jedenfalls ergeben, daß im Gegen-
satz zu dem Gengenbachschen Original die Szenenbilder der Wick-
ramschen Bearbeitung kaum etwas mit dem wirklichen Theater zu
tun haben; nur der Herold mag vielleicht das Kostüm zeigen, das
er bei der Kolmarer Aufführung des Werkes vom Jahre 1531 ge-
tragen hat. Wenigstens führt darauf der Umstand, daß er vorn auf
zwei Brustschilden das Kolmarer Wappen zeigt, zu dessen Ver-
wendung ein lediglich nach der Phantasie arbeitender Straßburger
Illustrator doch keine sonderliche Veranlassung gehabt hätte.
Frieß' Anlehnung an Frölich setzt nun geradezu mit einer
neuen Ausgabe der Wickramschen „Zehn Alter" ein; für sie läßt
er auch die Bilder des Frölichschen Druckes nachschneiden i).
Daß diese Nachschnitte ein theatergeschichtliches Interesse nicht
beanspruchen können, versteht sich nach dem Gesagten von selbst.
Das Gleiche gilt von der durch Frieß ebenfalls veranstalteten Aus-
gabe von Wickrams „Narrengießen" -), der die Frölichsche Aus-
gabe des Jahres 1538 samt einigen der dort gegebenen Holz-
schnitte zugrunde liegt. Aber nicht nur im unmittelbaren An-
schluß an Frölich arbeitet die Frießsche Druckerei, sie läßt sich
vielmehr auch darin von ihm anregen, daß sie das von Frölich
bei der Herstellung des Druckes von Wickrams „Treuem Eckart"
eingeschlagene Illustrationsverfahren: die Verwendung von Holz-
schnitten, die zu andern Texten gehören, auf eine von ihm selb-
ständig unternommene Dramenillustration überträgt. Frieß gibt
nämlich das alte, anonym erschienene. Urner Spiel vom Wilhelm
Teil zum erstenmal heraus'^) und illustriert es, indem er außer
zwei abgenutzten Schnitten, die einen König und einen Landsknecht
darstellen, hier aber zwei Herolde bedeuten sollen, den Kolmarer
1) Dieser Druck ist nicht erhalten. Bolte aber in seiner eben angeführten Aus-
gabe von Wickrams Werken hat Bd. 5, S. XXXU die Existenz einer solchen Ausgabe aus dem
Vorkommen der zugehörigen Nachschnitte in andern Frießschen Drucken mit vollem Recht
erschlossen
2) Exemi)lar in Zürich, Stadll)il)!ioth('k.
3) Exemplar in Basel, Universitätsbibliothek.
Dritte und vierte Periode der Frießschen Dramenausstallung, 459
Herold des Wickramschen Spiels benutzt und ferner das Bild der
Apfelschul^szene, mit der er ursprünglich das bei ihm erschienene
Lied vom Wilhelm Teil ausgestattet hatte '). Auch dieser Druck des
Teildramas hat somit, trotz seiner Illustrationen, kein theaterge-
schichtliches Interesse.
Eine dritte Periode in Frieß' gesamter Tätigkeit — die für uns
wichtigste — kommt offenbar dann im Jahre 1545 dadurch zustande,
daß nunmehr ein dramatischer Dichter die Führung übernimmt.
Es ist der wiederholt genannte Jakob Ruof. Dieser hat zu Neu-
jahr des Jahres 1545 seine neue Bearbeitung des oben erwähnten,
nicht lange vorher von Frieß gedruckten Urner Tellspiels in Zürich
aufführen lassen und gibt diese Bearbeitung nun bei Frieß heraus 2).
Daß der Druck im Auftrage des Autors erfolgt, geht mit Sicher-
heit daraus hervor, daß das Titelblatt nicht nur seinen Namen,
sondern auch sein Wappen trägt. Der Druck ist illustriert, und es
handelt sich nun nicht mehr um ein bloßes Titelbild, nicht mehr
um Nachschnitte anderswo hergestellter Originale, nicht um eine
kimimerliche Zusammenstellung schon gedruckter und gar nicht recht
passender Holzschnitte, diesmal ist vielmehr die ganze Reihe von
Bildern, die der Druck aufweist, eigens für ihn hergestellt worden.
Es folgt in einem ähnlichen Stil eine neue Auflage des Ruofschen
„Job" 3). An die Stelle des einen Titelbildes ist auch hier eine
ganze Folge von Illustrationen getreten, die eigens für das Drama
geschaffen sind. Daran schheßt sich die Urausgabe des 1545 ver-
faßten Ruofschen Passionsspieles Das Lyden vnsers Herren Jesu
Christi i). Hier ist freilich die Ausstattung schon viel kärglicher
ausgefallen, und einige Holzschnitte werden, ohne daß es recht
paßte, zweimal benutzt. Endlich gehört in diese Periode wohl noch
der Druck des schon erwähnten, von einem unbekannten Züricher
Dichter nach Birck bearbeiteten Susannadramas 0): auch hier eine,
wenn auch nicht sehr lange, Reihe für diesen Druck gearbeiteter
Bilder; zur Vorführung des Heroldes ist hier freilich wieder der
aus den „Zehn Altern" stammende Holzschnitt Frölich-Wickramscher
Herkunft verwendet.
Eine völlige Rückkehr zu jener durch Frölich inspirierten
früheren Art bedeutet dann die letzte Züricher Zeit des Druckers
Frieß. Nicht nur ahmt er ihn wieder direkt nach, indem er eine,
allerdings nur mit einem Titelbilde versehene, Ausgabe der von Frö-
1) Exemplar in München , Hof- und Staatsbibliothek. Das Bild s. u. Abb. 103, S. -463.
Ebenso hat er seinen Druck des Liedes auf die Schlacht von Novara (Exemplar in Bern,
Stadtbibliothek) mit einem Holzschnitt geschmückt.
2) Exemplar in München, Hof- und Staatsbibliothek.
3) Exemplar ebendort.
4) Exemplar z. B. in Berlin, Kgl. Bibliothek.
5) Exemplar in Berlin.
j^QQ Vierte Periode der Frießschen Dramenausstattung.
lieh wiederholt gedruckten „Griseldis" Petrarcas in Wyles Über-
setzung!) und einen auch die zahlreichen Illustrationen nachahmen-
den Druck des von Salzmann verdeutschten „Octavian" veran-
staltet, den Frölich 1548 unter die Presse gegeben hattet), sondern
er wendet sich auch in der Ausstattung von Dramen wieder dem
alten Stoppelprinzip zu. Die Ausgabe des Binderschen „Acolastus" 3)
benutzt den Herold aus dem Ruofschen Teil und hat im übrigen
nur auf dem Titelblatt 4 winzige Holzschnitte, die nicht einmal
dem Text des Dramas, geschweige denn seiner Aufführung nahe
stehen. Ein wahres Musterbeispiel der Stoppelwirtschaft aber ist
der Druck des Hechlerschen Spiels „Alte Weiber jung zu schmie-
den" 4), das im Bernischen Utzisdorf 1540 gespielt worden war.
Hierfür ist nur das Titelbild, die eigentliche Schmiedeszene, neu ge-
schnitten, ^ diese Szene wird im Spiel selbst aber gar nicht vor-
geführt. Die übrigen Bilder sind ein buntes Ragout aus allerlei
älteren Frießschen Schmausen: u. a. aus den „Zehn Altern", aus
dem „Job" und aus einer sonst nicht bekannten Ausgabe des
Liedes vom „Hürnen Seyfried", die Frieß offenbar vorher auch
veranstaltet hattet); wo diese Bilder in irgendeinem Punkte dem
Inhalt des Hechlerschen Spiels gar zu sehr widersprachen, sind
die betreffenden Partien des Holzschnittes von dem Stock entfernt.
Dieser wurde dadurch natürlich für anderweitige Verwendung un-
brauchbar: ein Zeichen dafür, daß Frieß sich nicht länger diesem
Zweig seines Verlages, der Herstellung illustrierter Ausgaben er-
zählender und namentlich dramatischer Werke, zuzuwenden beab-
sichtigte. Tatsächlich muß er etwa im Jahre 1550 Zürich verlassen
haben : 1551 finden wir ihn in Straßburg, in der Stadt also, in der
sein früheres Vorbild, die Firma Frölich immer noch im alten Sinne
arbeitete. Er hat ihr hier aber keine weitere Konkurrenz gemacht,
sondern sich ganz andern Geschäftszweigen, so namentlich der
Herstellung spanischer Drucke zugewendet, auf die er vielleicht
irgendwie durch Beziehungen zu seiner niederländischen Heimat
gekommen ist 6).
Übersehen wir nun noch einmal seine ganzen Züricher Tage, so
ergibt unsere Betrachtung bereits, welche seiner Leistungen wir
ohne weiteres fih' unsere Zwecke ausscheiden können: die ersten
Anfänge und die beiden Perioden, in denen er nach Frölichschem
1) Exemplar in Berlin.
2) Exemplar in Breslau, Stadtbibliothek.
3) Exemplar in Zürich, Stadtbibliothek.
4) Exemplar in Basel, Univei'.silälsbibliothek.
5) Sie kommt also als neues, bisher nicht benutztes Material zu meinen Erörterungen
über die Bilder des Seyfriedsliedes : ADA. 45, S. 64 ff. und zu Golthers Behandlung des
gleichen Stoffes in der zweiten Auflage seines Neudruckes (Halle 1912) hinzu.
6) Die Titel bei Heitz, Elsässische Rüchormarken (StralMiurg 1S!)2), S. XXIV u. 72.
Augustin Frieß und Jakob Ruof. 461
Vorbilde arbeitete, haben zwar allerlei Illustrationen, aber keine
Leistungen gebracht, in denen wir einen besonderen theatralischen
Sinn suchen dürften. Es kommt also nur die mittlere Periode, die
Zeit der engen Verbindung mit dem Dramatiker Ruof für genauere
Untersuchungen in Betracht.
Hier ist zunächst in der Tat von vornherein der Gedanke nicht
auszuschließen, daß in die Illustrationen hinein sich Reminiszenzen
an die Aufführung der Dramen gedrängt haben. Die Herausgabe
der Texte war, wie wir sahen, auf Veranlassung des Autors er-
folgt; so mag er auch der Herstellung der Illustrationen nicht
fern gestanden haben. Anderseits aber hat er an der Aufführung
seiner Werke den lebhaftesten Anteil genommen: das brauchen
wir nicht nur zu vermuten, sondern können es wenigstens für ein
Werk, freilich keines von denen, deren Drucklegung Frieß besorgt
hat, auch beweisen: bei der Darstellung seines Spiels „Von des
Herrn Weingarten" im Jahre 1539 ist er als Äctor d. h. als Re-
gisseur tätig gewesen '). Aber selbst wenn Ruof sich nicht um die
Herstellung der Bilder gekümmert und die Zeichner zur Berück-
sichtigung der lebendigen Aufführung veranlaßt, sondern die Aus-
stattung des Buches ganz dem Drucker überlassen haben sollte, so
ist es doch wenigstens nicht ausgeschlossen, daß dieser dabei auf
eine Heranziehung des theatraUschen Elementes hingewirkt haben
könnte: wenigstens kann er nicht nur die Aufführung des „Teil" im
Jahre 1545, sondern auch die des „Job" im Jahre 1535 mitange-
sehen haben, denn da er 1538 das Bürgerrecht erhielt, hat er sich
gewiß schon jahrelang vorher in Zürich aufgehalten. In der Tat
sind denn auch die Holzschnitte zum „Teil" und zum „Job" an
derjenigen Stelle, zu der jeder sich wendet, der die wichtigsten
bildlichen Beigaben zu den Hauptwerken der deutschen National-
literatur kennen lernen will: in Könneckes Bilderatlas mit dem
Bemerken veröffentlicht worden, daß man sich die Aufführung
der Dramen ganz ähnlich der auf den Holzschnitten gebotenen Dar-
stellung vorstellen könne; auch die Vorführung von Kahn und
Pferden im „Teil" stehe solcher Annahme nicht im Wege, da
die Züricher Aufführungen im Freien stattgefunden hätten.
Solche Auffassung, deren Richtigkeit für die Erschließung wich-
tigen theatergeschichtlichen Materials von der größten Bedeutung
wäre, hält nun aber leider einer nüchternen Prüfung in der Haupt-
sache nicht Stich. Betrachten wir zunächst das Ruof sehe Teil spiel,
so verbietet im Grunde schon die nächstliegende Feststellung die
Vermutung, daß der Züricher See in die Aufführung eingeschlossen
1) Schweizerische Spiele des 16. Jahrhunderts bearbeitet von J. Bächtold 3 (Zürich
1893), S. 310.
462
Die Aufführung des Ruofschen Teilspiels.
und dadurch auch auf die Holzschnitte gekommen sei. Wie das
Titelblatt des Frießschen Druckes mitteilt, ist die Aufführung zu
Neujahr des Jahres 1545 von statten gegangen und kann also
unmöglich im Freien und unter Benutzung des Sees erfolgt sein;
wir werden vielmehr an eine Vorstellung im geschlossenen Raum
Abb. 100. J. Ruof, Teil (Frieß), Erstürmung der Burg Sarnen.
Abb. 101. J. Ruof, Teil (Frieß). Apfelschuß.
denken müssen, von deren Anlage wir uns freilich nicht so leicht
einen Begriff werden machen können. Aber nehmen wir selbst
an, es habe dann noch in der schönen Jahreszeit eine Wiederholung
stattgefunden, diese sei ins Freie verlegt worden und für die Dar-
stellung der Szenen auf dem Urner See habe nuni das lebendige
Wasser benutzt. Auch dann können unsere Holzschnitte unmöglich
das Bild der Aufführungslokalität wiedergeben. Denn sie bieten den
Blick auf den See und dahinter liegende hohe Berge (vgl. Abb. 101),
Die Bilder in P'rieß" Druck des Ruofschen Tellspiels.
463
so wie auch die Bilder der auf dem Wasser selbst spielenden Szenen
hohe Berge im Hintergrund zeigen. Derartige Landschaften können
die Zuschauer der Züricher Tellaufführung unter keinen Umständen
vor Augen gehabt haben. Denn die öffentlichen Aufführungen zu
Abb. 102. J. Stumpf, Weltchronik (Froschauer). Apfelschuß.
Abb. 103. Teilenlied (Frieß). Apfelschuß
Zürich haben, soweit uns unser Material belehrt, ausnahmslos auf
dem Münsterhof, dem freien Platz östlich vom Frauenmünster,
stattgefunden. Dieser Platz reicht allerdings an einer Seite ans
Wasser, so daß sich dieses allenfalls in die Aufführung einbe-
ziehen heßi); aber dieses Wasser ist nicht der See, sondern
1) Sehr wahrscheinlich ist solche Einbeziehung überhaupt nicht: das Ufer steigt
464 Diß Bilder zu Ruots Hiobdrama.
nur die Limmat, und am andern Ufer waren keine Berge, son-
dern nur das Großmünster, die Wasserkirche und einige Häuser zu
sehen. Es handelt sich viehnehr bei der Lokaldarstehung der
Holzschnitte um eine gänzlich untheatralische Benutzung der heimat-
lichen Landschaftsstaffage, die in der Züricher Holzschneidekunst
dieser Zeit auch auf Bildern, die mit Drama und Theater gar nichts
zu schaffen haben, so in der schon angeführten Froschauerschen
Ausgabe der Stumpf sehen Weltchronik, nicht selten erscheint; frei-
lich wird es nicht leicht möglich sein, den „Künstler", der die recht
rohen Bilder zum „Teil" angefertigt hat, mit einem der sonst in
Ziu'ich beschäftigten Zeichner und Holzschneider zu identifizieren.
Auch abgesehen von jenen Hintergründen aber ist die ganze Bilder-
folge offenbar Illustration der gewöhnlichsten Art und behandelt
den dramatischen Text gerade so, als ob eine epische Erzählung
vorläge. Es ist nicht erst nötig, daß hier der Versuch gemacht
wird, die Einrichtung der Bühne für das Teilspiel zu rekonstruieren
und danach zu sagen, daß die auf den Holzschnitten vorgeführten
räumlichen Anordnungen ihr unmöglich entsprechen können; es ge-
nügt, den Blick etwa auf die Darstellung der „hohlen Gasse" und die
der Erstih'mung der Burg Sarnen (Abb. 100, S. 462 1)) zu richten, welch
letztere in Könneckes Wiedergabe der Bilder stillschweigend über-
gangen ist. Wie wenig im Prinzip unsere Darstellungen von den
Illustrationen zu rein epischen Werken sich unterscheiden, wird
am besten deutlich, wenn wir neben das Bild zum Apfelschuß im
Ruof sehen Teilspiel (Abb. 101, S. 462) das den gleichen Hergang vor-
führende Bild aus Stumpfs Chronik (Abb. 102, S. 463) und jenes dem
Frießschen Druck des Liedes vom Teil beigegebene, wiederum den
Apfelschuß vorführende Titelbild stellen (Abb. 103, S. 463).
An zweiter Stelle kommen die Bilder des Jobdramas in Be-
tracht. Von vornherein ist hier die Aussicht auf unmittelbare
Theaterwirklichkeit etwas geringer, denn seit der Aufführung des
Dramas sind bei der Herstellung des Druckes ungefähr zehn Jahre
verflossen — wenigstens ist außer der durch Stumpfs Chronik be-
zeugten Vorstellung vom Jahre 1535 in der Überlieferung von
keiner andern Aufführung die Rede 2). Die unmittelbare Theater-
vom Münsterhof aus derart an, daß man das Wasser nur von den hölieren Stockwerken
einiger günstig gelegenen Häuser übersehen kann.
1) Dieser Holzschnitt und alle ihm folgenden sind in Originalgröße gegeben.
2) Daß es sich in der Jobvorstellung des Jahres 1535 gerade nm das Ruofsche
Drama gehandelt hat, ist bei Stumpf nicht ausdrücklich gesagt, und Blun tschüs Angabe
aus dem Jahre 1742 braucht nur auf einer Kombination zu beruhen; eine Identifikation
wird sich indessen wohl dadurch rechtfertigen lassen, daß Ruofs Drama seiner Ent-
stehung nach sicherlich der Mitte der 30 er Jahre angehört : da es im (Jegensatz zu allen
übrigen Ruofschen Werken ohne Akteinteilung ist, ist es offenbar seine älteste Arbeit.
Sciion in dem 1539 entstandenen Spiel vom Weingarten des Herrn ist die Akteinteilung
zu finden.
Die Bilder zu Ruofs Hiobdraina. 465
Wirklichkeit der Jobbilder wird auch dadurch sofort etwas mehr
in Frage gestellt, daß sie im Gegensatz zu den Tellholz-
schnitten nicht alle unmittelbar für die Ausstattung des Dramen-
druckes hergestellt sind : wenigstens stammt das Bild des Teufels
Runtzifal aus dem Frießschen Druck der Wickramschen „Zehn
Alter" und ist seinerseits nur eine getreue Nachbildung des be-
treffenden Holzschnittes in Frölichs Straßburger Ausgabe. Als
völlig untheatralisch erweisen sich ferner beim ersten Blick das Bild
von Satans Gespräch mit Gott (Abb. 104, S. 466), bei dem der letztere
in der üblichen Darstellung in den Wolken thronend erscheint, und
das Bild, auf welchem die, im Drama übrigens gar nicht unmittelbar
vorgeführte, Vernichtung der Habe Jobs vorgeführt wird : nicht nur
sehen wir hier ein brennendes Dorf, wie es unmöglich auf dem
damaligen Theater gezeigt werden konnte, sondern zwischen Brand-
und Raubszene fließt ein Fluß i). Auf den übrigbleibenden Bildern
findet sich wiederum der landschaftliche Hintergrund mit Seen und
Bergen, den die Zuschauer auf dem Münsterhof unmöglich erblickt
haben können. Eher könnte man an die theatralische Realität der
sonst auf diesen Bildern dargestellten Örtlichkeiten glauben. Die
große Halle, in der Jobs Kinder schmausen (Abb. 105, S. 467), würde
vielleicht dem Aufbau eines solchen Hauses auf der Marktplatzbühne,
in das die Zuschauer von allen Seiten hineinsehen können müssen,
einigermaßen entsprechen: denn die einzige Andeutung einer
Wand mit Fenstern findet sich nur nach der Wasserseite hin, an
der, bei der Aufführung auf dem Münsterhof, vielleicht gar keine
Zuschauer gestanden haben. Leider aber ist die Halle Jobs und
seiner Freunde ein geschlossenes Interieur, in das der Blick
von außen unmöglich hereindringen kann (Abb. 106, S. 468), und
bei einer zweiten Darstellung desselben Hauses (Abb. 107) ist
zwar die Anordnung der Tafel die gleiche geblieben, das Zimmer
selbst aber sieht wieder wesentlich anders aus 2), und mit dieser
Feststellung werden wir wohl auch die Hoffnung aufgeben müssen,
in der Darstellung der andern Halle ein Abbild der theatralischen
Wirklichkeit zu sehen. Auch die beiden Bilder, die den Misthaufen
vorführen (Abb. 108/9, S. 469f.) — wir haben ihn uns jedenfalls als
den eigentlichen Mittelpunkt des theatralischen Schauplatzes vorzu-
stellen — zeigen, ganz abgesehen von der einmal vorgeführten Juxta-
position auf dem einen Schnitt, in lokaler Beziehung einen unlös-
lichen Widerspruch. Und so ergibt sich, daß auch die Jobbilder
uns keine Vorstellung von dem Schauplatz zu gewähren vermögen.
1) Diese Bilder hat Könnecke nicht wiedergegeben.
2) Könnecke hat diese zweite Darstellung des Jobhauses wiederum fort-
gelassen.
Herr mann, Theater. 30
466
Die Bilder zu Ruofs Passionsspiel.
Noch weiter treten endlich die beiden letzten Drucke, die der
mittleren Periode der Frießschen Tätigkeit angehören, von vorn-
herein vom Theatralischen zurück. Ruofs Passionsspiel ist bei
der Drucklegung offenbar noch nicht aufgeführt worden i). Die
ausführUche Vorrede erklärt vielmehr, daß der Druck zu Auffüh-
rungen anregen wolle; es könnte sich also bei den Illustrationen
im besten Falle um die Fiktion einer erst zu veranstaltenden Dar-
stellung handeln. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß
wir es bei den Bildern dieses Druckes vollends nur mit einem,
diesmal schon recht dürftig gewordenen, Buchschmuck ganz un-
theatralischer Art zu tun haben. Das Szenenbilderprinzip ist ganz
aufgegeben : das sehr umfangreiche, zweitägige Spiel ist im ganzen
Abb. 104. J. Ruof, Job (Fries), Satans Gespräch mitGott.
— von den Heroldsbildern abgesehen — mit acht Bildchen ge-
schmückt, unter denen noch dazu zwei nur wenig sinnvolle Wieder-
holungen sind. Es ist ferner gar nicht ausgeschlossen, daß die
übrigen sechs gar nicht einmal alle für diesen Druck direkt her-
gestellt, sondern wie die Werke der vorhergehenden und der
nächstfolgenden Frießschen Periode irgendwoher zusammengerafft
sind. Bei zweien von den sechs Bildern läßt es sich geradezu
nachweisen: das eine ist eine astronomische Darstellung, die mit
dem Text nur in einem ganz losen Zusammenhang steht, das
1) Bluntschli, Memorabilia Tisuricensia (Zürich 1742) S. 96 berichtet: Anno 1544
spielten die Lateinerknaben auf dem Münsterhof zu Zürich eine Comedi über das Leyden
Christi. Hier kann es sich aber nicht um das Ruofsche Spiel gehandelt haben, das nach
der Angabe des Druckes erst 1545 gespielt worden ist. Oilenbar hat der Dichter durch
sein Werk jenes vorher gespielte Drama ausstechen wollen, wie er dem älteren Teilspiel
vorher seine Bearbeitung des gleichen Dramas entgegengesetzt hat.
Die Bilder zu Bircks „Susanna''
467
andere, das Bild der Ölbergszene, ein Gegenschnitt nach Dürers
Kupferstichpassion. Auch für die noch verbleibenden vier Bilder
— sie rühren nicht von wirkHchen Künstlern her; bei zweien ist
die Hand eines sonst für Froschauer arbeitenden Meisters un-
verkennbar — läßt sich unschwer zeigen, daß kein besonders enger
Zusammenhang zwischen der bildhchen Darstellung und Ruofs Text
besteht; mit dem Theater hat das Ganze keinesfalls etwas zu
schaffen. Das Gleiche gilt auch von den künstlerisch sehr rohen
Holzschnitten des Susannadruckes: die Zahl der Bilder ist hier
etwas größer — es sind, abgesehen von dem Bilde des Kolmarer
Herolds, fünf. Aber das Szenenbildprinzip ist auch hier nicht durch-
geführt. Die Gerichtszenen sind eine üble Nachahmung der ganz
Abb. 105. J. Ruof, Job (Fließ). Halle der Kinder Jobs.
untheatralischen Gerichtsszenen aus dem Passionsspiel, und die
Darstellung im einzelnen steht sogar mit dem gedruckten Text so
entschieden im Widerspruch, daß man an eine Übereinstimmung
mit dem gesehenen Bilde der Aufführung unmöglich denken kann.
Für eine Berücksichtigung des Theatralischen scheint vielleicht der
Umstand zu sprechen, daß Susanna in der Badeszene bekleidet er-
scheint, — man könnte annehmen, daß bei der Vorstellung aus
Gründen der Dezenz die Entschleierung nicht vorgeführt worden sei.
Tatsächlich aber läßt sich das Gleiche auf manchen Susannendar-
stellungen der bildenden Kunst, z. B. bei Lukas von Leyden nach-
weisen, — auch hier haben wir also keinerlei theatralische Aus-
beute.
Eine letzte Hoffnung bleibt übrig. Wenn auch nach den eben
gebotenen Ermittlungen alle diese Holzschnitte, selbst auch die der
zuletzt betrachteten Gruppe, für die Darstellung des theatrahschen
30 *
468
Die Kostüme der Ruof-Frießschen Holzschnitte.
Raumes nichts hergeben, so könnten sie doch vielleicht etwas bieten
für die Kostüme, die bei den Aufführungen der Ruof sehen Stücke
verwendet wurden, und für die Gebärdensprache der Darsteller.
Aber auch diese Hoffnung erweist sich bei näherem Zusehen als
irrig. Für die theatralische Gebärde liefern die Bilder schon
Abb. 100. J. Ruof, Job (P'rieß). Job in seiner Halle beim Schmaus.
Abb. 107. J. Ruof, Job (Frieß). Job empfängt die schlimmen Nachrichten.
deswegen kein Material, weil auf ihnen, mit Ausnahme etwa der
Schreckensmeldung auf Abb. 107, bezeichnende Gesten kaum zu
sehen sind. Und das Kostüm weicht, wenn wir es mit den Trachten
auf nicht dramatischen Züricher Holzschnitten vergleichen, in
keinem charakteristischen Punkte von ihnen ab. Ein Umstand
Die Kostüme der Ruof-Frießschen Holzschnitte.
469
allerdings könnte zunächst die Meinung erwecken, daß für das
Theaterkostüm hier doch etwas zu holen sei. Auf den Bildern des
Jobdruckes, die den Helden in seinem Elend auf dem Misthaufen
darstellen fAbb. 108 u. 109i, wird er uns nackt gezeigt, und der
ganze Körper ist mit Flecken bedeckt, die den Aussatz kenn-
zeichnen sollen. An sich braucht nun freilich noch nicht ange-
nommen zu werden, daß auf dem Theater tatsächlich Jobs Nackt-
heit und Aussatz vorgeführt worden seien. Hans Sachsens Hiob-
drama bietet in der Beziehung keinen sichern Anhalt: als sein
Hiob die Bühne betritt, um sich auf den Misthaufen zu setzen,
schreibt die szenische Bemerkung nur vor, daß er an zweijen
Krücken kommt, und als er dann später nach der Versöhnung
Abb. 108. J. Ruof, Job (Frieß). Job von Teufeln gequält; Job und sein Weib.
mit Gott wieder auf der Szene erscheint, heißt es: gehet ein,
wol gekleidt, woraus mehr hervorzugehen scheint, daß sein Elend
vorher durch ein ärmliches Gewand angedeutet war. In Ruofs an
szenischen Bemerkungen so armem Spiel finden wir in dieser Hin-
sicht gar keine Angaben. Immerhin ergibt sich aus dem ge-
sprochenen Text, daß er vor den Augen des Publikums seine ICleider
ablegt, und so kann er sehr wohl unter ihnen jene „Leibkleider"
getragen haben, deren theatralische Verwendung wir in anderm
Zusammenhange (o. S. 116) erwähnt haben. Es läßt sich aber
auch der direkte Nachweis liefern, daß gerade Hiob auf der Bühne
des 16. Jahrhunderts in solchem Leibkleide und mit den er-
wähnten Aussatzflecken vorgeführt worden ist. In dem an the-
atergeschichtlich wichtigen Szenenanweisungen auch sonst so
reichen Jobdrama des J. Narhamer vom Jahre 1546 heißt es ffol.
Cia) ausdrücklich: Do gehen beide Teuffei zu Job, . . . zihen ihn
470
Die Kostüme der Ruof-Frießschen Holzschni'te.
aus I So steht denn Job auff I und hat ein gemolt Leinenkleidt
am Leib I wie das bletericht wer. Ebenso wird er wohl auch
auf Ruofs Bühne dargestellt worden sein; also, wird man
schließen , berücksichtigen die dem Frießschen Druck beigege-
benen Holzschnitte in bezug auf das Kostüm die theatralische
Wirklichkeit. Dieser Schluß wäre aber doch voreilig; denn wir
haben ja hier, wo unsere Betrachtung ergeben hat, daß diese Holz-
schnitte im großen und ganzen durchaus rein bildkünstlerischen
Charakter haben, zuvörderst die Frage zu beantworten, ob es sich
in dem einen zunächst scheinbar abweichenden Punkte nicht etwa
um etwas auch in der bildenden Kunst durchaus Übliches handelt.
Und tatsächlich zeigt sich, daß zwar keineswegs überall auf den
Jobdarstellungen der Held mit den Aussatzflecken vorgeführt wird;
Abb. 109. J. Riiof, Hiob (Frieß). Hiob und seine Freunde.
wir finden sie aber z. B. bei Dürer und auf zwei Holbeinschen
Holzschnitten, auf deren einem Job sogar auch wie in dem Frieß-
schen Druck mit übereinander geschlagenen Beinen dasitzt: hier
wird es sich wohl um unmittelbaren Zusammenhang handeln, da
unter den Züricher Künstlern der Einfluß Holbeins im allgemeinen
sehr stark ist. Job kann also bei der Aufführung auf dem
Münsterhofe sehr wohl ganz so ausgesehen haben, wie ihn die
Frießsche Illustration zeigt; aber das ist eine zufällige Überein-
stimmung, und sie beweist nichts für den theatralischen Charakter
der sonstigen, hier dargestellten Kostüme. Und ganz ähnlich steht es
mit der Ausstaffierung der Teufel, die den Job strafen i).
1) Doch rüclven diese Teufelsl<ostüme (Abb. 108) schon thu-uni noch etwas weiter
von der Thealerwirklichlieit ab, weil zwar, wie wir sehen werden (u. S. 495), die Tier-
klauen 7Aun Theaterl<ostüm des Teufels gehören, die Vogel b eine aber kaum darstellbar sind.
Die Heroldsbilder und ihr theatergescliichtlicher Wert.
471
Wenn wir somit durch diese Einstellung der Frießschen Drucke
in den kunstgescliichtlichen Gesamtzusamnienhang auch bei den
Bildern zu Ruofs Dramen zu einem in theatergeschichtlicher Be-
ziehung völlig negativen Resultat kommen, so nehmen wir von
diesem allgemeinen Urteil zwei Holzschnitte aus. Es sind die
beiden Heroldsbilder, die zuerst in dem Druck des Ruofschen Teil-
spiels zu finden sind und die dann im Passionsdrama noch ein-
mal erscheinen, während der Job ') nur das erste bietet. Zu diesen
beiden Bildern (Abb. 110 u. 111) steht offenbar der Autor in einer
besonders nahen Beziehung: sie wird schon dadurch deutlich, daß
der Knabenherold des zweiten einen mit Ruofs Wappen geschmück-
ten Schild trägt, und es ist ferner sehr auffallend, daß beide
Bilder offenbar nicht von derselben Hand herrühren, die die ganz
Abb. 110. J. Ruof, Teil (Frieß). Herold und Actor.
untheatralischen Holzschnitte für das eigentliche Tellspiel herge-
stellt hat: hier ist ein Künstler von einem immerhin etwas höheren
Range an der Arbeit gewesen; endlich besteht eine sehr auffallende
Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Holzschnitten und den zwei
ersten Zeichnungen in der Handschrift des Ruofschen Spiels „Der
Weingarten des Herrn" (s. u. Abb. 116, S. 483), zu deren Herstellung,
wie wir gleich sehen werden, der Verfasser entschieden in ganz
enger Beziehung gestanden haben muß. So liegt es von vorn-
herein nahe, für diese Bilder, die ja auch nicht, wie die übrigen
Holzschnitte, einen Vorgang epischen Charakters, sondern etwas
spezifisch Theatralisches, nämlich die Erscheinung der Prolog-
sprecher, vorzuführen haben, eine Berücksichtigung der theatra-
lischen Realität anzunehmen. Freilich, nach einem Abbild der Auf-
führungslokalität dürfen wir auch hier nicht suchen : um eine Be-
1) Und später der Bindersche ^Acolastus".
472
Die Kostüme der Heroldsbilder.
rücksichtigung der eigentlichen Vorstellung kann es sich auch
schon darum nicht handeln, weil auf beiden Bildern mehrere
bürgerlich gekleidete Personen zu sehen sind, die mit der Auf-
führung gar nichts zu tun haben ; so nahe aber, daß es mit aufs Bild
gekommen wäre, kann das Publikum den Prologsprechern unmög-
lich gekommen sein, und so könnte man höchstens an die Wieder-
gabe einer Art Generalprobe denken, bei der auch Unbeteihgte
ganz in die Nähe der Darsteller gelangt wären. Der Hintergrund
ist durchaus der übliche: eine Landschaft, wie sie die Zuschauer
keinesfalls gesehen haben können; und zu einer Beobachtung der
Gebärde bieten die Bilder keine Gelegenheit: die Sprecher haben
auf beiden Bildern die Hände nicht frei, und der Text der Prologe
Abb. 111. J. Ruof, Teil (Frieß). Knabenherold, Actor und Publikum.
gibt auch keine Gelegenheit, den Zustand der Seele zu körper-
lichem Ausdruck zu bringen.
Wohl aber dürfen wir theatralische Wirklichkeit hier für das
Kostüm annehmen. Jener schon erwähnte Schild mit dem
Wappen des Verfassers ist etwas so Eigenartiges, daß man ihn
bei einer vom Dichter selbst veranlaßten bildlichen Darstellung um
so weniger für ein bloßes Phantasiegebilde halten wird, als dieser
Dichter zugleich jedenfalls auch Regisseur bei der Aufführung ge-
wesen ist. Auch der Heroldsstab, der überall die gleiche Form hat,
entspricht sicherlich der Realität der Aufführung. Ferner aber
fällt im Gegensatz zu der vorher gemachten Beobachtung, daß die
Kostüme der sonstigen Dramenillustrationen sich von denen der
gleichzeitigen Züricher Bilder nicht wesentlich unterscheiden, das
Kostüm des Herolds ganz aus dem Alltäglichen heraus und stimmt
in seiner phantastischen Art, ohne daß eine völlige Identität vor-
läge, doch im Gesamtcharakter so sehr mit den Trachten der
Herolde in den Weingartenzeichnungen überein, daß wir auch hier
Herold und Actor. 473
sicher sind, es mit der Wiedergabe eines wirklichen Theatergebildes
zu tun zu haben; bei dem Knabenherold des zweiten Bildes ist
wenigstens die Kopfbedeckung ganz anders als die Hüte und
Mützen der gewöhnlichen Züricher Illustrationen. Dieser Ermittlung
scheint freilich eines zu widersprechen. Die modernen Beschrei-
bungen dieser Bilder i) sprechen immer von zwei Herolden, und
tatsächlich sind auf den Holzschnitten ebenso wie auf der ent-
sprechenden Zeichnung der Weingartenhandschrift, abgesehen von
den Nebenpersonen, zwei Männer zu sehen. Wenn die bisher hier
noch nicht behandelte zweite Gestalt, die einen Stab in der einen
und ein aufgeschlagenes Buch in der andern Hand hält, wirklich
einen Herold darstellte, so wäre die vorgetragene Behauptung von
dem theatralischen Charakter des Heroldskostüms hinfällig; denn
diese zweite Gestalt trägt die gewöhnliche Züricher Bürgertracht.
Tatsächlich kann es sich hier aber gar nicht um zwei Herolde
handeln, denn in keinem der Ruof sehen Dramen treten zwei er-
wachsene Herolde auf; im Tellspiel und im „Weingarten" nimmt
vielmehr nach dem ersten Herold ein Knabe als zweiter Herold
das Wort, und für ihn ist denn auch an beiden Stellen ein be-
sonderes Bild beigegeben. Wer aber ist die zweite Gestalt auf
dem ersten Bild? Sie stimmt auf den Holzschnitten des Tell-
druckes mit der Darstellung in der Handschrift merkwürdig genau
überein, ja sogar eine gewisse Porträtähnlichkeit, wenigstens in der
Anlage des Bartes, wird sich erkennen lassen. Und so scheint mir
nur eine Erklärung möglich zu sein. Diese zweite Gestalt ist kein
Herold, sondern der „Actor", d. h. der Regisseur, und da die
Weingartenhandschrift 2) an der Spitze des Personenverzeichnisses
ausdrücklich die Angabe macht: Actor M. Jacob Rüff, kann es
sich auch auf den Holzschnitten wohl nur um den Dichterregisseur
handeln. Wir kommen hier also schließlich doch zu einer theater-
geschichtlich sehr interessanten positiven Ermittlung. Der Regisseur
steht bei den Aufführungen mit auf der Szene, vor allem offen-
bar, um die Rolle des Souffleurs zu spielen: er hat das aufge-
schlagene Buch in der Hand und ist auf solche Weise in jedem
Moment in der Lage, den Darstellern, wenn sie stecken bleiben,
nachzuhelfen. Bei den endlos langen Ansprachen, die der erwach-
sene Herold und der Knabenherold zu halten haben, ist ein solches
Nachhelfen besonders nötig, und so kommt es, daß der Regisseur
hier mit auf die Bilder gekommen ist; denn auch auf dem Bilde
des Knabenherolds fehlt er, wenigstens im Teildruck, nicht. Wer
sich zu dieser Erklärung nicht entschließen kann, der muß schon
jene andere, oben beiläufig aufgestellte Theorie vertreten, daß
1) Könnecke S. 92; Schweizerische Schauspiele 3, S. 305.
2) Schweizerische Schauspiele 3, S. 310.
474 Die Zeichnungen zu Ruofs Weingartenspiel.
diese ersten Bilder sich auf die Generalprobe beziehen: daß hier
der Regisseur neben den Prologsprecher gestellt werden kann, ist
wohl nicht befremdend.
Die Reihe der schweizerischen Dramenillustrationen, die im
ausgehenden 15. Jahrhundert durch Züricher Handzeichnungen er-
öffnet worden war, wird nun in der Mitte des 16. Jahrhunderts
ebenfalls durch Züricher Handzeichnungen beschlossen. Es han-
delt sich um die Handschrift eines Dramas, dessen Text auf Grund
ihres Wortlautes neuerdings herausgegeben und deren theater-
geschichthche Bedeutung durch die Veröffentlichung verschiedener
ihrer zahlreichen Illustrationen betont worden ist: um das Manu-
skript von Jakob Ruofs zweitem Drama: „Der Weingarten des
Herrn". Immerhin bleiben wir mit den in der Handschrift ent-
haltenen Zeichnungen in dem zuletzt behandelten Zusammenhang,
da der Verfasser des Werkes ja der gleiche ist, zu dessen Arbeiten
die für unsere Frage wichtigsten Holzschnitte der Frießschen
Druckerei angefertigt waren. Anderseits aber treten wir, in-
dem wir nun von den Zeichnungen in dieser Handschrift han-
deln, auf einen Boden, der eine stärkere theatergeschichtliche
Ernte verspricht. Denn während wir in den Holzschnitten
der Frießschen Offizin erst nach langem Suchen einige wenige
Elemente herausfanden, die mit einer gewissen Sicherheit auf die
wirkliche Aufführung zurückgeführt werden konnten, gibt das
Manuskript alsbald verschiedene Anhaltspunkte dafür, daß wir hier
mit entschiedenem Recht nach theatergeschichthchen Bestandteilen
suchen dürfen. So ist offenbar gleich die erste Höllendarstellung i)
mehr als ein Element der gewöhnlichen Bücherillustration: hinter
dem Tierrachen, der dem Beschauer zunächst entgegentritt, erhebt
sich eine Bretterbude, aus der ein Teufel hervorlugt; sie trägt, wie
man sehen kann (vgl. Abb. 112, S. 478), durchaus nichts Bildkünstle-
risches an sich und vermag die Phantasie des Betrachters gewiß
in der Ausmalung der hinter dem Rachen sich bergenden Höl-
lenqualen nur zu beschränken, nicht aber ihr neuen Stoff zu
geben, — kein Zweifel, diese Bude ist nur aufs Bild gekommen,
weil in den Aufführungen der Höllenrachen so dargestellt wurde.
Man hat weiter darauf aufmerksam gemacht, daß die wenigen
in dem Drama auftretenden Frauen: die beiden Mägde, die z. B.
auf Zeichnung 15—17 der Wyßschen Zählung erscheinen, ent-
schieden männliche Gesichter tragen, und hat das als ein Symptom
dafür in Anspruch genommen, daß der Zeichner die tatsächliche
Darstellung berücksichtigt hat, bei der auch die Frauenrollen von
1) Nr. 9 der Zählung in der Ausgabe des Weingartenspicls von Wyß. Leider sind
die von W. gebotenen Bilderbeschreibungen teilweise recht ungenau, irreführend oder ge-
radezu falsch.
Die Entstehungsgeschichte der HandschriFt. 475
Männern gespielt worden sind; auch dieses Argument läßt sich
hören, obwohl wir freilich, um sieher zu gehen, andere Frauendar-
stellungen des gleichen Künstlers daneben legen müßten: der
männliche Schnitt jener Gesichter könnte ja auch auf ein künst-
lerisches Unvermögen des Zeichners zurückzuführen sein. Sehi-
bemerkenswert ist ferner die entschiedene Übereinstimmung der
Heroldsbilder in der Handschrift, auf denen auch der Dichter-
regisseur vorgeführt wird, mit jenen Holzschnitten des Ruofschen
Teilspiels, die uns als unanzweifelbare Zeugen einer wirklichen
Aufführung galten, und so sind es auch die Bilder der Handschrift,
wenn man nicht etwa annehmen will, daß diese nur durch eine
rein illustrative Nachbildung jener Holzschnitte zustande gekommen
seien. Weiter sind diese Zeichnungen von vornherein weniger der
theaterfremden Anlehnung an entsprechende Leistungen der bilden-
den Kunst verdächtig, weil es sich hier nicht wie im „Hiob" und im
Teilspiel um Stoffe handelt, die in der bildenden Kunst schon eine
so entschiedene Tradition besaßen, daß der Zeichner von Dramen-
illustrationen in manchen Szenen ohne weiteres einigermaßen in
diese Tradition hineingedrängt wurde. Das Gleichnis vom „Wein-
garten des Herrn" ist von den Bildkünstlern überhaupt kaum und
jedenfalls schwerhch vor diesen Züricher Zeichnungen gestaltet
worden.
Aber indem wir so zugeben müssen, daß der Zeichner irgend-
wie sich dessen bewußt wurde, er habe den Text einer Aufführung
zu illustrieren, ist damit doch noch nichl bewiesen, daß er ganz
oder teilweise ein Abbild der wirklichen Aufführung bot, die Ruofs
Drama nach den Mitteilungen des Titelblattes am 26. Mai 1539 er-
lebt hat. Zur Lösung der damit aufgeworfenen Frage, von deren
Entscheidung es natürlich auch abhängt, ob wir eine sehr starke
Berücksichtigung des Theatralischen werden annehmen müssen,
können wir nur gelangen, wenn wir über die Entstehungsgeschichte
der Handschrift ins Klare kommen.
Ohne Frage stimmt es uns zunächst für die Annahme einer
nahen Beziehung zwischen der Aufführung und der Illustration des
Dramas günstig, daß wir erkennen: die Handschrift steht im näch-
sten Verhältnis zu dem Autor selbst, sie ist, wie sich aus der Über-
einstimmung ihrer Schrift mit dem links oben im Deckel eingetra-
genen Namen M. Jacob Raff erkennen läßt, von dem Dichter selbst
geschrieben!), und er hat überall den Platz für die Illustrationen
freigelassen.
1) Wieso Wyß S 140 erklärt, die Handschrift sei nicht Ruofs Autograph, vermag
ich nicht zu begreifen. Die Notiz W. s. freilich: „Auf der Innern Seite des Deckels steht:
M. Jacob Riiff. Ex Libris Andres Kuncklerij sangallensis. Emptus Constantiae Anno 1597 . . .",
könnte die Meinung erwecken, daß die Handschrift ja gar nicht von Ruof geschrieben
sein kann, weil dieser 1597 schon lange tot war. Tatsächlich aber heben die Worte Ex
^'^Q Die Entstehungsgeschichte der Handschrift.
Die Frage ist nun weiter, in welche Zeit wir die Entstehung
der Handschrift zu verlegen haben. Das Weingartenspiel ist, wie
erwähnt, im Jahre 1539 aufgeführt worden; so liegt es gewiß am
nächsten, anzunehmen, daß damals auch die Handschrift entstan-
den sei. Diese Feststellung wäre insofern von großer Wichtigkeit,
als wir damit einerseits die Zeichnungen als den unmittelbaren
Niederschlag des theatrahschen Erlebnisses oder wenigstens als
eine sehr frische Erinnerung in Anspruch nehmen könnten und
als anderseits der ganze Gedanke der durchgeführten Dramenillu-
strationen nicht auf den Drucker Frieß, sondern auf den Autor
Ruof zurückgeführt werden müßte. Indessen schon der letztge-
nannte Umstand macht die Datierung der Handschrift in das Jahr
1539 von vornherein unwahrscheinlich: wir haben vorher fest-
gestellt, daß der Drucker Frieß in eigener Entwicklung und in An-
lehnung an den Straßburger Drucker Frölich auf die Ausschmückung
der Dramen mit einer größeren Anzahl von Illustrationen gekom-
men ist. Bei genauerem Zusehen zeigt sich dann aber weiter, daß
der früheste Termin für die Entstehung auch nicht das Jahr 1540
sein kann, von dem in dem gereimten Vorwort die Rede ist — da-
mit wäre in den beiden oben genannten Beziehungen : zur Auffüh-
rung und zum Drucker ja auch nichts Entscheidendes geändert —
sondern eine wesentlich später liegende Zeit. In jenem Vorwort
spricht Ruof von dem auf die Aufführung folgenden Jahre als von
derjenigen Zeit, deren Ertrag an Wein und Früchten gewisser-
maßen die Güte seiner theatralischen Weinpflanzung offenbaren
könnte; er spricht aber von diesem Jahr 1540 offenbar als von
einer ebenfalls längst vergangenen Zeit:
Jm jaar, do man hat flertzgi zeltt,
koiifft man wyn, brot vmb ringes geht.
der best und aller kostlichst wyn
jm selben jaar ist gwachsen gsyn,
auch fit deß selb, ein großer nutz,
mitt allen fruichten ein vberfluß.
dann jn dem sumer was so heiß,
daß ich nitt dänck, kein jaar noch weiß,
jn dem kein rägenn syg gesin,
ald minder wätter gfallen jn,
als in dem jaar mit allen fruichten.
Endlich weist auch der Charakter der Zeichnungen selber auf
eine etwas spätere Periode; am ehesten erinnern sie etwa an die
Libiis . . . völlig neu an und rülircn von einer ganz andern, jüngeren Hand her, und so-
lange nicht durch die Auffindung eines andern Ruofschen Autographen — für mich ist
in den Züricher Archiven nach Ruofschen Manuskripten vergeblich gesucht worden —
gezeigt worden ist, daß jene Nanienseintragung nicht von dem Dichter seihst vorgenonnnen
worden ist, müssen wir doch wohl ihre Eigenhändigkeit behaupten.
Entstellung der Handschrift. Untbeatralische Elemente der Zeichnungen. 477
ersten Zeichnunoren in Frieß' Druck der Historie von Octavian, die
ja erst am Ende der 40 er Jahre entstanden sind. VermutHch aber
denken wir noch besser an das nächste Jahrzehnt, in die Zeit,
als Frieß von Zürich fortgezogen und Ruof genötigt war, zu dem
Verleger Froschauer überzugehen. Da dieser, wie der Druck des
Ruof sehen Adamdramas zeigt, nicht geneigt war, solchen Aus-
gaben dramatischer Werke Illustrationen beizugeben, entschloß sich
Ruof wohl, von seinem noch ungedruckten Weingartenspiel wenig-
stens eine schön illustrierte Handschrift herzustellen. Daß sie
nicht bestimmt war, mit ihren Bildern die Vorlage für einen Druck
herzugeben, so daß also die Zeichungen zur Grundlage für den
Holzschnitt hätten dienen sollen, zeigt wohl nicht nur das Format
des Manuskriptes, das in stattlichem Quart gehalten ist, während
alle die Züricher Dramendrucke das übliche knappe Oktav haben,
sondern besonders der Umstand, daß die einzelnen Zeichnungen
nicht wie es für den Druck nötig gewesen wäre, von gleichem
Format, sondern vielmehr ganz verschieden groß sind. Ein ter-
minus post quem non ist das Jahr 1558: denn da ist Jakob Ruof
gestorben.
Durch die so gewonnene Datierung ergibt sich jedenfalls das
Eine mit Sicherheit, daß wir es nicht mit einer in unmittelbarster
zeitlicher Nähe der wirklichen Aufführung gewonnenen Fixierung
der Theaterverhältnisse zu tun haben können, sondern im günsti-
gen Fall nur mit einer ganz späten, gewiß vielfach schon getrüb-
ten Erinnerung oder aber auch nur mit dem Versuch, bei der Illu-
stration des Dramas einigermaßen darauf Rücksicht zu nehmen,
wie eine Aufführung ungefähr ausgesehen haben würde. Es wird
sich jedenfalls also auch nicht um die Theaterverhältnisse der
dreißiger, sondern um die der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts
handeln. Ein bewußtes Streben, das wirkhche Bild einer Inszenie-
rung und nichts als dieses zu bieten, liegt jedenfalls nicht vor; ja,
der Künstler ist sichtlich hie und da einmal auch geradezu ins Un-
theatralische verfallen. So strahlt auf mehreren Bildern (vgl. z. B.
u. Abb. 112, 119, 120) um das Haupt des Vaters und des Sohnes
der Heihgenschein — ein rein illustratives Mittel und wohl ge-
wählt, um dem Betrachter der Zeichnungen die beiden Gestalten,
die sich in ihrer Tracht kaum herausheben, als göttlich zu kenn-
zeichnen. Auf dem Titelbild, das freilich eine eigentliche Situation
des Dramas überhaupt nicht darstellt i), erscheint oben in den
Wolken Gott Vater in theatralisch völlig undarstellbarer Art, — es
ist rein zeichnerische Zugabe: im Text kommt eine derartige Er-
1) Es ist bei Wyß S. 141 ganz falsch erklärt: die links stehenden Gestalten sind
nicht „Papst und Kardinal, zwei Herolde", sondern Vater und Sohn sowie Titus und
Vespasianus.
478
Theatralisches: der Schauplatz.
scheinung Gottes überhaupt nicht vor. Anderseits aber haben die
im Beginn dieser Erörterung zusammengestellten Momente ergeben,
daß eine gewisse Berücksichtigung des Theatralischen in den Bildern
doch vorliegen muß, und so werden wir ihre Gesamtheit nun noch
daraufhin zu prüfen haben, in welchen Punkten etwa Aufführungs-
elemente mit auf die Zeichnungen gelangt sind. Wie gewöhnlich
kommen Schauplatz, Kostüm und Gebärden in Frage.
Daran, daß der Zeichner auch das theatralische Wesen*^des
Schauplatzes mit herangezogen haben könnte, darf man hier
Abb. 112. J. Ruof, Weingartenspiel, Höllenrachen zu Akt 2 (Wyß N. 9).
jedenfalls eher als bei den Holzschnitten der Frießschen Drucke
denken; denn jener Hochgebirgshintergrund, der dort sofort den
nicht-theatralischen Charakter offenbarte, fehlt hier vollständig.
Anderseits aber ist hier nicht wie auf den Lyoner Terenzbildern
und auf den Holzschnitten zu Gengenbachs Spiel von den zehn
Altern ein bretternes Podium abgebildet; der Boden, auf dem die
Personen schreiten, ist vielmehr mit Gras und Kräutern bedeckt
und zeigt gelegentlich auch eine leichte Erhebung, — Dinge, die
wohl kaum für den Münsterhof zutreffen, auf dem 1589 das Wein-
gartenspiel dargestellt worden ist. Daß wir in der Höllendarstel-
Die Hölle.
479
lung'), die dem Anfang des zweiten Aktes beigegeben ist (Abb.
112, S. 478), die Nachbildung eines wirl<lichen Dekorationsstücl^es
vor uns haben, wurde schon oben betont; daß der Künstler aber
nicht unter allen Umständen eine solche Abbildung des Theater-
wirklichen geben wollte, zeigt das Bild der Hölle aus dem vierten
Akt (Abb. 113): der bretterne Verschlag, den man eigentlich auch
hier sehen müßte, fehlt an dieser Stelle; ja, ein Vergleich der beiden
Darstellungen bestätigt jene chronologisch gestützte Annahme, daß
der Künstler kein sicheres Erinnerungsbild an die theatralischen
Abb. 113. J. Ruof, Weingartenspiel. Höllenrachen zu Akt i (AVjiS N. 53).
Gebilde von der Aufführung her in der Seele getragen haben kann:
die beiden Rachen, in deren Bild der Hölleneingang erscheint, sind
einander nicht gleich, und es ist ja ferner nicht außer Acht
zu lassen, daß die Hölle auch auf Gemälden und Holzschnitten,
die sicher nichts mit dem Theater zu tun habend), wie früher
so auch noch im 16. Jahrhundert, z. B. bei L. Cranach und
1) Die Reproduktionen, sämtlich in Originalgröfäe, sind nach Aufnahmen des Photo-
graphen H. Lobers in Berlin gegeben : durch die Güte der Bibliotheksleitung durfte ich die
St. Galler Handschrift wiederholt hier in Berlin benutzen. — Zur Ergänzung sind die bei
Könnecke S. 92 f. wiedergegebenen Zeichnungen heranzuziehen.
2) Vgl. aber auch die Höllenrachen auf Foucquets dem Theatralischen so nahe
stehender Apolloniaminiatur.
480
Nichttlieatralischer Charakter der Darstellungen des Weingartens.
J. Wächtlin, als gewaltiger Tierrachen dargestellt wird. Das gleiche
Verhalten dem Lokal gegenüber: ein gewisses Bemühen bei der
Wiederkehr derselben Situation, die örtlichen Verhältnisse gleich-
artig zu gestalten, anderseits aber doch eine Differenz in manchen
Einzelheiten, die nicht übersehen werden kann, zeigt auch die
Situation des Spiels, in der es sich um eine besonders charakte-
ristische Bühnenanlage gehandelt haben muß: die Darstellung des
^•^^ ik^J"
^.j^u^rM^'^^^''^^
■Jj '■r*W*--7-
Abb. 114. J. Ruof, Wintergartenspiel. Titelzeiclmung (Wyß N. 1).
Weingartens selbst. Wenn man Abbildung 114 und Abbildung 115
(S. 480/1) nebeneinanderlegt, erkennt man, daß namentlich in der
Anlage der Fenster des Hauses und des Turmes, die in den
Weingarten eingeschlossen sind, zwar eine annähernde, aber
durchaus keine völlige Gleichheit erzielt worden ist. Aber auch
abgesehen von solchen Differenzen der beiden Bilder, die an der
theatralischen Wirklichkeit der dargestellten Anlage zweifeln läßt,
gibt die Vorführung des Weingartens in diesen Zeichnungen über-
haupt sehr zu denken. Die Art, in der der Schauplatz des Wein-
gartenspiels — durchaus nach mittelalterlicher Weise — einge-
Niclittheatralischer Charakter der Darstellungen des Weingartens.
481
richtet gewesen sein muß, läi^t sicli nach den Anforderungen, die
der Text an die Lage der einzelnen Standorte der Personen und
ihre Wege zwischen diesen einzehien Standorten stellt, durchaus
erschließen. Wir geben hier (S. 482) einen Situationsplan, ohne den
Versuch zu machen, die von uns rekonstruierte Anordnung im
einzelnen zu begründen. In nebensächlichen Punkten mag das
Eine oder Andere anders gewesen sein, als es auf unserer Plan-
skizze erscheint; in der Hauptsache und im besondern in der Lage
Abb. 115. J. Ruof, Weingartenspiel. Weingarten zu Akt 2 (WyßN. 19).
des Weingartens wird schw^erlich ein Irrtum vorliegen. Und da
zeigt sich nun, daß wir zwar an dem Mangel einer Tür in dem
auf den Zeichnungen dargestellten Zaun keinen Anstoß zu nehmen
brauchen, denn diese Tür kann nicht dem Turm gegenüber, son-
dern nur an einer der Seiten gelegen haben, die nicht mit auf die
Bilder gekommen sind. Völlig unbegreifhch aber ist die ganze Existenz
des Hauses, das außer dem Turm in den Weingarten mit einbe-
zogen ist. Weder die Dichtung selbst noch ihre biblische Quelle,
die beide nur den Turm erwähnen, noch endlich irgendeine thea-
tralische Notwendigkeit rechtfertigen die Aufnahme dieses Hauses;
und mitten auf dem Münsterhof, auf dem der Weingarten, nach
Herrmann, Theater.
31
482
Nichttheatralischer Charakter der Darstellungen des Weingartens.
allen Seiten hin frei, aufgebaut gewesen sein muß, hat schwerlich
ein solches Haus gestanden; die alten Stadtpläne geben auch nicht
die geringste Veranlassung zu einer entsprechenden Annahme. Es
bleibt nur eine Erklärung: der Zeichner hat an einer andern
Stelle des Manuskriptes, in der szenischen Bemerkung hinter Vers
2843, gelesen : Jetz gond die dry jns haß und hat es für nötig ge-
halten, seine Erinnerung an diese Erwähnung eines Hauses auf den
beiden einzigen Bildern, die eine nennenswerte Darstellung des
Lokalen boten, durch die Aufnahme dieses gänzlich deplazierten
Hauses zu betätigen. So ergibt sich, daß, wie gewöhnlich, so auch
vr„„i,i
Engel Vater Sohn
1
Baumeister
Himmel
Handbub || |
Moses
Aaron
.2
CS
>
C
CO
3
H
Tür
Hausknecht
Batt. Carli
Propheten
Arbeitsplatz
c^anl Weingarten
Schmaus u.
Musik
Apostel
Kriegsleute
des Vespasian
U
Turm
Markt
Kriegsleute
des Titus
Landsknechte
Büchsen-
schützen
Hölle
hier für die Vorstellung des eigentlich lokalen Elements nichts ge-
lernt werden kann; jene Hölle, deren theatralische Wirklichkeit wir
oben betont haben, macht die einzige Ausnahme.
Wesenthch günstiger liegen die Dinge in bezug auf die Ko-
stüme. Daß hier auch Alltagstrachten erscheinen, die von den im
gewöhnlichen Leben verwendeten in keiner Weise abweichen, braucht
nicht Wunder zu nehmen: Bauern, Rebleute, Landsknechte, Büchsen-
schützen usw. mußten natürlich in ihrer üblichen Gewandung
vorgeführt werden, wenn ihr Beruf den Zuschauern deutlich wer-
den sollte; auch die Tracht der vornehmeren Personen: des Vaters,
des Sohnes, des Baumeisters, des Nachbarn, unterscheidet sich
wohl kaum von der landesüblichen; nur in den Beigaben: der
Die Kostüme der Weingartenzeichnungen.
483
Kopfbedeckung, dem Schwert scheint etwas Fremdartiges, Phan-
tastisches speziell auf das Konto der Aufführung zu setzen zu sein.
Auf Grund so geringfügiger Einzelheiten aber würde man noch
nicht behaupten können, daß dem Zeichner irgendeine Erinnerung
an theatralische Eindrücke vorgeschwebt hat; der Mangel einer
völhgen Gleichmäßigkeit des Kostüms bei der wiederholten Vor-
führung derselben Personen weist überdies, wie wir Ähnliches
auch beim lokalen Element, z. B. bei der Hölle, beobachtet haben,
Abb. 116. J. Ruof, Weingartenspiel. Herold und Aktor im Vorspiel (Wyß N. 3).
darauf hin, daß der Zeichner schwerlich die Erinnerung an ganz
bestimmte Kostüme im Kopf gehabt hat. Das Gleiche gilt auch
von der Darstellung des Heroldskostüms, das dreimal verschieden
erscheint, obwohl es sich doch in allen drei Fällen um den gleichen
Herold handelt. Anderseits ist aber trotz aller solcher Abweichun-
gen doch der Grundcharakter der Heroldstrpcht jedesmal fast der-
selbe und so ganz aus dem Alltäglichen herausfallend, daß wir hier
schwerlich auf müßige Phantasievorstellungen des Zeichners wer-
den schließen dürfen, sondern gewiß anzunehmen haben, daß er
31*
484
Die Heroldskostüme.
Abb. 117. J. Ruof, Weingartenspiel. Herold und Aktor am Ende (Wyß N. 75.)
t^
JWi^
^
^g
%
^^s
ß%
i
w
M'
w%
1 ,
4
€
1
^
' O'-
\
n
A.
-^^ — ^^'
Abb. 118. ,1. Riiof, Weingartenspiel. Herold als Epilog (Wyß N. 7«.
Heroldskostüme, üeislliclie Verkleidung. 485
den Stil, in dem die Theaterherolde in der Mitte des 16. Jahr-
hunderts gekleidet zu sein pflegten, wenn auch jedesmal in einer
andern Ausprägung, auf seinen Illustrationen wiedergegeben hat.
Daß der Zeichner wirkliche Theaterkostüme im Kopf hatte, dafür
spricht auch die Darstellung des Titus und des Vespasianus, wie
sie schon auf dem Titelbilde der Handschrift (Abb. 114, o. S. 480)
sich findet: sie erscheinen im ritterlichen Harnisch, wie sie denn
im Text des Dramas durchaus auch nur als Ritter, nicht aber als
römische Kaiser bezeichnet werden; auf dem Haupte aber tragen
sie die Krone, eine Reminiszenz vermuthch an die Art, wie der
Dichterregisseur sie ausstaffiert hatte, der als ein Gelehrter ent-
schieden wußte, daß jene beiden auf dem römischen Thron ge-
sessen haben, und der sie infolgedessen, einer an anderer Stelle
dieses Buches i) nachgewiesenen Theatertradition gemäß, ständig
mit der Krone auf dem Haupt herumgehen Ueß.
Ferner weist auch eine charakteristische Kennzeichnung der
Personen, die im übrigen die Tracht der Wirklichkeit, nicht die
besondere Tracht der Bühne tragen, auf die Berücksichtigung des
Theaters hin; ja, sie kann sogar als ein Symptom dafür erscheinen,
daß der Zeichner eine Erinnerung an die wirkUche Aufführung des
Jahres 1539 im Kopf gehabt hat. Der Verfasser schreibt nämlich
von dem Moment an, wo die im Weingarten beschäftigten Personen
zu offener RebeUion gegen den Besitzer vorgehen, vor, daß die
ganze Besatzung des Weingartens — zu völliger Verdeutlichung des
tendenziös reformatorischen Sinnes, den das Spiel enthält — geist-
liche Tracht anlegen. Carli gebietet (v. 1929 ff.):
leg Jeder an ein geistlich Meid!
sol vwer kry vnd zeichen sin,
damitt ein ieder könne fin
den anderen kännen wohl vnd recht
vnd das ir all sind mine knächt,
und in der am Schluß des Aktes folgenden szenischen Bemerkung
heißt es ausdrücMich: Jetz sond sij all jnn thurn gon vnddiekutten
anlegen. Danach sollte man annehmen, daß die ganze Besatzung
auf den folgenden Bildern als Mönche und Nonnen erscheinen. Tat-
sächlich aber sehen wir nur drei von ihnen in völlig geisthchem
Gewand: Batt als Papst, Carh als Kardinal und Hanns 01t, den
Satan, als Bischof; die übrigen Personen tragen nur eine schmale
Stola über ihrem gewöhnlichen Gewand; die Landsknechte haben
außer der Stola noch eine Art kapuzenförmiger Kopfbedeckung 2).
Dieses Verschmähen der völligen Einkleidung ins geistliche
Gewand hat offenbar seinen sehr guten theatralischen Sinn: die
1) S. 115, 120 f.
2) Vgl. die Reproduktion bei Könnecke S. 93, Abb, 11.
486 Geistliche Verljleidung.
Zuschauer würden die einzelnen Figuren, wenn sie alle ins Mönchs-
und Nonnenkleid geschlüpft wären, nicht mehr haben auseinander-
halten, ja sie auch nicht von den Abgesandten des Vaters, den
Propheten, die ebenfalls geistlich gekleidet sind, deutlich haben
unterscheiden können, während durch die Verwendung der Stola
alle Forderungen erfüllt werden; Papst-, Kardinals- und Bischofs-
gewand dagegen sind so charakteristisch, daß sie zur Genüge von
den übrigen sich abheben, — bei Hanns 01t, dem Bischof, kommen
außerdem noch als besonderes Kennzeichen die Teufelsfüße dazu,
die unter dem geistlichen Kleide sichtbar bleiben. Es fragt sich
nur das Eine: müssen wir wirklich annehmen, daß der Zeichner
sich bei dieser Vorführung des Kostüms an die Inszenierung des
Jahres 1539 erinnert oder von dem Dichterregisseur auf diese Art
der Inszenierung aufmerksam gemacht worden ist, oder ist es viel-
leicht möglich, daß er sich aus andern als den oben genannten
Stellen des Textes selber ausreichende Anhaltspunkte für jene
Charakteristik der Kostüme gewinnen konnte. Eine Stelle des
vierten Aktes (v. 3192 ff.) scheint allerdings einen wichtigen An-
halt bieten zu können. Hier charakterisiert der Prophet Hoseas
dem Vater zunächst die Kriegsknechte und dann die übrigen In-
sassen des Weingartens in folgender Weise:
ein seltsam kry hands gnoWien an,
darby man dbiiben kännen kan.
ein ieder ob dem rock antreit
ein kappenzippfel angeleit,
damitt sich dluren hand bekleidi.
nach fürstlicher art und herligkeit
da eir dem bapst sich halt verglicht;
jch gloiib, der tiiffel hab jnn gwicht;
der ander ist glich eim Cardinal,
das ander fölckli jn der wal
jst münchen und den pf äffen glich.
Immerhin muß man aber bemerken, daß hier eigentlich nur
auf die Ausstattung der Landsknechte mit dem kappenzippfel,
nicht auf die der gesammten Besatzung, die nur die Stola
trägt, hingewiesen wird, und ferner, daß die Stelle auch keinen
Anhaltspunkt dafür gibt, den Satan vollständig als Bischof aus-
zustaffieren: die szenische Bemerkung hinter v. 2333 gibt ihm
nur den bischoffstab in die Hand, und endlich: da die ersten
Zeichnungen der charakterisierten Art lange vor den oben ange-
führten Worten Hoseas sich finden, so müßte man, wenn man
an gar keine theatrahsche Erinnerung des Zeichners oder des
ihn beratenden Dichters denken wollte, annehmen, der Illustrator
habe, ehe er an die Durchführung seiner Zeichnungen ging, ein
sehr eindringendes Studium des Textes im Interesse der Behand-
Propheten und Apostel
487
lung der Kostüme vorgenommen. Die Möglichkeit einer Erinne-
rung an die theatralische Wirklichkeit wird jedenfalls nicht ganz
von der Hand zu weisen sein.
Es bleiben endlich die Kostüme übrig, die mit den Trachten
des Alltags schon darum nichts zu tun haben können, weil ihre
Träger nicht wie die übrigen Personen auch als Gestalten des
wirklichen Lebens aufgefaßt werden können: die Propheten, die
Apostel, die Engel und die Teufel. Betrachten wir zuerst die Ge-
wandung der Propheten und der Apostel, so mag es als minder
wichtig erscheinen, daß sie zwar einen entschieden geistlichen Cha-
Abb. 119. J. Ruof, Weingartenspiel, Vater mit drei Propheten (Wyß N. 26).
rakter tragen, aber sichtlich von der üblichen Tracht der zeitge-
nössischen Geistlichen abweichen: die Propheten und die Apostel
durften, wie vorher schon angedeutet wurde, von den Zuschauern
nicht mit den Geistlichen des 16. Jahrhunderts verwechselt werden,
wenn nicht der ganze Sinn der antikirchlich gedachten Aufführung
verloren gehen solltei). Bemerkenswerter ist das offenkundig vorhan-
1) Die Tracht hat dabei natürlich ausgesprochen geistlichen Charakter, mit wirklicher
geistlicher Gewandung des 10. Jh. aber ließ sie sich trotz der Heranziehung des ausge-
zeichneten Werkes von J. Braun, Die liturgische Gewandung (Freiburg 1907) nicht in
Zusammenhang bringen. Am ehesten erinnern die Propheten noch an gleichzeitige Dia-
kone: vgl. den Holzschnitt bei J. A. Lonicer, Stand vnd Orden Der H. Römischen
Catholischen Kirchen (Frankfurt a. M. 1585), fol. B LH.
488
Proplieten und Apostel.
dene, wenn auch nicht ganz rein in allen einzelnen Zeichnungen durch-
geführte Bemühen, die Propheten und die Apostel auch unter ein-
ander durch die Tracht zu unterscheiden. Es ist für den tiefsten
Sinn des Dramas von der größten Bedeutung, daß das Bewußtsein
des Zuschauers diese beiden Arten der Boten Gottes immer ausein-
ander hält. Jene sind die ersten Hilfstruppen des Herrn, deren
Tätigkeit aber den vom Teufel verführten Menschen gegenüber sich
nicht als erfolgreich erweist. Die andern dagegen sind die, mit
Abb. 120. J. Riiof, Weingartenspiel. Vater mit den Aposteln (Wyß N. 62).
deren Hilfe schließlich doch das Reich Gottes auf der ganzen Erde
aufgerichtet wird. So muß es einen besonderen Habitus prophe-
talis geben, dessen Existenz auf der mittelalterlichen Bühne uns
auch schon in anderm Zusammenhang entgegen getreten ist ') und
der auch rein äußerlich die Propheten von den Aposteln unter-
scheidet. Wenn man die beiden Gruppenbilder der Propheten und
der Apostel, die wir hier (Abb. 119 und Abb. 120) reproduzieren, mit
einander vergleicht, so zeigt sich, daß die Propheten offenbar durch
ein im einzelnen wieder verschieden gearbeitetes ärmelloses Über-
1) Vgl o. S. 116.
Die flngel.
489
gewand charakterisiert sind, während die Apostel einen mit Pelz
verbrämten Mantel tragen; ob zu dem verschiedenen Schnitt und
dem verschiedenen Stoff auch eine Verschiedenheit in der Farbe
getreten ist, vermögen wir leider auf Grund unserer unkolorierten
Zeichnungen nicht auszumachen. Jedenfalls wird man betonen
dürfen, daß der Zeichner offenbar auch in diesen Punkten das
wirkliche Theater einigermaßen zu berücksichtigen gesucht hat.
Auch für die Darstellung der Engel wird sich nachweisen
lassen, daß der Zeichner die Art ihrer Vorführung auf dem Theater
und zwar im besondern bei der Aufführung des Ruofschen Spiels
im Auge gehabt haben muß. Denn von der in der bildenden
Kunst gebräuchlichen Charakteristik des Engelstypus i) weichen
Abb. 121. J. Ruof, Weingartenspiel. Engel Raphael (Wyü N. 55).
die beiden Zeichnungen unserer Handschrift, die den Gabriel 2) und
den Raphael (Abb. 121) vorführen, in wesentlichen Momenten ab.
Hier finden wir nicht das Kostüm, in dem der Engel auch auf den
Gemälden des 16. Jahrhunderts in den nördlichen Ländern gewöhn-
lich zu erscheinen pflegt und in dem ihn auch die Holzschnitte,
z. B. die in unserm Falle besonders nahe hegenden illlustrierten
Züricher Bibeln, dem Betrachter vor die Augen stellen, nämlich
das geistliche Gewand, und ebensowenig die antike Gewandung,
die die Renaissancekunst allmählich an die Stehe der geisthchen
1) Vgl. H. Mendelsohn, Die Engel in der bildenden Kunst (Berlin 1907). Das Ver-
hältnis zum Theater wird hier leider kaum gestreift.
2) Bei Könnecke S. 92, Abb. 6.
490 Engel in der Bildkunst und auf dem Theater.
Tracht zu setzen wagt, sondern wir erblicken ein Phantasiekostüm,
das freilich in gewissem Sinne seine Herkunft aus dem geistlichen
Kleid noch erkennen läßt, das sich aber anderseits auch entschieden
von ihm unterscheidet, namentlich in seinem unteren Teil, wo
unter dem tunikaartigen Gewände die kurzen Beinkleider der
Darsteller noch zum Vorschein kommen. Auch die Anordnung
der Flügel weicht wesentlich von der gewöhnlichen Art ab, die wir
auf deutschen Bildern bis tief ins 16. Jahrhundert hinein treffen.
Statt spitzer, aufgeplusterter, nach oben gerichteten Flügel mit un-
ruhigem Profil finden wir hier starke, in sich geschlossene, nach
unten gerichtete Fittiche, ähnlich wie sie der Engel auf der Edli-
bachschen Zeichnung und der Raphael auf der Tobiasdarstellung
der Brüsseler lebenden Bilder aufweisen i). Jene gezackten Fittiche
wären auf dem Theater gar zu leicht beschädigt worden, diesen
schweren Flügeln sieht man ihre Solidität, ihre Bühnenbrauchbar-
keit sehr wohl an. Auf theatralische Wirklichkeit im Gegensatz
zu den rein bildkünstlerischen Gepflogenheiten der Gemälde und
der Schwarzweißkunst deutet endlich auf den Zeichnungen der
Weingartenhandschrift auch die Behandlung der Füße hin: dort
werden diese entweder nackt dargestellt, oder sie sind durch das
lange Gewand verdeckt; hier dagegen sehen wir das übliche
Schuhwerk, das die Personen der übrigen Bilder auch tragen.
Neben solchen entschiedenen Abweichungen fehlt es freilich
auch nicht an Zügen, in denen die Engelsdarstellungen unserer
Zeichnungen mit der gewöhnlichen Vorführung in der bildenden
Kunst zusammentreffen. Das ist schon darin der Fall, daß die
Engel in der Handschrift als Jünglinge vorgeführt werden, wie
das um diese Zeit doch auch in der bildenden Kunst noch als das
Normale erscheint. Wir sehen ferner, daß die Flügel, aus denen
die Fittiche in der Weingartenhandschrift bestehen, sich aus Pfauen-
federn zusammensetzen: auch das ist ein Zug, der in der bilden-
den Kunst, namentlich des 15. Jahrhunderts, sehr beliebt ist.^)
Wenn endlich der Engel Gabriel in der Handschrift auf dem Kopf
ein Kreuzchen trägt, so ist auch das nicht ohne Seitenstück in der
bildenden Kunst: auf manchen Bildern treffen wir Engel, die als
Kopfschmuck ein Band oder einen Reif haben, an dem sich ein
kleines Kreuz befindet. Indessen dürfen wir hier hervorheben,
daß die Bilder, die den Kreuzschmuck zeigen, in einer ganz an-
1) Abb. 64, S. 375 u. Abb. SO, S. 415. Die beiden Engel auf dem Brüsseler Liikas-
hild (Abb. 76, S. 399) haben keine Flügel, offenbar, um nicht mit ihnen zu viel von den
übrigen Figuren zu verdecken.
2) Anderswo sind bei theatralischen Vorrührungcn die Engelsflügel vergoldet, so 1496
in Dresden (Richter: NASächsG. 4, S. 112) oder mit goldenen Flammen verziert: 1572
in Lüneburg (Expeditus Schmidt S. 17).
Ensel in der Bildkiinsl und auf dem Theater. 491
dern Gegend: in den Niederlanden und den Rlieinlanden, zu finden
sind, und ferner, daß als Kopfschmuck der Engel auf den Bildern
der eigentlichen deutschen Renaissance mit Vorliebe der frische
Kranz verwendet wird.
Wichtiger aber ist es, zu betonen, (hiß im Grunde das Vor-
handensein jener Übereinstimmungen mit der bildenden Kunst gar
nicht gegen die theatralische Realität unserer Zeichnungen spricht.
Es ist ja von vornherein verständlich, daß gerade in der Ausstat-
tung der Engel Theater- und Bildkunst nicht zu weit voneinander
abweichen dürfen, ja daß das Zusammentreffen noch über solche
Züge, wie wir sie hier als gleichartig erkannt haben, hinausgehen
muß. Die Darstellung so heiliger Gestalten, wie die Engel es sind,
muß auf allen Gebieten etwas Gleichartiges haben, darf nicht der
Phantasie des einzelnen Meisters und des Volkes zu beliebiger Aus-
gestaltung überlassen werden, während bei der Darstellung des Un-
heiligen, des Teufels, schon viel eher die Einbildungskraft sich frei
betätigen kann. Auf dem alten Theater gibt es, genau genommen,
offenbar nur eine Normal-Engeltracht. In den Bühnenrodeln der
Luzerner Osterspiele vom Jahre 1545 heißt es in bezug auf die Tracht
der Engel einfach nur, sie sollen auftreten wie engel sond cleijt syn :
man kennt also nur eine Art der Kostümierung, die im Grunde jede
Willkür ausschließt, und auch in den Luzerner Anw^eisungen des
Jahres 1583 ist in bezug auf die eigentliche Tracht wiederum nur
von Engelskleidung und Zierd die Rede; lediglich die Farbe: wyss
wird hier noch besonders hervorgehoben. Auch aus dem Fehlen
irgend welcher Kostümvorschriften für die Engel in den Hand-
schriften der spätmittelalterlichen Spiele hat man den Schluß gezogen,
daß die Regisseure hier über die Kostüme ganz und gar nicht im
Zweifel sein konnten.i) Die Tracht aber, um die es sich handelt,
kann, genau wie auf den Bildern, immer nur die geistliche Tracht
gewesen sein. Wenn sie uns auf den Bildern erst seit dem 13. Jahr-
hundert entgegentritt, während die Osterfeiertexte sie schon früher vor-
schreiben, werden wir wohl nicht irre gehen, w enn wir annehmen,
daß in diesem Fall wie in so manchem andern das Theater hier
die ursprüngliche Anregung geboten hat, daß die Bildkünstler die
Erscheinung des Engels in den liturgischen Osterspielen nach-
geahmt haben. Wir verstehen auch hier auf dem Theater den
Ursprung der ganzen Erscheinung am ehesten: sie stammt aus
jenen ältesten Zeiten, wo die Ausstattung noch mit den allerein-
fachsten Mitteln betrieben wurde und wo daher in der Rolle der
Engel die mit ihr betrauten jungen Kleriker lediglich im schlichten
weißen geisthchen Gewand vor die Augen des Publikums traten.
1) P. Heinze, Die Engel auf der mittelalterlichen Mysterienbühne Frankreichs
Diss. Greifswald 1905, S. 19.
492 Engel und Teufel auf dem Theater.
Auf die nahe Verwandtschaft zwischen den Engehi der Bildkunst und
denen des Theaters weist auch jene Darstehung der Brüsseler
lebenden Bilder: hier finden wir auf Raphaels Haupt sogar jenes
kreuzgeschmückte Diadem, das die Engel auf den Gemälden jener
Gegend zu tragen pflegen, — man muß dabei freilich den Um-
stand nicht vergessen, daß bei den Brüsseler Vorführungen Maler
als Regisseure tätig gewesen sind. Eine Annäherung des Theaters
an die Gepflogenheiten der Bildkunst treffen wir auch auf der
Luzerner Bühne des Jahres 1583, sowohl was das Haupt wie was
die Füße der Engel betrifft: neben dem Crütz und den Bärlin auf
dem Kopf, einem Schmuck also, der etwa der Auszierung des Ga-
briel in der Weingartenhandschrift entspricht, werden auch Kräntze
verlangt, und es heißt ferner: vnden an Füssen gemalet Strumpf
mit Solen, aus ob sij barfuß giengen.^) Im übrigen aber ist hier
in dem katholischen Luzern das alte geistliche Theatergewand der
Engel beibehalten; in der stark antikatholischen Züricher Wein-
gartenaufführung konnte man es so wenig brauchen wie den sonst
wohl theaterüblichen Bischofshut^) in unserer Handschrift. So
dürfen wir die Zeichnung der Engel wohl durchaus als theatralische
Wirklichkeit in Anspruch nehmen.
Besonders interessant endlich sind die Teufelsbilder, die wir
hier sämtlich wiedergeben (Abb. 122/5, S. 493 f., dazu Abb. 112/3,
S. 478 f.), weil sie uns ein besonders charakteristisches und mannigfal-
tiges Bild der wirklichen Theaterteufel offenbaren. Die starke Berück-
sichtigung der tatsächlichen Aufführung, wie sie uns in bezug auf
das Kostüm in den Zeichnungen entgegen getreten ist, wird uns
ohne Weiteres der Annahme geneigt machen, daß wir es gerade
auch bei den Teufeln mit einer Wiedergabe der Theaterkostüme
zu tun haben. Immerhin aber wird es sich empfehlen, auch hier
mit der äußersten Vorsicht vorzugehen und zunächst einmal zu
fragen, was wir denn von dem theatralischen Teufelskostüm sonst
wissen. Wahrend die Texte der Dramen uns wie gewöhnlich ganz
im Stich lassen, bieten einen gewissen Anhalt die Rechnungen
über die Ausstattung des Johannisspiels, das im 15. und 16. Jahr-
hundert prozessionsweise in Dresden aufgeführt wurde. Hier sehen
wir'^), daß die Teufelskleider aus Leinwand angefertigt und dann
mit Ruß schwarz gemacht wurden. Damit stimmen unsere Bilder
1) Germania 30, S. 325.
2) Die Mitra, ohne Bänder, in einer alten französischen Osterfeier (Heinzea.a. 0.,
S. 20) und noch 1572 auf der Lüneburger Schulbiihne: wenigstens wüßte ich nicht, wer
den in den dortigen Rechnungen über die Kosten einer Aufführung der Komödie vom
reichen Mann und armen Lazarus erwähnten biscoppes hoet anders getragen haben sollte
als der Engel. In der bildenden Kunst scheint dieser Kopfschmuck des Engels nicht vor-
zukommen.
3) Vgl. Otto Richter, Das Juhannisspiel zu Dresden: NASächsG. 4 (1883), S. 112.
Die Teufcls(larstelIiino;en der Weinsartenhandschrifl.
493
Abb. 122. J. Rixof, Weingartenspiel. Teufelsbote und Luzifer (Wyß N. 10).
Abb. 123. .1. Ruof. Weingartenspiel. Satan (Wyß N. 11).
494
Die Teufelsdarstellungeii der Weingarteiihandschrift.
Abb. 124. J. Ruof, Weingartenspie]. Teufel Bell (Wyß N. 12).
Abb. 12r). J. Ruof, Weingartenspiel. Teufel Aslaroth (Wyß N. 13l
Teufel auf dem Theater. ' 495
offenbar nicht überein. Die Teufelsausstattung war aber offenbar
nicht an allen Orten die gleiche. Und wenn wir auch keinen Nach-
weis für eine andere Grundanlage des Kostüms unmittelbar von
einer theatralischen oder dem Theatralischen ganz eng verwandten
Vorführung bieten können, so wird man doch auch wohl die
Ausstattung der Teufel mit heranziehen können, wie sie beim
Nürnberger Schembartlaufen zur Anwendung kam : es ist nicht an-
zunehmen, daß bei einer solchen öffentlichen Verkleidung die
Teufel anders aussahen als auf dem Theater und bei den theatra-
hschen Prozessionen. Und da hören wir nun^), daß im Jahre
1539, also genau im Jahre der Aufführung des Weingartenspiels,
in Nürnberg eine große Anzahl von Personen durch die Straße ge-
laufen seien in Rauhen Teuffels Kleidern; hier kommt also offen-
bar ein Stoff zur Verwendung, wie er sonst auch für die Aus-
staffierung der „wilden Männer" benutzt wird, und einen derartigen
Stoff haben wir jedenfalls auch auf den Züricher Bildern vor uns.
Die Dresdener Rechnungen verzeichnen ferner zum Jahre 1500 einen
Posten: 1 gr. vor 2 teuffelröckenn für fus unden anzumachen.
Auch diese Füße finden sich auf unsern Zeichnungen wieder, und
man wird es gewiß nicht für theaterunmöglich ansehen, wenn hier
nun auch die Hände in der gleichen Weise ausgestattet sind ; zum
Überfluß lassen sich die tierischen Teufelshandschuhe anderweitig
auch urkimdlich nachweisen: in den Notizen über die Aufführung des
Luzerner Antichristspiels v. J. 1549 wird vom Kostüm der „Laster"
gesagt: sie sollen haben hend und füß clauen wie tüffel^). Die
gleichen Luzerner Notizen zeigen uns nun auch, daß die Theater-
teufel tatsächlich Masken auf dem Kopf getragen haben. Nicht
nur heißt es von den Lastern, daß sie im Gegensatz zu ihrer son-
stigen teuflischen Ausstattung khein tiiffels kopff tragen sollen ; es
wird vielmehr hier für die Teufel selbst vorgeschrieben: kein tiiffel
soll ein beschlossnen tiiffels kopff harn; offenbar werden hier im
Gegensatz zu primitiven Masken mit geschlossenem Munde solche
mit beweglichen Rachen verlangt, wie sie wohl auch auf den Zü-
richer Teufelsbildern (vgl. z. B. Abb. 124) uns vor die Augen treten 3).
Es findet sich aber in den Zlmcher Bildern nun doch noch
Verschiedenes, was sich nicht auf solche Weise durch urkundliche
Quellen für die Bühne nachweisen läßt. Da sind einmal die fleder-
1) Das Nürabergische Schembartbuch her. von K. Drescher (Weimar 1908) S. 18.
2) Vgl. Brandstetter: ASNS. 75, S. 394.
3) Sehr interessant ist es, daß auf dem mittelalterlichen Theater außer den Teufeln
offenbar nur noch Judas gelegentlich eine Maske trägt {1 qr. idem [Straßberger] hath die
Judaslarffe anders gemacht: Rechnung vom Jahre 1504, Richter a.a.O. S. 111), wo-
durch er also von vornherein als Angehöriger des Höllenkreises charakterisiert wird. In
der Löbauer Kreuzerfindungsprozession schreitet Judas mit Teufel und Tod zusammen in
einer Gruppe; vgl. Preusker, Blicke in die vaterländische Vorzeit 1 (1841), S. 98.
496
Teufelstrachten und Teufelsmasken.
mausartigen Flügel, die unmittelbar an die Ärmel des Gewandes
angenäht zu sein scheinen. Schon diese Art der Befestigung wird
uns aber von der Theaterwirklichkeit der Flügel einigermaßen über-
zeugen: rein zeichnerisch wäre es gewiß wirksamer gewesen, die
Flügel auf dem Rücken anzubringen; dort aber hätten sie steif
und starr gesessen, während die Teufelsspieler sie mit den Armen
f
Abb. 126 u. 127. Teufelskostüm aus Tirol (vgl. S. 497, Anm. \).
Vorderansicht. Seitenansicht.
zugleich; in Bewegung setzen konnten. Zum Überfluß können wir
aber auch durch die Wiedergabe eines wirklichen Teufelskostüms,
das aus Tirol und sicherlich aus alter Zeit und noch älterer Tradition
stammt, zeigen, daß dabei Flügel zur Verwendung gekommen sind
(Abb. 126 u. 127); wir erhalten hier gleichzeitig ein Bild von dem
oben erwähnten beweglichen Rachen der Teufelsmasken, während
die andern von uns (Abb. 128 u.l29, S. 497 f.) wiedergegebenen Teufels-
Teufelstrachten und Teufelsniasken. 497
larven aus Sterzing und aus Oetz diesen beweglichen Rachen nicht
haben 1). Es bleibt somit nur ein Letztes auf den Züricher Bildern
übrig, was sich nicht direkt für das Theater nachweisen läßt: das
ist der Umstand, daß sich die Tiergesichter der Teufel nicht nur vor
dem Gesicht, sondern bei den meisten Teufelsgestalten auch sonst
am Körper noch wiederfinden. Diese merkwürdige Ausstattung
treffen wir zwar gar nicht selten in der bildenden Kunst; dadurch
ist ja aber ihre Theaterwirkhchkeit noch keineswegs erwiesen, im
Gegenteil, es besteht zunächst der Verdacht, daß der Züricher Zeichner
sich in diesem Zuge nui- an die Bildkunst gehalten hat und daß seine
Abb. 128. Teufelsmaske aus Sterzing, Museum Ferdinandeum zu Innsbruck.
Darstellungen darin mit dem Theater nichts mehr zu tun haben.
Zum Glück bleibt auch hier ein Material übrig, das uns die prak-
tische Verwendung jener Tiermasken für wirklich getragene Kostüme
nachweist: die schon oben genannten Nürnberger Schembartbücher.
Im Jahre 1516 wurde beim Schembartlaufen auf der sogenannten
Hölle ein kinderfressender Teufel gezeigt, dessen Abbildung in den
verschiedenen Schembartbüchern sich erhalten hat, und so wenig
wir uns nach irgendeinem von ihnen ein genaues Bild von dem
wirklichen Aussehen der tatsächlich damals vorgeführten Figur
1 ) Das zuerst genannte Stück befindet sich im Besitz Sr. Exzellenz des Herrn Grafen
Dr. Hans Wilczek auf Schloß Seebarn bei Korneuburg, der mir auf meine Bitte gütigst Photo-
graphieen anfertigen ließ; auch dem gräflichen Bibliothekar Hrn. C. Sawertal bin ich für
freundliche Auskünfte sehr verpflichtet. Die andern gehören dem Museum Ferdinandeum in
Innsbnick, das mir ebenfalls mit größter Bereitwilligkeit photographische Abbildungen zurVer-
fügung stellte. — In der Schweiz habe ich vergebens nach alten Teufelsmasken und -kostümen
Umfrage gehalten; doch gehen die im Baseler Museum vorhandenen tierartigen Fastnachts-
trachten aus dem Lötschtal vielleicht auf alte Teufelstrachten zurück. Masken aus dem
18. Jh. z. B. im Nürnberger Germanischen Museum. Auch solches jüngere Material könnte
natürlich durch eine vergleichende Betrachtung für die Erschließung der älteren Tradition
fruchtbar gemacht werden.
Herrm an n, Theater. 32
498
Teufelstrachten und Teufelsmasken.
machen können, da sie zum größten Teil aus späterer Zeit stammen
und im einzelnen willkürliche Änderungen vornehmen, so stimmen
sie doch allei) in dem hier entscheidenden Zuge überein, daß der
Teufel vorn auf dem Leib und auf den beiden Knien sonderbare
Masken trägt, in der Weise, wie sie auf unsern Züricher Bildern
genau an der gleichen Stelle zu finden sind. Über den Ursprung
solcher Hypertrophie in der Verwendung der Masken dürfen wir
vielleicht um so eher eine Vermutung
wagen, als diese gerade auf unseren
Zusammenhang sich bezieht. Nichts
spricht dafür, daß diese Ausstattung des
Teufelskörpers in theologischen oder in
volkstümlichen Vorstellungen ihren Ur-
sprung hat; an eine Übertragung von
den antiken Rüstungen, bei denen ja
ebenfalls Köpfe an verschiedenen Stel-
len als Schmuck verwendet werden, ist
nicht zu denken, da das erste Auftreten
dieser Ausstattung des Teufelskostüms
einerseits in eine Zeit fällt, in der man
von antiken Rüstungen sicherlich keine
Ahnung mehr hatte, anderseits aber den
neuen , gelehrten Berührungen mit der
römischen Kultur in der Renaissancezeit
vorausgeht. Daß solche Anbringung von
Masken der reinen Phantasie der Maler
ihren Ursprung verdanken soll, ist eben-
falls durchaus unwahrscheinlich; die
einleuchtendste Erklärung wird viel-
Abb. 129, Teufelsmaske aus Oetz, mehr die Seiu, daß eS sich um eine Er-
Museum Ferdinandeum zu Innsbruck, fii^^ung des mittelaltedichen Thcatcrs
handelt : es ist durchaus der Psychologie der Schaubühne gemäß, die
Effekte durch Multiplikation zu verstärken. So lag der Gedanke nahe,
sich nicht mit der Maske des Gesichtes zu begnügen, sondern ähn-
liche Fratzen auch an andern Teilen des Körpers anzubringen ; das
oben abgebildete Tiroler Teufelskostüm und die Oetzer Maske
zeigen solche Hypertrophie wenigstens am Kopf. Vom Theater
her wird dieses Moment dann, wie soviel andere, von den Malern
auf die Bilder herübergenommen sein; in solchem Zusammen-
1) Nur drei unter den mir bekannt gewordenen Handschriften haben die Masken
weggelassen unci an die Stelle der einen dem Teufel die Mutter des Kindes in den Schoß
gesetzt, das er eben verspeist; alle drei stammen aus dem späten 17. Jahrhundert, wo
jenes Teufelskostüm nicht mehr lebendig war, und so hat offenbar die gemeinsame Vor-
lage jener drei Handschriften den unverständlicii gewordenen Zug der Maske im Schoß
durch ein anderes Motiv ersetzt.
Teufelstrachten und Teufelsmasken. 499
hange ist es bemerkenswert, daß die liier behandelte Ausstattung
des Teufels in der bildenden Kunst neben der immerhin häufigeren
Verwendung grotesker, kaum noch menschenähnlicher Tierkörper
erst im spätesten Teil des Mittelalters, also zu einer Zeit auftritt,
in der das Theater seine letzten Steigerungen bereits durchgesetzt
hattet). Eine Übertragungsstelle zeigen etwa die Teufel auf Fouc-
quets dem Theater so besonders nahe stehender Apolloniaminiatur
(um 1460).
Auf dem Theater ließ sich ferner diese Erfindung besonders
gut benutzen, um den Zuschauer in die Lage zu versetzen, die ver-
schiedenen Teufelsgestalten auseinander zu halten. Daß dieses
Problem die Regisseure des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigte,
ist keine bloße Hypothese, sondern wir können einen urkundlichen
Beweis dafür erbringen. In den Luzerner Bühnenrodeln vom Jahre
1583 heißt es nämUch^): die übrigen Tüffel. All j res Gfallens, jn
griiwlichen, doch ansehenlichen Kleidungen, doch seltzam und
vnderschydenlich, keiner nit wie der ander. Zur Erreichung dieses
Zwecks, zur Unterscheidung der Satan, Bell, Astaroth und Genossen
sind denn auch auf dem Züricher Theater, das uns durch die hier
behandelten Zeichnungen teilweise lebendig gemacht ist, abgesehen
von dem einen Teufelsboten (Abb. 122, s. S. 493), der wie ein städti-
scher Postbote mit dem Stab und dem kleinen Brustschild aus-
gestattet ist 3), wesentlich diese Masken am Körper benutzt worden.
Ein besonderes, kennzeichnendes Requisit steh tim übrigen nur, ab-
gesehen von den Blasbälgen des einen Höllenbildes (Abb.113, S.479),
für Luzifer zur Verfügung : es ist die Kette, an die er bei Christi Höllen-
fahrt von dem Heiland gelegt wird. Diese Kette, die z.B. imRedentiner
Osterspiel des 15. Jahrhunderts eine Rolle spielt, die auch in den schon
herangezogenen Luzerner Bühnenrodeln des Jahres 1583 für Lu-
zifer verlangt wird, trägt er auch auf dem Züricher Theater, offen-
bar als ständiges, ihn kenntlich machendes Attribut, um den Hals.
Mit dieser Ermittlung, daß die Kostüme der Züricher Zeich-
nungen einen entschiedenen Theatersinn besitzen, sind wir auch
am Ende unserer Feststellungen über den theatergeschichtlichen
Wert des Kodex. Denn für die theatralische Gebärdensprache
1) Freilich fehlt es leider völlig an einer ausreichenden Untersuchung über die Dar-
stellung des Teufels in der bildenden Kunst. Die alte Arbeit von Blomberg (Berlin
1867) und die neue Darstellung von W.Michel (München 1911 sind für unsere Zwecke
kaum zu brauchen; die kleine italienische Untersuchimg von Bastoni: II diavolo nell'
arte, Neapel 1902, habe ich nicht gesehen. Die einzige Arbeit von wissenschaftlichem
Charakter, die Dissertation von A. Koppen, Der Teufel imd die Hölle in der darstellenden
Kunst (Jena 1895), reicht nur bis zur Zeit Dantes vmd Giottos. Immerhin ist es bemerkens-
wert, daß in dieser Untersuchung von der hier interessierenden Ausstattung des Teufels
garnicht die Rede ist.
2) Vgl. R. Brandstetter: Germania 30 (1885), S. 334.
3) Vgl. den Nürnberger Postboten: Abb. 10, S. 123.
32*
500 Schweizerische und elsässische Dramenillustrationen.
geben die Darstellungen gar nichts her. Auf die Nachbildung der
individuellen Haltung eines der Schauspieler ist bei dem großen
zeitlichen Abstand zwischen Aufführung und Illustration gewiß
nicht zu denken, und bestimmte Affekte, durch die wir etwa eine
typische Gebärdensprache beobachten könnten, werden auf den
Zeichnungen nicht berücksichtigt.
Und damit stehen wir am Ende unserer Untersuchungen über
die schweizerischen Dramenillustrationen überhaupt. Was noch
folgt : die reizenden Federzeichnungen, die der Maler Tobias Stimmer
zu seiner allerliebsten Komödie geliefert hat, und die Holzschnitte
zu Christoph Murers „Ecclesia Edessana", geht zeitlich über die
hier behandelte Periode hinaus. Die wichtigsten Bilder aus der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aber, die endlich einmal auch
das lokale Element der Bühne überall deutlich berücksichtigen: die
Holzschnitte zu Johann Rassers „Spiel von der Kinderzucht", ge-
hören nicht mehr in die Schweiz, sondern in den Elsaß: der sie
enthaltende Druck ist im Jahre 1574 bei Thiebolt Berger in Straß-
burg erschienen 1). Eine kritische Prüfung dieser Bilder aber kann
hier nicht mehr erfolgen, sondern muß im Zusammenhange einer
besonderen Betrachtung der elsässischen Dramenillustrationen vor-
genommen werden, die von Grüningers Locher über Frölichs Wick-
ram zu Bergers Rasser zu führen hat. Immerhin durfte es auch
in unserm Zusammenhange zum Schluß betont werden, daß die
einzige deutsche Landschaft, die neben der Schweiz im 16. Jahr-
hundert wichtige Dramenillustrationen liefert, der der Schweiz so
eng verbundene Elsaß ist. Die Schweiz, das Mutterland des neueren
deutschen Dramas, ist auch der ursprünglichste und wichtigste
Boden für die deutschen Dramenillustrationen.
1) Proben daraus bietet Bolte: Wickrams Werke 6 (1905), S. 81 ff.
Schlußwort:
Die theatergeschichtlichen Gesamtergebnisse und
ihr geistiger Sinn.
„Der Ruf zum Tische ist mehr als das Brot." In der Ein-
leitung dieses Buches ist auseinandergesetzt worden, daß es in ihm
noch mehr darauf ankommt, eine bisher wenig geübte wissenschaft-
liche Betrachtungsweise durchzuführen, als darauf, eine wesentliche
Bereicherung unserer Kenntnisse zu liefern. Immerhin zeigt sich
wohl, nun wir am Ende des Ganzen stehen, daß auch in bezug auf
die unmittelbaren Ergebnisse die Untersuchung einigermaßen loh-
nend gewesen ist, und so empfiehlt es sich, diese Ergebnisse aus
der Zerstreuung, in der das Buch sie bietet, zu sanmieln und sie,
so gut es geht, zu einer theatergeschichtlichen Gesamtdarstellung
und zur Beleuchtung des geistigen Sinns der Entwicklung zu-
sammenzufügen. In keiner Weise freilich kann diese Darstellung
den Anspruch darauf machen, ein wenn auch nur vorläufiger Ersatz
für die noch fehlende Geschichte des älteren deutschen Theaters
überhaupt zu sein, da sie es verschmähen muß, die anderweitig
bekannt gewordenen Einzelheiten heranzuziehen, und da sie sogar
die unmittelbaren Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen
nur andeutend, nicht ausbreitend vorlegen darf, obschon der Reiz
der Ermittlung vielleicht besonders gerade in der Anschaulichkeit
der Einzelheiten besteht. Ganz und gar nicht aber soll man er-
warten, in diesem Schlußabschnitt auch an die literarhistorischen,
bildkunstgeschichtlichen, bildungsgeschichtlichen und volkskund-
lichen Nebenergebnisse des Buches nochmals erinnert zu werden.
Mit einem völlig neuen Atemzug setzt bekanntlich das Leben des
mittelalterlichen Theaters ein: das antike Drama hatte schon
lange die letzten Regungen gezeigt, und auch von Aufführungen
war nirgends mehr die Rede. So kam es, daß auch die Erinnerung
an die alten Darbietungen verblaßte und sich mit seltsamen Phan-
tasievorstellungen über ihr Wesen mischte. Wenn schon Isidorus
im 7. Jahrhundert nicht völlig Zutreffendes mehr über theatrum
und scena und über die Art der Aufführung zu berichten wußte,
so wird das in den Handbüchern des eigentlichen Mittelalters noch
wunderlicher: bei Papias im 11., bei Hugutius im 12., bei Johannes
von Janua im 13. Jahrhundert. Scena ist nun entweder ein auf
dem Theater stehendes Häuschen mit einem Pult, an dem der
Dichter sitzt und seine Gedichte vorliest, oder aber ein von Vor-
hängen umgebener Bau, in welchem maskierte Personen sich auf-
halten, die heraustreten und gestikulieren, sobald der Dichter die
ihnen in den Mund gelegten Worte spricht. Wirkliche Reste des
Altertums, freilich ganz herabgekommener Art, bestehen nicht mehr
im Zusammenhang mit dem Theater, das der Verlebendigung von
Dramendichtungen dient, sondern nur als Abkömmlinge des alten,
ursprünglich gewissermaßen dramenlosen Theaters, des Mimus.
Die Nachkommen seiner echten Vertreter, die als mtmi, histriones
504 Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
oder ioculatores in mittelalterlichen Texten erscheinen und dann
oft mit den Spielleuten zu identifizieren sind, führen eine Existenz,
in die, namentlich was ihren Zusammenhang mit der Theatersphäre
betrifft, nur durch kühne Hypothesen ein unsicheres Licht geworfen
wird; um so willkommener mag es sein, daß wir jetzt wenigstens ihre
äußere Erscheinung deutlich im Bilde vor uns sehen, wenn es sich
auch erst um die allerletzte Zeit des Mittelalters handelt: das eine
Mal die ioculatores auf dem Hauptbild des „Terence des ducs" im
beginnenden, das andere Mal den histrio der Handschrift des
Brüsseler Einzugs im ausgehenden 15. Jahrhundert.
Ganz ohne Zusammenhang mit der neu sich entwickelnden
Form des mittelalterlichen Theaters sind die Spielleute ja nicht; in
der Hauptsache aber handelt es sich bei ihm um eine völlig neue
Schöpfung: einerseits aus den sozialen Instinkten der neuen Kultur-
völker, anderseits aus dem der dramatisch-theatrahschen Form
zustrebenden epischen Inhalt der neuen Religion. Zu einem wirk-
lichen dramatischen Gebilde, einer für sich allein, ohne die Auf-
führung lebendigen Dichtung hat es eigentlich keine der beiden
so gekennzeichneten Entwicklungsreihen gebracht: weder das Er-
gebnis der einen, das Fastnachtspiel, wenigstens in seiner spezifisch
mittelalterlich-deutschen Form, noch das der andern, das Christus-
spiel, ist in einem höheren Sinne als Drama zu bezeichnen. Beide
Leistungen gehören im Grunde mehr in die Theater- als in die
Literaturgeschichte : die Aufführung ist das Wichtigste und umfaßt
den Text als einen Teil ihres eigenen Wesens.
Da ist es denn um so mehr zu bedauern, daß wir über das eine
Hauptgebiet, über die Fastnachtspielaufführung nur so überaus
mangelhaft unterrichtet sind. Der wesenthchste Grund dafür ist
jedenfalls das völlige Fehlen der szenischen Bemerkungen in den
überlieferten Fastnachtspieltexten. Schwerlich wird man an eine
alle Lokalgrenzen überschreitende, allgemein gleiche Art der Auf-
führung denken dürfen, zumal wenn man den Blick über Deutsch-
land hinaus auch auf die übrigen in Betracht kommenden Länder
ausdehnt. Aber daß das Publikum von allen Seiten die Darsteller
einschließt, ist doch wohl das Normale gewesen : ist es doch der
Ursinn dieses sozialen Spiels, das ursprünglich ein Spiel aller für
alle war, ein Spiel, in dem Publikum und Darsteller zusammen-
fielen, daß die Sonderdarsteller, die allmählich gewissermaßen die
Vertreter der Gesamtheit sind, wenigstens immer noch einen nicht
herauslösbaren Teil der ganzen am Spiel beteiligten Menge bilden.
Eine ungefähre Vorstellung von diesem die Aufführung ohne
trennende Schranken einschließenden Publikum, allerdings nicht
von einem deutschen, sondern einem französischen, bietet uns die
schon vorhin angeführte Titelminiatur des „Terence des ducs",
freilich ohne daß der Künstler etwas Derartiges beabsichtigte.
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 5Q5
der vielmehr das Publikum des römischen Theaters vorzuführen
meinte. Etwas anders ist offenbar der Schauplatz bei der Auf-
führung des Brunnerschen Fastnachtspiels v. J. 1484 angeordnet
gewesen: hier haben wir uns, wie die oben wiedergegebene Illu-
stration Edlibachs zeigt, das Publikum nur von drei Seiten her als
„Umstand" zu denken, aber nicht weil auf solche Art schon eine
Trennung von Pubükum und Darstellung erfolgen soll, sondern weil
auf der vierten Seite die Tür hegt, durch die neue Personen ein-
treten. Der Ort der Handlung ist ein wirkliches Zimmer, um dessen
Tisch die beteiligten Personen herumsitzen; besondere Theater-
kostüme scheinen hier so wenig wie in dem fastnachtspielartigen
Aufzug der zehn Lebensalter verwendet worden zu sein, wenn
wir von einem Engel absehen, die Charakteristik der einzelnen Per-
sonen erfolgt vielmehr in der Art, daß die ins bürgerliche Alltags-
gewand gesteckten Personen durch einfache Requisiten gekenn-
zeichnet werden : der Ritter durch Hellebarde und Helm, der Jägers-
mann durch ein Hörn; noch minder realistisch wird das Alter der
einzelnen Personen des Fastnachtspielaufzuges durch Fahnen mit
den betreffenden Ziffern angegeben, wozu vielleicht zur Unter-
scheidung der ganz Alten von den Jüngeren noch künstliche Barte
kamen. Für die Spielweise gibt unser Material leider nur die eine
Vermutung her, daß die einfache Rede von Bewegungen einer
Hand begleitet zu werden pflegte ; immerhin wäre das eine gewisse
künstliche Beschränkung rein naturalistischer Willkür, so wie auch
die eben geschilderte Inszenierung neben der ungenierten Be-
nutzung des Alltäglichen Neigung zur Stilisierung erkennen ließ.
Viel besser sind wir über die Aufführung des geistlichen Spiels
unterrichtet: längst namentlich über die Anlage und die dekorative
Einrichtung des Schauplatzes, und unsere Kenntnisse auf diesem
Gebiet zu erweitern, hat das vorliegende Buch eigentlich nirgends
unternehmen wollen. Ebensowenig ist es den Problemen der
eigentlichen Inszenierung, der Regie, im einzelnen nachgegangen,
wenn nicht vielleicht daran erinnert werden darf, daß als das vor-
nehmste Prinzip mittelalterlicher Inszenierung betont wurde: die
Herbeiführung einer ständigen Bewegung auf dem Gesamtschau-
platz, die Ordnung des Hin- und Hergehens der Hauptpersonen,
das dem Zuschauer ein dauerndes Verständnis für die jeweilige
Entwicklung der Handlung zu vermitteln hatte. Dagegen hoffen
diese Untersuchungen auf ein anderes Gebiet der geistlichen
Theaterkunst des Mittelalters, das bisher so gut wie ganz im
Dunkeln lag, ziemlich helles Licht gebreitet zu haben. Dies Gebiet
ist die Schauspielkunst im engeren Sinne.
Nun sollte man freilich im Grunde das Wort „Schauspielkunst"
für die Leistung, um die es sich hier handelt, für das Verhalten
der einzelnen an der Aufführung beteihgten Personen, gar nicht
506 Diß Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
in Anwendung bringen. Denn jeden Gedanken an moderne Dar-
stellung, an eine wenn auch noch so primitive Verwandlung des
Spielers in die von ihm vertretene Person muß man völlig aus-
schalten. Natürlich läßt es sich nicht geradezu beweisen, daß es
nicht auch unter den beim geistlichen Spiel des Mittelalters Mit-
wirkenden einzelne schauspielerische Talente gegeben hat, die
gegen die Regel eine derartige Transformation des Ich unwillkür-
lich vorgenommen haben. Aber wir hören nirgends von ihnen,
und einen bedeutsamen Teil der ganzen Aufführung bedeuteten
ihre Leistungen keinesfalls. Die Regel ging nicht auf Schauspiel-
kunst, sondern auf Vortragskunst.
Diese Vortragskunst aber hat wieder mit dem, was wir so zu
bezeichnen pflegen : mit der wissenschaftlich ausgebildeten Rhetorik,
die überhaupt im Mittelalter eine ganz geringe Rolle gespielt zu
haben scheint, kaum etwas zu schaffen. Sie ist vielmehr bedingt
einmal durch die Raumverhältnisse der Aufführung, ferner durch
die Notwendigkeit, auf die wenigstens in den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters durchschnittlich doch geringe geistige Bedeutung
der Darsteller Rücksicht zu nehmen, und endlich ganz besonders
durch den geistlichen Charakter, der der Vorführung doch gewahrt
bleiben sollte, auch als sie mehr und mehr zum sozialen Volksspiel
wurde, als das liturgische Oratorium zum geistlichen Stadttheater
sich entwickelte. Die Aufführung auf dem großen Marktplatz, die
schließlich das Normale war, bringt es mit sich, daß auf alles
Intime der Kunst, auf feine Stimmschattierung und auf die Mimik
des Gesichts verzichtet werden muß: alles Stille und Zarte wäre
von den im ganzen doch weit entfernten Zuschauern nicht gehört
und nicht gesehen worden; das laute Schreien und die Bewegung
der Extremitäten und des ganzen Körpers sind für das mittelalter-
liche Theater viel geeigneter. Und in ähnliche Richtung weist die
Rücksichtnahme auf das Personal und die Unmöglichkeit, ihm die
Darstellung seelischer Feinheiten zuzumuten. In der älteren Zeit,
da die Darsteller vornehmlich Geistliche waren, konnte man eher
derartige Intimitäten von ihnen erwarten: Spuren davon haben sich
in den szenischen Vorschriften des alten Benediktbeurer Weih-
nachtsspiels erhalten. In den späteren Jahrhunderten nimmt dann
das Interesse an der Erfassung des Seelischen stark zu, und zwar
ist es, während die Wahrnehmungsbetonung und die Äußerung des
Intellekts ganz im Hintergrunde bleiben, gemäß der starken Senti-
mentalität dieser Zeit durchaus das Gefühl — ganz besonders Un-
lust und Antipathie — und der stark gefühlsbetonte Willensakt
des Bittens und Betens, zu deren Ausdruck die Vortragskunst neigt.
Aber die Ausdrucksmittel, die den simpeln Darstellern des geist-
lichen Stadttheaters zur Verfügung stehen, sind für die Betätigung
dieses psychologischen Interesses doch allzu gering. Nur in bezug
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 507
auf ein paar ganz einfache Seelenzustände kann die geistliche
Regie von ihren Darstellern eine innere Erfüllung mit dem domi-
nierenden Gefühl beanspruchen; im übrigen wird mit erlernbaren
Gesten gearbeitet, die den betreffenden Seelenzustand anzudeuten
haben — öfters auch, ohne daß entsprechende Worte dabei ge-
redet werden.
Gerade hier aber tritt das dritte und wichtigste Grundelement
mittelalterlicher Theaterkunst in sein entschiedenstes Recht: die
Notwendigkeit, den religiösen Charakter des Ganzen doch in etwas
zu wahren. Die Gebärdensprache durfte weder dem Naturalismus
des sozialen Spiels ausgeliefert werden und die bürgerliche Alltags-
geste zugrunde legen, noch zugunsten des weithin Gesehenwerdens
einer pathetischen, weit ausholenden Rhetorik weltlicher Art anheim-
fallen. Eher konnte man den Wirklichkeitswünschen des halb zu-
schauenden, halb mitspielenden Publikums in bezug auf die Aus-
gestaltung des Schauplatzes starke Zugeständnisse machen oder
auch in bezug auf die eigentliche Aktion, die ja doch nur an
einigen Stellen vor sich ging und dann immer von der Regie zu
überw^achen war; ja sogar in bezug auf den rein körperlichen
Habitus: Schlafen, Krankheit, Tod, durfte man um so eher etwas
Freiheit gew^ähren, als er verhältnismäßig selten in Betracht kam
und als die biblische Grundlage des Spiels über den Hergang im
einzelnen keine Anweisungen gab. Der rein seelische Gestus da-
gegen w^ar über die gesamte Aufführung verbreitet, die biblischen
Angaben über ihn waren Gegenstand dogmatischer Erklärungen
und endlich: dieser religiöse Gestus war im Zusammenhang der
gottesdienstlichen Handlung, der Liturgie, Gegenstand eines streng
beobachteten, zeremoniellen Rituals. Sein Grundzug ist Sparsam-
keit, Zurückhaltung, Abneigung gegen Neuerungen, und einen an
der Liturgie und an den Evangelien orientierten Gebärdenstil durch
den geistlichen Regisseur auf dem Theater durchführen zu lassen,
empfahl sich um so mehr, als man dadurch gegenüber den welt-
hchen Gelüsten der bürgerlichen Darsteller das Heft fest in der
Hand behielt und der ganzen Aufführung eine gewisse religiöse
Ruhe und Weihe sicherte, wie sich ja denn in einigen Texten sogar
noch Reste des alten lateinischen Gesanges aus dem hturgischen
Oratorium bis aufs bunte geistliche Stadttheater gerettet haben.
Von den wenigen Einzelheiten dieses biblisch-liturgischen Stils
braucht nach den früher gebotenen Auseinandersetzungen nicht
nochmals die Rede zu sein; nur auf die wichtige Unterscheidung
zwischen labilen und stabilen Gesten mag hier noch einmal hin-
gewiesen werden : die ersten, die minder prägnanten, w^erden ohne
Gleichmäßigkeit an den verschiedensten Stellen verwendet, an
denen der seelische Sinn es wünschenswert erscheinen läßt; die
andern, sechs an der Zahl, die ganz charakteristischen und aus
508 Di^ Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
dem Gewöhnlichen mehr herausfallenden, finden sich offenbar bei
allen Aufführungen des Passionsdramas stabil an den entscheiden-
den Stellen der Peripetie des Christusspiels: beinahe nicht sowohl
Leistungen der Schauspielkunst als Mittel der Inszenierung, um die
Aufmerksamkeit des mehr schauenden als hörenden Publikums
auf diese bedeutsamen Momente hinzulenken.
Diese durch eine lange Zeit völlig entwicklungslos festgehaltene
karge Art einer religiös gebundenen Vortragsweise bezog sich freilich
in aller Strenge offenbar nur auf die Personen, die unmittelbar
aus der Bibel in das Spiel hineingerufen wurden, die eigenthchen
Träger der heiligen Vorgänge. Die frei hinzuerfundenen Personen
aber oder diejenigen, die wenigstens nicht in so großer Zahl von
der Vorlage verlangt wurden: die Teufel einerseits, die Juden u. dgl.
anderseits wurden gewiß nicht mit derartiger Energie an die spar-
same, liturgisch stilisierte Gestensprache gehalten. Ihre Profanie-
rung tat dem religiösen Ernst des Spielkerns keinen starken Ein-
trag; sie waren sowieso die stärkste Konzession an den sozialen
Spieltrieb der Menge, mit den Gestalten des Fastnachtspiels nahe
verwandt oder geradezu mit ihnen identisch, und so mochte denn
auch ihre Darstellung der des nicht geistlichen Spiels sich nähern,
vielleicht ins Groteske oder ins Alltagswirkhche übergehen. Wir
wissen nichts davon, denn gerade wie für die Texte der Fast-
nachtspiele sind für die betreffenden Szenen der geisthchen Spiel-
texte kaum szenische Bemerkungen aufgewendet; aber wo einmal
eine Spur sich findet, da weist sie durchaus in die bezeichnete
Richtung: imitando gestus Jiiclei in omnibus heißt es im Bene-
diktbeurer Weihnachtsspiel sogar vom Archisynagogus. Selbst die
in der eigentlichen Darstellung des Heiligen verschmähte Indivi-
dualisierung scheint hier also vorhanden zu sein. Allerdings han-
delt es sich um jenes alte Spiel, in dem die Darstellung wohl
wesentlich von Geistlichen übernommen war: da war man jeden-
falls vor jenem Zuviel gesichert, das vor allen Dingen vermieden
werden mußte.
Die gleiche Scheidung der gesamten Darsteller in zwei Haupt-
klassen finden wir auch auf einem Nebengebiet der Schauspiel-
kunst: in der Fürsorge für das Kostüm. Ganz so scharf wie in
bezug auf die Gebärdensprache scheint die geistliche Aufsicht hier
freilich nicht geübt zu sein, aber der dadurch einreißenden Willkür
trat man doch öfter mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit ent-
gegen, dem feierlichen Grundcharakter der Aufführung gebührende
Rechnung zu tragen. Dabei wurde nun den unwichtigen Personen
am meisten Freiheit gelassen, so daß hier das Alltagsgewand und
wohl auch manche Fastnachtmummerei ungeniert sich eindrängten;
umgekehrt wird besonders in bezug auf die Kleidung der heiligen
Personen die Einhaituns einer stark stilisierenden Tradition ver-
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 509
langt, der sich auch fürsthche und allegorische Gestalten zu fügen
haben. Zu dem wichtigsten Gesichtspunkt, der Fürsorge für den
feierlichen Charakter der Haupthergänge, kommen auch hier wie
bei der Gebärdensprache speziell theatralische Umstände hinzu:
für die Hauptdarsteller konnten unmöglich stets wieder neue Ge-
wänder beschafft werden, sie vererbten sich von Geschlecht zu
Geschlecht und gewannen auch auf solche Art jenes altertümliche,
aus dem Alltäglichen ganz herausfallende Ansehen; die weite Ent-
fernung der Spieler von den meisten Zuschauern mußte es wün-
schenswert machen, daß die Hauptpersonen wenigstens an der
Kleidung auch von fern erkannt werden konnten, und auch das
war nur durch eine strenge und konservative Stilisierung möglich.
So ist Christus schon durch seine Tracht für jeden kenntlich; so
gibt es für die Propheten einen bestimmten, ihnen eigentümlichen
Kleiderschnitt; neben der Tracht werden hier wie im Fastnacht-
spiel auch symbolische Attribute zur Charakteristik benutzt.
Aber nicht bei der Scheidung in kontrollierte und unkontrol-
lierte Personen setzt die innere Unruhe der spätmittelalterlichen
Welt ein, um endlich auch in der Gebärdensprache jene biblisch-
liturgische Strenge und Starrheit zu überwinden, nicht in der Weise
also, daß der Grotesknaturalismus der Juden und Teufel auch auf
die übrigen Personen Überträgen worden wäre ; die Revolution, die
hier gegen Ende des 15. Jahrhunderts siegreich anhebt, kann ihren
Triumph vielmehr nur erringen, indem man innerhalb der heiligen
Welt selbst an einer Stelle nachgiebig zu werden beginnt. Diese
Stelle sind die Szenen, in denen Maria um Christus klagt. Hier
war die Pathetik der großen Geste, zumal die Leidgebärde der
weitausgestreckten Arme und Hände seit dem 13. Jahrhundert in
die lyrisch-epischen Darstellungen eingedrungen, und indem nun
halb-kanonische Quellen für eine antiliturgische Gebärdensprache
vorhanden sind, kann .das ausgehende 15. Jahrhundert in seiner
Sehnsucht nach neuem Pathos zunächst in den selbständigen
Marienklagen theatralischen Charakters, dann auch in den ent-
sprechenden Szenen des Passionsspiels die große Geste, be-
sonders die weitausladende Bewegung der Arme existenzberech-
tigt machen. Damit aber ist die religiöse Gebundenheit, wenn auch
nicht gelöst, so doch gelockert, und das Donaueschinger Passions-
spiel ist ein charakteristisches Beispiel dafür, daß zu dem ängst-
lich gewahrten Alten nun auch Symptome der Gegenwart, ihrer
Neigung für neues Pathos, ihrer Sentimentalität, ihrer Nervosität
sich in der Gesamtaufführung hervorwagen können.
Immerhin: hier formt sich noch kein Neues, nur ein Zeichen
der Auflösung haben wir vor uns, in der Theaterkultur geradeso
wie auf den meisten Lebensgebieten in jener Zeit. Ein innerer
Umschwung ist historische Notwendigkeit, aber die neuen Lebens-
510 Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
kreise sind in Deutscliland nicht stark genug, aus eigener Kraft
die modernen Leistungen hervorzubringen. Die lange Periode, in
der bei dem Mangel einer eigenwüchsigen dramatischen Dichtkunst
die Niederkunst des Theaters allein am Regiment war, neigt sich
zum Ende, und es beginnt die bis auf den heutigen Tag reichende
neue Zeit, in der die feindlichen Gewalten Drama und Theater
miteinander um die Vorherrschaft ringen : in dem einen Zeitraum hat
nun das Dramatische, in dem andern das Theatralische die führende
Stellung, und nur einmal: im Zeitalter Lessings und Schillers er-
leben, nein, ahnen wir in Deutschland eine jener Wunderstunden
der Weltgeschichte, wie sie für Athen im Zeitalter des Sophokles,
in England zur Zeit Shakespeares, in Frankreich zur Zeit Molieres
geschlagen haben: die klassische Vereinigung des Dramatischen
mit dem Theatrahschen zu harmonischen Gebilden für die Ewigkeit.
Die Signatur der Renaissancezeit muß jenem eben gekenn-
zeichneten Turnus gemäß im wesentlichen antitheatralisch sein, das
Theatralische darf nicht länger als Selbstzweck erscheinen, sondern
muß sich zum Dienen verstehen. In dreifacher Hinsicht hat dieser
Wandel in die Erscheinung zutreten. Der Schauplatz darf nicht
länger die von allen Seiten vom Publikum umstandene, gewisser-
maßen aus ihr losgelöste, einen Teil seines Seins bildende Markt-
platz- oder Stubenbühne sein, sondern muß als ein für sich beste-
hendes Etwas, als ein Bild erscheinen, dem das Publikum, nur noch
locker mit ihm verbunden, gegenübersitzt. Die Ausstattung darf
nicht mehr auf die reine Theaterfreude: das Vergnügen an der
Nachbildung der Wirklichkeit, auf die Lust am Schauen berechnet
werden, sondern muß sich auf das Einfachste beschränken lassen,
damit alle Aufmerksamkeit des Publikums für die Aufnahme des
dramatischen Kunstwerks in Anspruch genommen werden kann.
Die Schauspielkunst endhch hat nicht mehr irgendwelchen rein
theatralischen Grundsätzen: weder naturalistischen noch religiös-
liturgischen nachzuleben, sondern soll in erster Reihe der Wortkunst
des Dramas zum Siege verhelfen.
Das Drama muß zuvörderst da sein, damit die neue, vornehm-
lich für den Dienst des Dramatischen bestimmte Theaterkultur ihr
Wesen entfalten kann. Hier aber tritt der reinen und geradhnigen
Entfaltung der historischen Notwendigkeit jener tragische Zug im
Wesen der Renaissancekultur entgegen, daß sie zwar im tiefsten
Sinn zur Ausbildung des Dramatischen prädestiniert, aber infolge
anderer innereigenster Lebenszüge an der wirklichen Schöpfung
eines Dramas verhindert ist, bis dann zum grandiosesten Ersatz ganz
zuletzt, als schon der Übergang in eine neue Form- und Bildungs-
welt sich vollzieht, der ungeheuerste dramatische Aufstieg erfolgt,
den die Weltgeschichte kennt. Die eigentliche Werde- und Glanz-
Die Gesamtergebnisse und ilir geistiger Sinn. 511
zeit der Renaissancekultur ist, auch wenn wir den Blick von
Deutschland ausdehnen auf die internationale Entwickhuig, völlig-
arm an dramatischen Dichtungen, die durch den Zwang ihrer inneren
Notwendigkeit die Welt hätten erobern können; wunderliche Um-
wege müssen gemacht werden, um auch nur 7AI Surrogaten drama-
tischer Poesie zu führen. Und noch wunderlicher sind infolgedessen
die Wege, die die neue Theaterkultur zu gehen hat, um dem dunklen
Drange zum Gehorsam gegen ein nur in der Tendenz, nicht in der
Wirklichkeit vorhandenes Prinzip des Dramatischen folgen zu kön-
nen, und es ist begreiflich, daß beträchtliche Reste der mittelalter-
lichen Theaterformen mit zäher Kraft sich gegen einen Gegner
halten, der einem im Grunde noch ungeborenen Führer dient.
Das Bemühen um die Erschaffung einer neuen Bühnenform,
die den Ausdruck einer dramatischen Dichtung, nicht den Schau-
platz eines sozialen Spiels darstellt, kann höchstens an ein drama-
tisches Gebilde des sonst dramenlosen Mittelalters anknüpfen: an
die vor 1400 ganz isoliert in Holland entstandenen abele speien, die,
ohne nach dem Gliche des geistlichen Theatertextes oder des bürger-
lichen Fastnachtspiels zu arbeiten, ernste weltliche Stoffe in drama-
tischer Form behandeln. Diesen neuen Dramen scheint auch eine
besondere Bühnenform entsprochen zu haben, von der wir kaum
etwas Sicheres sagen können, die aber anscheinend eine stärkere
Trennung von Publikum und Darstellung an die Stelle der üblichen
Zusammengehörigkeit setzen will; jedenfalls scheint es erwiesen, daß
der Mann, der hundert Jahre später das Wichtigste für die theore-
tische Vorbereitung der bedeutsamsten Renaissancebühnenform ge-
tan hat, der niederländisch-französische Humanist Jodocus Badius,
auch Erinnerungen an solche heimatlichen Bühneneindrücke mit in
sein Werk verwebt hat.
Das zweite dramaartige Gebilde, dessen Bühnenform für die Syn-
these des Neuen in Betracht kommt, ist nun schon eine Schöpfung
der Renaissancezeit, aber es ist doch nur ein Surrogat für das im
tiefsten ersehnte Drama, denn es verzichtet auf das für das Drama
entscheidende Material, auf das gesprochene Wort. Es ist die Panto-
mime der burgundisch-französischen Hofsphäre und ihre Erstarrung,
das lebende Bild, das bei den Fürsteneinzügen des ausgehenden 15.
und beginnenden 16. Jahrhunderts allbeliebt ist, zu dessen Vorfüh-
rung sich die Rederijkers als Vertreter der Literatur und die Lukas-
gilden als Vertreter der bildenden Kunst vereinen. Auch hier ist
der Zug zu einer grundlegenden Veränderung der Vorführungsform
gegenüber dem Mittelalter unverkennbar, sobald wir dessen ent-
sprechende Gebilde: die lebenden Bilder der Fronleichnams-
prozessionen mit diesen Renaissanceschöpfungen vergleichen. Jene
werden auf Wagen gefahren und wie das Passionsspiel von allen
Seiten angesehen, sie sind wie dieses gewissermaßen eine Leistung
512 Diß Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
des Publikums; diese dagegen werden als Werke einer individuellen
Künstlerschaft vor das Publikum hingestellt, der Vorhang, der das
Bild zunächst bedeckt, wird gewissermaßen von der Seele des einen
schaffenden Meisters fortgezogen, so daß die Beschauer nun in eine
ihnen eigentlich fremde Welt hineinschauen. Von der Art dieser
neuen Bühnenform vermögen wir uns durch zeitgenössische Illustra-
tionen, zumal durch die Wiedergabe der Bilder vom Brüsseler Ein-
zug des Jahres 1496 bis in die technischen Einzelheiten des Gerüst-
baues eine greifbare Vorstellung zu machen.
Aber das Erbe des Mittelalters und die Eigenkraft der Renais-
sancemenschen reicht, wie auf so vielen Gebieten, so auch hier nicht
aus, wo es gilt, zum neuen Drama und seiner Bühnenform zu kom-
men, und wie gewöhnlich muß der Humanismus ergänzend eintreten.
Dem Mangel an moderner dramatischer Poesie muß zunächst die
Wiederbelebung der dramatischen Literatur der Römer abhelfen;
von der inneren Bedeutung des Mißgriffs, den man tat, indem man
auf solche Art sich um Werke bemühte, die im Grunde nie ein
eigentlich dramatisches Leben besessen hatten, kann hier nicht die
Rede sein. Man kann auch nicht sagen, daß die Frührenaissance
dem eigenthchen Problem, der Erfassung des theatralischen Wesens
der römischen Dramatiker, sehr energisch sich zugewandt habe;
die richtige Fragestellung wurde ja auch dadurch sehr erschwert,
daß es sich um ein völlig anderes theatralisches Sein handelte als
um das, das dem mittelalterlichen Menschen geläufig war, und daß
man daher auf die Möglichkeit einer Identifikation, geschweige denn
einer Differenzierung zunächst gar nicht kommen konnte. Mehr als
ein Jahrhundert lang betrachtete man Seneca, Plautus und Terenz
wesentlich als Gegenstand der Lektüre, im Grunde immer noch,
wie es das eigentliche Mittelalter getan, als eine Art epischer Dich-
tungen, und die Szenenbilder, die im Anfang des 15. Jahrhunderts
die Miniaturen des französischen ,,Terence des Ducs", in seinem
Ausgang die Holzschnitte der Ulmer, Basler, Straßburger Terenz-
ausgaben enthalten, machen gar keinen Versuch, eine Bühnenform
vorzuführen, sondern gleichen völlig den Illustrationen zu epischen
Werken. Daneben zeigt sich aber gerade gelegentlich solcher
Illustrationsarbeiten ein Bemühen um ein Verständnis für die Theater-
einrichtung des Altertums; es kümmert sich nicht um die überlie-
ferten Dramen und die Möglichkeit ihrer Inszenierung, sondern hält
sich an die überkommenen Notizen über die Anlage der Szene und
dessen, was zu ihr gehört. Je mehr die Altertumswissenschaft fort-
schreitet, um so mehr gelingt es, an Stelle der trüben Berichte des
Mittelalters die reineren Quellen der alten Zeit selbst fließen zu
lassen. Ein vollkommenes Verständnis aber und die Möglichkeit
der zeichnerischen Vorführung einer neuen Bühnenform, die für
die Praxis der modernen Bühnenkultur Bedeutung gewinnen kann,
Die Gesanitert^ehnisse und ihr geistiger Sinn. 513
wird dadurch lange hintangehalten, daß nun allmählich die Identi-
fikation des Antik -Theatralischen und des Mittelalterlich -Theatra-
lischen sich einzustellen beginnt und daß die ersten Aufführungen
des Plautus und des Terenz, wie sie in den achtziger und neunziger
Jahren des 15, Jahrhunderts in Italien stattfanden, sich offenbar
wesentlich noch mittelalterlicher Bühnenformen bedienten. So sind
es denn wunderliche Unmöglichkeitsformen, die die vorher genannten
Illustrationswerke zeigen, wo sie die antike Theateranlage vorzu-
führen sich bemühen, — die wunderlichste die Anordnung des
senecaischen „Hercules furens", die noch dem 14. Jahrhundert an-
gehört; und wo man ihnen, wie den Titelbildern des „Terence des
Ducs" und des Baseler, namentlich aber den Vollbildern des Straß-
burger Terenz von 1496 irgendwelche theatralischen Wirklichkeits-
elemente entnehmen kann, da handelt es sich nicht um Dinge der
antik-modernen, sondern um Formen der mittelalterlichen Theater-
kultur.
Der entscheidende Schritt aber gelingt dem schon genannten
Humanisten Jodocus Badius aus Flandern und dem ihm verbündeten
niederländischen Künstler, die 1493 zu Lyon einen illustrierten Terenz
erscheinen lassen. Badius ist auf der einen Seite in der philologischen
Erklärung der antiken Berichte über das Theater weiter als einer der
andern Gelehrten, die sich an jenes Problem wagten; er zieht ander-
seits zur Verlebendigung der bloßen Archäologie ebenfalls leben-
diges Theater heran; aber er muß einen tiefen Blick in die absolute
Wesensverschiedenheit der antik-modernen und der mittelalterlichen
Theaterkultur getan haben: denn er verschmäht jene sonst immer
noch sich herandrängenden Formen des sozialen Theaters voll-
ständig und hält sich, ohne daß wir die Einzelheiten nachzuprüfen
vermöchten, an jene Gebilde, die dem individuellen Drama dienen:
an die Bühne der abele speien und der lebenden Bilder. Und so
ist zwar sein Zuschauerraum noch einigermaßen seltsam angelegt,
aber das Entscheidende ist doch da: sein Publikum sitzt vor dem
geschlossenen Vorhang, und seine Szenenbilder sind zum erstenmal
wirkliche Bühnendarstellungen, nicht mehr Illustrationen zu Erzäh-
lungen. An die zahlreichen italienischen Nachbildungen dieser Lyoner
Holzschnitte kann sich dann die Praxis der Theaterkunst nach-
ahmend halten, und so sind die Plautus- und Terenzaufführungen,
die man im beginnenden sechzehnten Jahrhundert in Italien ver-
anstaltet, nun nicht mehr mittelalterlichen, sondern modernen
Charakters. Und von hier aus erobert sich die Dramabühne die Welt
und spielt bald auch in Deutschland neben dem alten Theaterschau-
platz eine bedeutsame Rolle. Ob freiUch das Podium, das uns die
Holzschnitte zu Gengenbachs „Zehn Altern" zeigen, auch schon in
diese neue Reihe gehört, läßt sich schwerlich ausmachen.
Die gleiche Entwicklung bringt nun auch der Wandel der Aus-
Herr mann, Theater. 33
514 Diß Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
stattung. Ohne bis zu der völligen Orientierungslosigkeit des
Fastnachtspielschauplatzes gehen zu dürfen, muß die Renaissance-
bühne auf die verwirrende Buntheit der mittelalterlichen Bühnen-
anlage verzichten und eine Einrichtung herbeiführen, die, das Auge
nicht eigentlich beschäftigend und auf Sonderwege lockend, alle
Aufmerksamkeit auf den geistigen Inhalt des Dargebotenen und auf
seinen entscheidenden Ausdruck, das Wort, lenkt. Die Vermeidung
aller naturalistischen Nachbildung der lokalen Elemente und ihrer
Stoffe ist die wichtigste Aufgabe, und dazu die Verhüllung aller nicht
sprechend oder doch stumm handelnd an der jeweils vorgeführten
Szene beteiligten Personen : das mittelalterliche Theater hatte auch
sie in jedem Moment der Aufführung zum Schaden der Aufmerk-
samkeit für den Gang der Handlung dem Publikum zur Schau ge-
stellt. Unauffälhge und sinnvolle Stellen für ihr Auftreten und Ab-
gehen müssen als etwas im Grunde völlig Neues geschaffen werden,
und die diese Stellen verhüllenden Vorhänge bieten zugleich das
unnaturalistische Material, das überhaupt für die Ausstattung der
neuen, wesentlich dienenden Bühne in Betracht kommen darf. Schon
für die Darstellung der abele speien scheinen sie verwendet worden
zu sein; auf den lebenden Bildern treten sie so stark hervor, daß
die Gesamtvorführung mitunter etwas Teppichartiges erhält, — da-
neben freilich zeigt sich hier, \vo es nicht gilt, dem dramatischen
Worte zu dienen, und wo die Vertreter der bildenden Künste mit
am Werke sind, die Tendenz zu einer Malerisches und Plastisches
vereinigenden Panoramakunst, die auf eine viel fernere Zukunft der
Theaterkultur vorausweist. Den entscheidenden Weg zur orientie-
renden Einfachheit der Bühnenausstattung findet wieder Jodocus
Badius, indem er zu den Anregungen der lebendigen Darstellungen
in Flandern wiederum archäologische Notizen über die antike Bühne
und nun wohl auch Andeutungen der vom Altertum her bis in die
ottonische Renaissance vererbten Terenzillustrationen heranholt.
Die „Häuser" der einzelnen Hauptpersonen bilden in einer auf den
von uns wiedergegebenen Holzschnitten sofort verständlichen Art
den Hintergrund der Bühne, bestehen aber völlig unnaturalistisch
nur aus „Schwimmbadezellen", die durch je einen Vorhang verhüllt
sind. Die dekorative Gesamtanlage des Hintergrundes sorgt für
einen dem Auge wohlgefälligen, aber es nicht zu stark beschäfti-
genden Anblick; der Hauptvorzug bleibt, daß das Publikum durch
die Stelle, die die Personen zum Betreten und Verlassen der Bühne
benutzen, sofort zur richtigen Identifikation gebracht und dadurch
in der leichteren Erfassung des dramatischen Dichtwerks unter-
stützt wird. Als dann durch Vermittlung jener italienischen Nach-
ahmungen die Terenzbühne des Badius die Grundlage der ersten
Renaissancebühnenform wird, da wird der Grundsatz, mit den ein-
fachsten Mitteln zu arbeiten und in erster Reihe das Publikum über
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 515
die Richtung des Auftretens und Abgehens der Personen zwingend
zu orientieren, alles übrige Lol^ale aber der diskreten Bereitwillig-
keit seiner Phantasie zu überlassen, noch weiter durchgeführt, in-
dem zu jenen Portierenhäusern des Hintergrundes rechts und links
noch eine „Via ad forum" hinzukommt. Von Italien wird diese
Bühnenausstattung mit den „Szenen", d. h. den vorhangartigen
Häusern für die wichtigsten Personen, offenbar auch der deutschen
Schulbühne übermittelt; an Requisiten ist daneben wohl nur das
Unentbehrlichste verwendet worden, — nur auf den lebenden Bildern
spielen sie begreiflicherweise eine größere Rolle.
Minder charakteristisch scheint die Entwicklung des ja auch
zur Ausstattung gehörigen Theaterkostüms zu sein: um ein
so scharfes Gegeneinander von Alt und Neu, von Theatralisch
und Antitheatralisch wird es sich hier kaum handeln; aller-
dings sind die vorangegangenen Untersuchungen gerade in be-
zug auf die Kostüme fast durchweg so sehr in der Hypothese
oder sogar noch vor der Hypothese stecken geblieben, daß es
schwer möglich ist, die Ergebnisse zu ein paar allgemeinen
Sätzen zusammenzuballen. Immerhin scheint es, daß die auf
der mittelalterlichen Bühne beliebte Charakteristik durch das
Attribut, das auch noch bei der Aufführung von Gengenbachs
„Zehn Altern" in bedeutsamster Art verwendet wird, in der
Theaterkultur der neuen Welt zurücktritt; ferner findet sich die
mittelalterliche Scheidung in zwei Arten von Kostümen: die der
Nebenpersonen, die wesentlich das Alltagsgewand tragen, und die
der heiligen Hauptgestalten, für die offenbar eine stilisierte Tracht,
z. B. ein besonderer habitiis prophetalis vorhanden ist, auf dem neuen
Schauplatz nicht mehr. Aber das ist ja die beinahe notwendige
Folge des Wandels der dramatisch-theatralischen Gegenstände; wo
die neue Bühne noch einige der alten Gestalten des geisthchen
Spiels, wie etwa die Engel und die Teufel, weiter verwendet, da hat
man gewiß die alte Art der Stilisierung in der Hauptsache beibehalten.
Gleich aber bleibt sich besonders eine gewisse Buntscheckigkeit in
der Gesamtheit der bei den Aufführungen verwendeten Kostüme:
ein Nebeneinander von Modern und Unmodern, das sicherhch vor
allem auf die zu allen Zeiten unentbehrliche Einrichtung einer nur
allmählich ihre Bestände erneuernden Theatergarderobe zurück-
zuführen ist, und ein Eindringen von allerhand zunächst nicht
theatralischen Mummereien: ja, in der festesfrohen Zeit der Renais-
sance nehmen solche Elemente offenbar sogar noch mehr überhand,
und so scheint in dieser Hinsicht der neue Schauplatz wirklich mehr
Schauplatz gewesen zu sein, als es eigenthch in der Tendenz der
neuen Theaterkultur lag. Anderseits meint man auf den Terenz-
szenen des Radius das Bestreben zu erkennen, die neuesten Aus-
wüchse der Mode bei der Kostümierung der Personen zu vermeiden,
33*
516 Die Gesamtergebnisse und ilir geistiger Sinn.
um so nicht gar zu sehr die Aufmerksamkeit der Zuschauer von
den inneren Hergängen und dem gesprochenen Wort abzulenken.
Die geringste Ausbeute endhch bietet unser Material für die
Veränderung der Schauspielkunst in der eigentlichen Werde-
zeit der neuen Theaterkultur: über den Vortrag der abele speien
läßt sich nichts sagen, und die lebenden Bilder kommen ja in bezug
auf Schauspielkunst überhaupt nicht in Frage. Immerhin scheint sich
bei einem Vergleich des Lyoner Terenz und der „Zehn Alter" des
Pamphilus Gengenbach zu ergeben, daß am Ende des 15. und im
Beginn des 16. Jahrhunderts jene große Geste der Arme, die die
strenge mittelalterliche Theaterkunst durchaus verschmäht hatte
und die zuletzt an einzelnen Stellen eingedrungen war, ohne doch
innerhalb des geistlichen Dramas mehr als eine Auflösung des
alten Zurückhaltungsstils herbeizuführen, nun geradezu zum Haupt-
element eines neuen Stils geworden ist, von dem. wir freilich nicht
sagen können, wie weit er im einzelnen wirklich ausgebildet worden
ist. Die Tendenz aber ist jedenfalls Einfachheit, Antinaturalismus
und starkes Pathos, diese neue Kunst hat wesentlich deklamato-
rischen Charakter: so ist sie durchaus willig, dem ersehnten neuen
Drama zu dienen, als dessen Wesensnotwendigkeit gewiß ein stark
pathetischer Stil empfunden wurde.
Solche Blütenträume sind nicht gereift oder doch erst viel später
und dann in andern Formen, als sie jenen gelehrten Träumern der
Werdezeit vor der Seele schwebten. Die Zeit aber, in der man sich
mät Surrogaten für ein eigenes Drama begnügt, geht vorüber, und
um die Mitte des 16. Jahrhunderts herrscht auch in Deutschland
eine sehr rege dramatische Schriftstellerei. So fragen wir zuletzt
nach der Theaterkultur, die sich in der Zeit der Hochrenaissance
bei uns herausgebildet hat, insofern die schärfere Beleuchtung der
vorangegangenen Untersuchungen neue Züge erkennen läßt.
Nur dramatische Schriftstellerei, nicht dramatische Dichtung ist
vorhanden, und so ist es kein Wunder, daß die Theaterkultur noch
keineswegs überall willig ist, dem Drama sich unterzuordnen. Von
seltsamen Mischungen zwischen Alt und Neu abgesehen, wie sie
das ganze Jahrhundert hindurch anzutreffen sind, sind es drei Stätten
theatralischer Reinkultur, die wir auseinanderzuhalten haben: die
Fortsetzung der mittelalterlichen Bühne, ferner die vor
allem den Zusammenhang mit der Antike betonende Kunst des
Schultheaters und endhch die bürgerliche Sphäre, in der
man der neuen Art jener gelehrten Welt sich anzupassen, aber
anderseits die Bedürfnisse des eigenen Lebens nicht ganz aufzu-
geben geneigt ist.
Die Weiterexistenz des mittelalterlichen Theaters be-
schränkt sich keineswegs auf jene südlichen Gegenden, in denen die
Die Gesaintergehiiisse und ihr «eistiKer Sinn. 517
katholische Kirche auch während der siej^reichsten Vorstöße der Re-
formation ihre Macht uneingeschränkt erhält und wo infolgedessen
auch jenes geistliche Stadttheater ruhig, ja z. T. mit gesteigerter
Gewalt weiter lebt: Tirol und einen Teil der Schweiz. Auch an
andern Stellen, so besonders in den protestantischen Gebieten der
Schweiz, wo man im Bann der neuen Ideen die Gegenstände der
alten Spiele nicht mehr auf dem Theater sehen will, sondern in-
differente, ja geradezu antikatholische Stoffe behandelt, bleibt man
doch der alten Bühnenkultur Untertan, ja, erhält sie wohl geflissent-
lich aufrecht, um den Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen.
Wieweit dabei etwa doch in bezug auf irgendwelche Punkte in der
Anlage der Bühne, in der Schauspielkunst, in der Ausstattung dem
Modernen Konzessionen gemacht wurden, dafür gibt unser Material
leider wenig her, und auch auf die alte Welt, die sich hier er-
halten hat, fällt im ganzen kein Licht, wenn wir absehen von der
Darstellung des Höllenrachens, in der die alte, die Schaulust be-
friedigende Phantastik mit einer modernen bretternen Einfachheit
sich paart. Nur hinsichtlich der Kostüme erhalten wir durch die
Schweizer Illustrationen aus den vierziger Jahren ein etwas reicheres
Bild, und es deckt sich entschieden mit dem, was wir für die Periode
des ausgehenden Mittelalters in freilich viel unsichereren Umrissen
gesehen haben. Für die Personen, die auch im alten neutestament-
lichen Spiel aufgetreten sind, gibt es offenbar ein bestimmtes,
stilisiertes Kostüm : für die Propheten nicht nur, sondern auch für
die Apostel; das andeutende Attribut erscheint wiederum: die
Königskrone z. B. bei Titus und Vespasianus, obschon im Drama
ihre Herrscherwürde völlig vernachlässigt ist, und die Stola zur
Kennzeichnung der gesamten geistlichen Tracht. Besonders hand-
greiflich sehen wir die Engel, die Teufel und die Herolde vor uns,
und auch ihre Ausstattung werden wir im Prinzip mit der mittel-
alterlichen identifizieren dih-fen, obschon die Hypertrophie in der
Verwendung der Fratzen am Körper der Teufel vielleicht erst eine
Ausschreitung der spätesten Zeit ist und die besonderen Formen in
der phantastischen Ausgestaltung der Heroldstracht gewiß erst dem
16. Jahrhundert angehören. Daß der Herold das Wappen des Drama-
tikers auf dem Schilde trägt, ist vielleicht ein leises Zugeständnis
an die neue Zeit, und die Rolle, die der Verfasser als Regisseur und
Souffleur während der Aufführung auf der Bühne zu spielen scheint,
weist möglicherweise ebenfalls in diese Richtung.
Die entgegengesetzte Tendenz: der früheren Theaterkultur so
wenig Zugeständnisse wie möglich zu machen, herrscht auf dem
Schultheater. Von der Bühnenform und der Ausstattung, mit der
hier gearbeitet wird, ist in den Untersuchungen dieses Buches nicht
die Rede gewesen; wir halten hier nur die Hauptsache fest: daß
das deutsche Schultheater die Einrichtung jener französisch-
518 Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
italienischen Terenzbühne übernimmt. Wohl aber hat sich in bezug
auf die hier angewendete Darstellungskunst Neues ergeben, und
der Sinn des ihr zugrunde liegenden Gedankens ist ohne Frage
der: Opposition zu machen gegen alles, was mit dem bisherigen
Theater in Verbindung stehen kann, und darum auch in der Schau-
spielkunst nur die Formen anzuwenden, die man für antik hält. In be-
stimmten Teilen der antiken Rhetorik, der actio und der prominciaüo,
glaubt man die Grundsätze wiederzufinden, die in der römischen
Schauspielkunst maßgebend gewesen sind. So wird nur in geringem
Maße ein Vortrag und ein körperlicher Ausdruck aus dem Gefühl
heraus gewünscht; das Wesentliche ist die Aufstellung einer Reihe
von Affekten und Leidenschaften und einer andern Reihe von
Ausdrucksbewegungen, die ihnen zukommen. Diese Ausdrucks-
bewegungen aber gehören in liberwiegender Zahl der Gesichtsmimik
an, die in der bisherigen Theaterkunst nur eine geringe Rolle ge-
spielt hatte, und lassen die große Geste der Arme und Hände fast
ganz beiseite, die in der Darstellungsart der Frührenaissance ge-
rade das Wesentliche gewesen war. Mit diesem Mühen um echteste
Theaterkultur aber führt das Schultheater im Grunde schon wieder
aus ihr heraus: es bringt ein Fremdelement hinein: das pädagogische
Prinzip, und es verfehlt seine eigenthche Aufgabe, durch die
Bühnenkunst nur dem Drama zu dienen. Denn für das antike Lust-
spiel der Terenz und Plautus mag diese rhetorische Vortragskunst
sich geeignet haben: da ist die psychologisierende Gesichtsmimik
und die antipathetische Fesselung der Armgesten recht gut am
Platze ; aber die neue dramatische Schriftstellerei, die für die Schul-
bühne vor allem in Betracht kommt, hat nur ausnahmsweise einen
psychologischen Zug, strebt vielmehr im ganzen durchaus dem Pathos
zu, und so kommen Drama und Theaterkunst hier doch nicht recht
zusammen.
In gewissem Sinne ist jener pädagogische Einschlag auch an
der dritten Stelle der deutschen Theaterkultur des 16. Jahrhunderts,
auf der Bühne des bürgerlichen Dramas vorhanden. Ihre
interessanteste Stätte, das Theater der Meistersinger von Nürnberg,
überschauen wir nach den Untersuchungen des vorliegenden Buches
bis in alle Einzelheiten so deutlich wie keine andere Leistung des
älteren deutschen Theaters; auch hier aber müssen wir uns mit
einer historischen Einordnung der Hauptsachen begnügen, um den
Rahmen dieser Skizze nicht zu sprengen.
Es ist der Sinn der Lebensarbeit Hans Sachsens gewesen,
neben der Erhaltung der noch lebenskräftigen Elemente der mittel-
alterlichen Kultur und neben der Berücksichtigung der einfachen
Instinkte des städtischen Publikums, so gut es ging, eine demo-
kratische Rezeption des Humanismus zu betreiben, und wie wir
nach anders gearteten Anfängen einen gewissen Zusammenhang
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 519
mit dem Modernen in seinen dramatischen Werken finden, so hat
er auch als Regisseur der Nürnberger Meistersingeraufführungen
vor allem nach einer Übereinstimmung mit den Grundtendenzen
der neuen Theaterkultur gestrebt. Die Bühnen form dieser Auf-
führungen, die seit 1550 besonders in der Marthakirche stattfanden,
stimmt insofern mit denen der Renaissancebühne überein, als der
Chorrauin zum Schauplatz gewählt wird und als infolgedessen für
das ernste Drama so gut wie für das Fastnachtspiel das Publikum
nicht mehr die Aufführung wie einen Teil seiner selbst in seiner
Mitte hat, sondern der Darstellung als einer außerhalb seiner
eigenen Existenz in die Erscheinung tretenden Leistung gegenüber-
sitzt. Anderseits haben wir es doch nicht mit der radikalen Tren-
nung von Publikum und Bühne zu tun, wie wir sie etwa auf dem
Theater des Jodocus Badius vor uns sehen. Nicht nur fehlt der
trennende Vorhang, sondern das Podium, auf dem gespielt wird,
ragt bis in das Schiff der Kirche hinein, in dem die Zuschauer
sitzen, und Stufen führen von dort in den Zuschauerraum hinunter.
Ja, noch deutlicher kommt es zum Ausdruck, daß auf diesem
bürgerlichen Theater das Publikum doch einen gewissen Anteil an
der Leistung der Bühne besitzt: auf dieser Brücke, die räumlich
zwischen ihm und dem Schauplatz des Dramas geschlagen ist,
steht eine Gestalt, die in die Handlung einzugreifen berufen ist,
die aber anderseits als eine Gestalt des wirklichen Lebens mit dem
Publikum in eine rein theatralische Berührung tritt: der Herold,
als ein Symptom dafür, daß hier neben der Betonung der Vor-
rechte des Dramas auch den älteren Instinkten noch ein leises
Recht zugestanden wird.
Auch die Ausstattung der Bühne Hans Sachsens strebt im
ganzen sichtlich dem Modernen zu. Nachdem er in seiner Frühzeit
den Schauplatz offenbar noch in der mittelalterlichen Art ange-
ordnet hat, ringt er in den vierziger Jahren, in denen seine thea-
tralische Tätigkeit einen neuen Aufschwung nimmt, entschieden
nach engstem Anschluß an die Einrichtung der Schulbühne: jede
der Hauptpersonen hat ihr besonderes Haus. Als dann aber 1550
die Hauptzeit der Meistersingerbühne einsetzt, da muß die In-
szenierung etwas verändert werden: die größere Zahl der Personen,
die viele der neuen Hans Sachsischen Dramen verlangen, und die
beschränkten Raumverhältnisse der Marthakirche gestatten die
Gliederung der Hinterwand nicht mehr. Die neue Einrichtung
aber gibt mit den letzten Andeutungen der „Häuser" zugleich den
letzten Rest der Erinnerung an die mittelalterliche Bühnenanlage
auf und strebt dem modernen Grundsatz der Vereinfachung unter
stärkster Inanspruchnahme der Phantasie des Publikums mit noch
größerer Energie zu. Die Bühne kann nun bald diesen, bald jenen
Schauplatz bedeuten, ohne daß dem Auge des Zuschauers dafür
520 Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
irgendein Anhalt geboten würde; wo es sich nicht um Innen-
räume handelt, lenkt des Dramatikers Wort mit leisem Wink die
Einbildungskraft in die rechten Wege. Festgehalten wird mit großer
Entschiedenheit nur eines: die Korrektheit der Richtung, aus der
die Personen auftreten und in die sie sich beim Abgehen wenden;
hier verstand die Aufmerksamkeit des Publikums gewiß keinen
Spaß: war es doch durch die jahrhundertelange Übung der mittel-
alterlichen Aufführung dazu erzogen worden, gerade in der Be-
achtung der Richtung, in der die Hauptpersonen auf dem Schau-
platz sich bewegten, den Fortschritt der Handlung zu verfolgen.
Und nicht zufrieden damit, den Auftritt aus dem hmern des Hauses
— aus dem Mittelspalt des die Bühne abschließenden Vorhangs —
und das Kommen aus der Fremde — von der rechten Seite jener
aus dem Schiff zur Bühne emporführenden Treppe — so ausein-
anderzuhalten, daß z, B. Boten und feindliche Heere stets von vorn
kommen, schafft der Regisseur sich durch eine höchst geschickte
Benutzung der Sakristei noch einen dritten Aufgang, der sogar eine
dekorationsartige Besonderheit besitzt: er wird durch die vom
Chorraum in die Sakristei führende Tür gebildet, die nur zum
kleinsten Teil über das Bühnenpodium herausragt und sich dadurch
ungemein dafür eignet, als Höhle, als Gefängnis, als Flußbett usw.
verwendet zu werden; man mag es oben nachlesen, wie wirksam
der Regisseur es durch Verwendung dieser Auftrittsorte versteht,
dem dramatischen Leben der vorgeführten Dichtungen zu dienen.
Auch die sonst auf dem Schauplatz vorhandenen Dinge: der Chor-
stuhl, die Kanzel werden in ähnlichem Sinne benutzt; niemals
aber erhalten sie eine dekorative Ausschmückung, eine rein thea-
tralische Ablenkung des Publikums kann also nicht erfolgen. Wenn
die Handlung verlangt, daß jemand über einen Graben springt,
stellt ein Kreidestrich diesen vor. Anderseits aber sorgt die Regie
dafür, daß die Phantasie des Publikums, der soviel im Interesse
des Dramas zugemutet wird, umgekehrt in dem gleichen Interesse
auch nicht aus der mit suggestiven Mitteln des Wortes erreichten
Illusion gerissen wird: keine Theaterdiener erscheinen, um Requi-
siten fortzuschaffen, die nicht mehr auf der Bühne bleiben dürfen,
ebensowenig wie die vielen Toten des Hans Sachsischen Dramas
auf solche Art oder gar dadurch, daß sie sich erheben und davon-
schleichen, vom Schauplatz verschwinden dürfen, — stets ist dafür
gesorgt, daß solche Dienste, ohne daß es zu sehr stört, durch Per-
sonen des Stückes, öfters durch besonders dafür eingeführte Sta-
tisten entfernt werden. Das Requisit, das im Gegensatz zur Deko-
ration stets in unmittelbarer Verbindung mit den Trägern des
Dramas, den Menschen, steht, durch die Phantasie zu erschaffen,
mutet Hans Sachs seinen Zuschauern nicht zu; das was wirklich
für die Handlung nötig ist, aber eben auch nur das, wird aus der
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 521
Wirklichkeit auf den Schauplatz geholt oder mit einfacher Hand-
werkskunst direkt für die Aufführuntr geschaffen; die Verwendung
gar zu absonderlicher Dinge aber wird dabei, soweit es irgend
geht, vermieden. Nur einmal, gegen Ende der Blütezeit, kann die
Meistersingerbühne der Versuchung nicht widerstehen, ein Mittelding
zwischen Dekorationsstück und Requisit, nämlich ein Schiff zu
schaffen; und alsbald steckt auch der Theaterteufel seine Krallen
aus, um die Folgen dieser Entgleisung auszubeuten: dieses Schau-
stück spielt dann in der Folgezeit eine stärkere Rolle, als es für
den reinen Dienst am Drama wünschenswert gewesen wäre. Das
Kostüm endlich, bei dem wir in der eigentlichen Reinkultur des
Modernen nichts grundsätzlich Neues getroffen hatten, weist auch
auf der Meistersingerbühne mehr auf die mittelalterliche Art zurück.
Reste der Unterscheidung zwischen typischen Personen und Neben-
figuren finden sich immer noch ; auch die Verwendung des Klage-
kleides weist auf eine gewisse Stilisierung. Ganz der alten Weise
entsprechend ist besonders die starke Benutzung des Attributs zur
Charakteristik: da, wo die Personen im übrigen ihr AUtagsgew^and
tragen. Eine entschiedene Fürsorge zeigt sich für die Praxis des
Kostümwesens: für die Ermöglichung des Umkleidens, für die
Unterkleidung wird gesorgt; aber an eine rein theatralische Wir-
kung der Kostüme auf das Auge der Zuschauer wird höchstens
nach der Seite der Farbe gedacht. Nur zuletzt, in der gleichen Zeit,
als in dem Requisitenmagazin jenes Schiff eine zu große Wichtigkeit
erhält, zeigt sich auch unter den Kostümen eines, das auf die bloße
Schaulust spekuliert: ein Drachengewand, und die rein theatralische
Vorführung ist auch hier, wo doch der beste Wille zur künstleri-
schen Unterordnung des Nurtheatralischen herrscht, so stark, daß
offenbar in der nächsten Zeit von diesem Schaustück die Wahl der
dramatischen Stücke oder doch die Ausgestaltung einiger Szenen
beeinflußt wird. Ein deutliches Symptom wiederum, daß die Macht
des Theaters nicht gebrochen ist, sondern sich nur freiwillig eine
Zeitlang gebeugt hat.
Solche Unterwerfung unter die Macht des Dramas spüren wir
endlich auch in der Darstellungskunst der Meistersingerbühne:
sie ruht nirgends in sich selbst oder in dem eigentlichen Bereich des
Gesamttheaters, ist — wenigstens bei der Aufführung des großen
Dramas — streng antinaturalistisch und von der liturgisch-religiösen
Art der mittelalterlichen Darstellung durchaus entfernt. Jener
herausfallende Zug, den wir in der Kunst des Schultheaters fanden:
das pädagogische Element fehlt, wie schon angedeutet, auch hier
nicht: die Kunst ist so eingerichtet, daß sie gelernt werden kann;
aber dieses Lernen erfolgt hier nicht im Dienste einer Aufgabe,
die im Grunde noch über der Aufführung eines Dramas steht,
sondern erschöpft sich in dem Bestreben, bei den bescheidensten
522 Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
Kräften die Darstellung einer dramatischen Dichtung zustande zu
bringen. Eine starke Stilisierung tritt uns infolgedessen überall
entgegen, eine gewisse pathetische Feierlichkeit, wie sie das neue
Drama auch so gern zum Ausdruck bringen möchte. So schon in
der eigentlichen Aktion, z. B. in der Vorführung von Schlachten,
die statt einer blinden Drauflosholzerei als eine Art Nachbildung
der städtischen Turniere gegeben werden und in denen der
Kämpfer gern in einer pathetischen Pose gezeigt wird; auch die
Darstellung körperlicher Hergänge: des Schlafes, der Krankheit,
des Todes wird mit der entschiedensten Abwendung von aller
Naturnachahmung nur in wenigen, einfachen, großzügigen Be-
wegungen symbolisiert, hi der Darstellung des Seelischen endlich
kommt es noch nirgends darauf an, die einzelnen Gestalten mit
individuellem Leben zu erfüllen: das ginge durchaus über die
Kräfte der Mitwirkenden, das ist ferner ein Ziel, das die Schau-
spielkunst sich erst stecken kann, nachdem sie sich aus einer ge-
legentlich geübten Dilettantenleistung in eine auf sich selbst ge-
stellte Berufskunst gewandelt hat, das ist endlich ein Ideal, das
dem tiefsten Sinne der Renaissancetheaterkultur durchaus zuwider
ist, weil dabei die Gefahr vorliegt, daß der Darsteller um der
Herausarbeitung der Individualität willen die Grenzen seiner dra-
matischen Dienstleistung überschreitet. Die Schauspielkunst der
Renaissancetheaterkultur muß reine Vortragskunst sein. Am sicher-
sten aber wird dieses Ziel erreicht, wenn es „Regeln für Schau-
spieler" gibt, wenn die Zahl der Fälle, in denen er sich selbst auf
suggestivem Wege mit dem darzustellenden Gefühl füllt und dann
unwillkürlich den entsprechenden Körperausdruck schafft, be-
schränkt bleibt. So ist es auch auf der Meistersingerbühne, mit
um so größerem Recht, als den guten „Meistern" jene autosuggestive
Kraft gewiß nicht in hohem Grade zur Verfügung stand; hier wie
schon auf dem mittelalterlichen Stadttheater und wie auf dem Podium
der Schulaufführungen wird aus der schauspielerischen Not eine
theatralische Tugend gemacht. Wie auf der Schulbühne haben die
Darsteller vielmehr in der Hauptsache nach einem System von Einzel-
vorschriften zu arbeiten. Nur ist es bei weitem nicht so eingehend
wie das, an das die Schüler sich zu halten haben, und vor allem:
es wendet sich nicht ab von jenem Zuge zur großen Geste, den wir
um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert getroffen hatten, sondern
macht ihn mit der innerlichsten Freude mit. Wenn wir bei der
Betrachtung jener Zeit zweifeln konnten, ob sie es wirklich schon
zu einer Stilisierung der neuen Tendenz gebracht hat — jetzt ist
diese Stilisierung durchaus vorhanden.
So fehlt denn hier die Gesichtsmimik, die in der Kunst der
Schulbühne besonders gern verwendet wird, ganz und gar, und
neben dem Kniefall ist es in allererster Reihe die große Bewegung
Die Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn. 523
der Arme und der Hände, durch die hier das gesprochene Wort
unterstützt wird. Im Zentrum der so den Darstellern einstudierten
Gesten steht eine ganze Bewegungsskala, die gelegentlich in ihrer
steigernden Folge, gewöhnlich aber je nach der Situation in ihren
einzelnen Elementen benutzt wird: Händezusammenlegen, Hände-
aufheben, Händewinden, Händezusammenschlagen, Armeaufheben,
Händeüberdemkopfzusammenschlagen. Alles andere tritt daneben
zurück; ein paar Reste der religiös-liturgischen Bewegung zeigen
sich im biblischen Drama, gewöhnlich aber wird einfach das aus-
wendig gelernte Wort vorgetragen, auch ohne besondere Nüancierung
der Stimme, die auch zum Schreien nur erhoben wird, wenn die
räumliche Situation es verlangt. Um so mehr tritt die Bedeutung
jener großen Gebärden hervor, in denen Trauer, jäher Schmerz,
Entsetzen, flehentliche Bitte, leidenschaftliche Zuneigung zum ein-
prägsamsten Ausdruck kommen. Lyrisch-pathetisch oder vielleicht
noch richtiger sentimental-pathetisch unter Verzicht auf jede psycho-
logische Verfeinerung : das ist der Grundcharakter dieser Vortrags-
kunst, und er eint sich mit jener pathetisch stilisierten Art der
Aktion zu einem einheitlichen Gesamtbilde, in das auch der feierlich-
zeremonielle Zug, der durch die pedantische Einhaltung jeder Ge-
legenheit zur Begrüßung entsteht, sich trefflich einfügt. Und im
Gegensatz zu der Differenz, die in der Schauspielkunst der Schul-
bühne besteht zwischen dem Sinn der Vortragsart und dem Wesen
des Dramas, dem jene doch dienen möchte, ist hier entschiedenste
Übereinstimmung mit den Grundtendenzen der bürgerlichen Dramen-
kunst des 16. Jahrhunderts vorhanden.
Zum Fastnachtspiel freilich hätte diese Darstellungsart in völlig
reiner Durchführung ganz und gar nicht gepaßt: denn in diesem
dramatischen Gebilde, zumal in der Form, die Hans Sachs ihm gab,
ist die Nähe der Wirklichkeit des Alltagslebens allzu greifbar zu
spüren, treten lyrische Pathetik und Mühen um Feierlichkeit allzu
sehr zurück, wird eine verhältnismäßig subtile Seelenkunst allzu
deutlich, als daß jene lyrisch-pathetische, zeremonielle, antinatura-
listische, antipsychologische Vortragsart irgendwie hätte genügen
können. So ist denn tatsächhch hier eine andere Grundlage der
Darstellung auf der Meistersingerbühne zu finden: in der Aktion
macht sich ein Naturalismus geltend, der jeder Versuchung aus dem
Wege geht, etwa eine Prügelei zu stilisieren; die körperlichen Zu-
stände werden viel drastischer und wirklichkeitsgemäßer vorgeführt,
als der große Stil es erlaubte, wobei, besonders auch in der Dar-
stellung der Krankheit, die kostümliche Charakteristik in ganz
anderm Umfange angewendet wird als im großen Drama; für die
körperliche Ausprägung des Seelischen wird die dort verschmähte
Gesichtsmimik in verhältnismäßig weitem Umfange zugelassen, und
auch Ansätze zu einer Differenzierung der Stimmstärke in anderm
524 I^iö Gesamtergebnisse und ihr geistiger Sinn.
als bloß räumlichem Interesse fehlen nicht. All dem gegenüber aber
herrscht doch auch hier auf der Meistersingerbühne das Gefühl,
einer zu weiten Ausdehnung dieser naturalistisch-psychologischen
Kunst entgegentreten zu müssen, weil sie die in der Renaissance-
theaterkultur am meisten bekämpfte Gefahr in sich birgt, dem rein
Theatralischen zu starke Zugeständnisse machen zu können. So
wird denn auch hier stilisiert: neben jenen naturahstischen Elementen
zeigen sich die Grundzüge des Stils, der sich bei der Aufführung
des großen Dramas bewährte.
Das Ganze des meistersingerischen Theaters iiberschauend
müssen wir sagen, daß hier immerhin das Prinzip der Renaissance-
theaterkultur in der Praxis am meisten ausgeprägt ist, ja, daß neben
dem Streben, in erster Reihe dem dramatischen Wort zu dienen,
ein gewisses Bemühen sich zeigt, auch den rein theatralischen In-
stinkten des Publikums in ungefährlichem Umfange zu Willen zu
sein. Wir haben an dieser Stelle also zum ersten Male so etwas
wie einen Zug zu dem vor uns, was wir als das Klassische be-
zeichneten : zu einem harmonischen Miteinander und Nebeneinander
von Drama und Theater. Nur daß leider einerseits das Dramatische
noch auf einer sehr tiefen Stufe steht und daß anderseits auch die
Theaterkunst fast ganz im Bann eines philiströsen Dilettantismus
bleibt. Und so hat das Ganze denn wie aller meistersingerische
Betrieb auch nur als Symptom der Sehnsucht und des Strebens,
nicht als künstlerische Leistung seinen Wert.
Mit den gleichen Verhältnissen aber hängt es auch zusammen,
daß solche Sehnsucht in dem Zeitalter, von dem hier geredet wird,
überhaupt nicht erfüllt wurde, daß eine Fortentwicklung über den
auf der Nürnberger Meistersingerbühne erreichten Punkt nicht er-
zielt ist. Hans Sachs hat Schüler gehabt, aber es sind kleine Leute wie
Andreas Pfeilschmidt und Sebastian Wild, und wenn er selbst schon
nur in den engsten Bezirken seines weiten Reichs ein Meister war,
so haben die Schüler weder im Dramatischen noch im Theatralischen
es zu Eigenem und Wertvollem gebracht. Und erst bei Hans
Sachsens Nürnberger Nachfahren Jakob Ayrer gesellt sich um die
Wende des 17. Jahrhunderts zu dem, was er von jenem Vorgänger
überkommen hat, das wesentliche Grundelement der Theaterkultur
einer neuen Epoche. Für diese neue Theaterkultur aber, die ganz
und gar nicht mehr geneigt ist, sich dem Dramatischen unter- oder
auch nur nebenzuordnen, die vielmehr im Interesse ihrer eigenen
zügellosen Entfaltung auch den grandiosesten Dramatiker rücksichts-
los unter die Füße tritt, hat das vorliegende Buch neue Aufschlüsse
nicht mehr zu geben versucht, und so darf hier nun endlich der
Vorhang fallen.
Berichtigungen und Nachträge.
S. 5 lies philologische.
S. 8, Anm. 3. Die Schrift von H. Knudsen [niclit Kundsen] über Beck ist inzwischen
erscliienen: Heinrich Beck, ein Schauspieler aus der Blütezeit des Mannheimer Theaters
im 18. Jahrhundert. Theatergeschichtliche Forschungen 24 (Leipzig und Hamburg 1912).
— Ich nenne hier ferner noch: R. Bitterling, J. F. Scliink, ein Schüler Diderots und
Lessings. Beitrag zur Literatur- und Theatergeschichte der deutschen Aufklärung. Theater-
geschichtliche Forschungen 23 (Leipzig und Hamburg 1911) und B. Diebold, Das Rollen-
fach im deutschen Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts. Theatergeschichtliche Forschungen 25
(Leipzig imd Hamburg 1913).
Die Sclirift von J. Mau er mann. Die Bühnenanweisungen im deutschen Drama
bis 1700 (Berlin 1911), leidet empfindlich darunter, daß sie theatergeschichtliche Ergeb-
nisse fast allein aus den szenischen Bemerkungen gewinnen will. So hätte sie, auch
wenn sie früher erschienen wäre, mit ihren Darlegungen S. 17ff., S. 38 ff., S. 50 fL die
Untersuchungen des vorliegenden Buches kaum gefördert. — Die nach dem Abschluß des
ersten Kapitels veröffentlichte Dissertation von A. Glock, Die Bühne des Hans Sachs I
(München 1903) auch nur polemisch nachträglich heranzuziehen, lag ebenfalls keine Ver-
anlassung vor.
S. 8, Anm. 4. Jetzt kann auch noch auf Kost er s wichtige Studie „Das Bild an
der Wand. Eine Untersuchung über das Wechselverhältnis zwischen Bühne und Drama"
verwiesen werden: Abhandlungen der phil.-hist. Klasse der sächs. Akademie 27 (1909),
S. 267—302.
S. 9, Anm. 2. Die Schrift von G. Cohen, Geschichte der Inszenierung im Geist-
lichen Schauspiele des Mittelalters in Frankreich. Vermehrte und verbesserte Auflage.
Ins Deutsche übertragen von C. Bauer (Leipzig 1907), die hier vielleicht neben den auf
die englische Bühne bezüglichen Schriften genannt werden könnte, vertritt, bei mannig-
fachen Vorzügen, noch nicht die Forderung einer wirklich kritischen Prüfung des Materials.
S. 15, Anm. 4. Vgl. das Vorwort.
S. 25, ZI. 16 V. u. lies gelesener statt gelesene.
S. 36, Anm. 1 vgl. zu S. 15, Anm. 4.
S. 39, ZI. 24 lies Orlientz.
S. 49, ZI. 4 lies in ir schos.
S. 61, Anm. 2. Einiges Material auch bei E. Soll, Tappisseries conservees ä Quedlin-
bourg, Halberstadt et quelques autres villes du Nord de l'Allemagne: Bulletin de la Gilde
de St.-Thomas et St.-Luc 22 (Brügge 1889). — Vor allem scheinen die Teppiche im
Rathaus zu Regensburg (vgl. v. d. Leyen und Spam er in „Das Rathaus zu Regens-
burg", Regensburg 1910, S. 71—105) dafür zu sprechen, daß doch auch Deutschland im
Mittelalter einige Leistungen von größerer Bedeutung aufzuweisen hat; oder man müßte
annehmen, daß diese Teppiche mit den in sie eingewirkten deutschen Worten auf Bestellung
in den Niederlanden oder in Frankreich hergestellt worden sind.
S. 66, ZI, 13 V. u. Bei den Kleinmeistern handelt es sich wohl mehr um Klassizismus.
S. 89 unten : Die Erörterung über den Kahn in der Züricher TeUaufführung ist nach
S. 462 ff. nicht aufrecht zu erhalten.
S. 90, ZI. 10 V. u. lies Romuhis und Remiis.
S, 96, ZI. 14. Der Sims ist allerdings schräg (vgL Abb. 4).
S. 112, Anm. 1. Das ost- und westpreußische Trachtenbuch ist jetzt in den Besitz
der Generalintendantur der Kgl. Schauspiele zu Berlin übergegangen.
S. 118, ZL 15 lies Aufstellung.
S. 128, ZL 16 V. u. tilge die Klammer vor genau.
526 Berichtigungen und Nachträge.
S. 129 letzte Zeile lies 1555.
S. 142, Anm. 1, ZI. 2 lies Harscherin.
S. 145, ZI. 15 lies sachsischen.
S. 187f. Der hier hervorgehobene Gegensatz zwischen dem Ideal der Zucht, die
die Unterdrückung des Schmerzes vorschreibt, und der Neigung, unter besonderen Um-
ständen die Tränen fließen zu lassen, tritt höchst sinnfällig Willehalm 152,1 ff. hervor.
S. 161, ZI. 19 V. u. hinter (jaiiz ist allein ausgefallen.
S. 165, Absatz 2. Diese Darstellung ist nach S. 508 zu berichtigen.
S. 166, ZI. 22 lies Dirigierrolle.
S. 174, ZI. 18 lies Sachs'.
S. 193, ZI. 2 lies Helmbrecht.
S. 193, ZI. 23 lies bliuclichen.
S. 194, ZI. 4 lies eislicher.
S. 198, ZI. 9 V. 11. lies kontrastieren.
S. 203, Anm. 3 lies lese.
S. 204, ZI. 3 f. lies besser Ehrerbietungsbezeuguncj.
S. 212, Anm. 2. Nachzutragen wären etwa noch: Speculum humanae salvationis
ed. J. Lutz u. P. Perdriget (Mühlhausen 1907—9), bes. Bd. 1, S. 175 ff., u. Die Biblia
Pauperum u. Apokalypse der großherzog!. Bibl. zu Weimar, her. v. H. von der Gabelentz
(Straßburg 1912), bes. S. 19 ff.
S. 220, ZI. 1 lies Überlieferung.
S. 220, ZI. 9 ff. Eigentlich erübrigt es sich wohl, hier noch besonders zu betonen,
daß für die a. a. 0. gebotene Gesamtdarstellung den S. 220, 224, 226 als wichtig be-
zeichneten Schriften wichtige Erkenntnisse entnommen sind.
S. 224, ZI. 10 V. u. statt von lies voll.
S. 233, ZI. 16 statt gebogenen lies gehobenen.
S. 286, ZI. 8 V. u. lies (S. 208 f.)
S. 291, Anm. 7, ZI. 4. Dringend nötig ist besonders auch eine kritische Untersuchung
der u. S. 479 und 499 erwähnten ApoUoniaminiatur Foucquets.
S. 331. Von späteren Ablehnungen erwähne ich noch die H. Wölfflins, Die Kunst
A. Dürers (München 1905), S. 311; dort ist auch noch andere Literatur genannt.
S. 349, Bildunterschritt lies 111,1.
S. 359, ZI. 15 V. u. statt für lies auf
S. 368, ZI. 12 V. u. statt Über die lies Von der.
S. 387, Abb. 70. Besonders hingewiesen sei hier noch auf die Gestalt des Sisera
und die Art, wie sein Schlafen dargestellt wird: allem Natürlichen, der bildkünstlerischen
Tradition (vgl. z. B. Abb. 71/2) und auch der biblischen Quelle zuwider. Ob wir hier ein
Abbild der symbolischen Darstellung des Schlafs auf dem Theater vor uns haben?
S. 443, Bildunterschrift füge hinzu Der Mönch mit dem Gouclivogel (vgl. S. 441).
S. 500. ZI. 6. Hingewiesen hatte hier z. B. noch auf die Drucke V. Boltzscher
Dramen werden können, die J. Kündig 1551 in Basel veranstaltete; doch hat bereits der
Herausgeber des „Weltspiegels", A. Geßler (Schauspiele, Schweizerische 2, S. 105) darauf
aufmerksam gemacht, daß die ihm beigegebenen „Figuren" größtenteils Boltz' nicht-drama-
tischem „Illuminierbuch" v. J. 1549 entnommen sind.
S. 510, ZI. 19ff. Die Annahme von Hammitzsch S. 5f. und Cohen S. 85, daß auch das
mittelalterliche Theater wenigstens in Frankreich bereits die vom Publikum losgelöste Bühne
gekannt habe, vermag icii nicht zu teilen; ihre Widerlegung würde hier aber zu weit führen.
S. 517, ZI. 12. Auch die Schauspielkunst der Schweiz scheint konservativ zu sein:
wenigstens weist H. Bullingers um 1529 entstandene „Lucretia" mit ihren für die Dar-
steller bestimmten Charakteristiken der Personen (s. Schauspiele, Schweizerische 1, S. 168 f.)
auf ältere Art zurück, — allerdings nicht auf die des geistlichen Sladttheaters, sondern
auf den typisierenden Naturalismus des Fastnachtspiels, mit dem die „Lucretia" auch
hinsichtlich der dramatischen Technik durch die formale Nachahmung des Waldisschen
Fastnachtsspiels vom verlorenen Sohn verbunden ist.
Namen- und Sachregister.
(Abkürzungen: BK. = Bildkunst; NTE. = Neutestamentliclie Erzählung in Deutschland;
P. = Passionsspiel ; Th. = Theater. )
Abele speien 288, 308 f., 312, 317f.,
386, 398, 511.
Abgehen s. Aufti-eten u. Abgehen.
Abimelech (Th.) 377, 382, 400.
Ablehnung (Th.) 263 f.
Abneigung (Th.) 162 f., 166.
Abscheu (Epos) 193. — (Th.) 25-t.
Abschied (Epos) 180, 184 f., 190 f.,
193. — (Th.) 248, 265.
Actio 259.
Actor s. Regie.
Adolf von Cleve 369.
Äi-ger (Th.) 162, 249.
Agricola, J. 105.
Ahasverus (Th.) 386.
Aktion (Th.) s Schauspielkunst.
Aktschluß, Dramaschluß 42.
Alberti, L. B. 310 f., 314.
Alexander d. Große (Th.) 384.
Alexanderlied 181, 183.
Allegorie 384.
Allegorisches Epos 197, 200.
Alsfelder P. 83, 85, 160, 166, 173,
243.
Altdorfer, A. 449.
Altertum s. Antike.
Altes Testament (BK.) 212, 390 ff. —
(Th.) 381, 385. — S. auch Abi-
melech, Ahasverus, David, Debora,
Esther, Hiob, Jakob, Josua. Judith,
Moses, Nebukadnezar, Rebecca,
Saba, Salomo, Susanna, Tobias,
Tubal; s. auch Sachs, Hans.
Amerbach, J. 330 ff.
Amiens, Kathedrale zu 417, 425.
Amman, J. 91, 392.
Anbetung s. Gebet.
Anbetung der drei Könige (BK.) 233,
235, 238, 240 f. — (Th.) 240 f.
Andacht (BK.) 222, 223, 225, 230,
232, 238. — (Epos) 185, 188,
193. — (Th.) 245.
Angst (BK.) 221, 222, 224, 229, 230,
235. — (Epos) 180, 184 f., 187 ff.,
192 f., 200, 251 f. — (Th.) 162,
172 f., 246, 248, 263. — S. auch
Todesangst.
Annaberg (BK.) 426, 432.
Annas u. Christus (Th.) 249.
Anshelm, V. 105.
Anspeien s. Speien.
Antike. Gesten der 221, 223, 229 f.,
261 ff.
Antike Stoffe (Th.) 386 ff. — S. auch
Alexander, Argonauten, Ast;y^ages,
Cadmus, Hercules, Hippolyta,
Jason, Paris, Pentesilea, Perseus,
Romulus, Semiramis, Sibylle, Sino-
pis, Theodosius, Tomyris,Tra.(anus,
Troja; s. auch Sachs, Hans.
Antike Tracht: Darstellung auf dem
neueren Th. 114, llSff., 122.
Antikes Drama, moderne Auffüh-
rungen 294 ff., 301.
Antikes und mittelalterliches Theater
290, 299 f, .307, 319.
Antwerpen (Th.) 366, 376, 380 f.
Apokn^hen 2011, 2051, 2101
Aposteltracht (Th.) 117, 488 f.
Apuleius 442.
Argonauten (Th.) 386.
Armbewegungen (Bibel) 117. — (BK.)
219, 2211, 2991, 2321 —(Litur-
gie) 204. — (Th.) 246, 267, 410. ^
S. Armeaufheben, Armeausbreiten,
Armeausstrecken,
Armeaufheben (BK.) 221, 223, 230,
232, 269. — (Epos) 255 (Auf-
recken). — (Th.) 242, 247, 264.
52
Namen- und Sachi-egister.
Armeausbreiten (BK.) 223. — (Th.)
243.
Armeausstrecken (BK.) 239. - (NTE.)
208 f. — (Th.) 244.
Ars dicendi sive perorandi 256.
Assche 301.
Astyages (Th.) 382, 389.
Attribute (Th.) 103 f., 115, 135 f.,
155,430,550.-8. auch Requisiten.
Auffahren (Epos) 252. — (Th.) 244,
246.
Aufmerksamkeit (Th.) 263.
Aufsangesichtfallen (Th.) 250.
Aufspringen (Epos) 183, 190, 198.—
(NTE.) 206. — (Th.) 246.
Auftreten u. Abgehen (Th.) 24 ff.,
30 ff., 49, 51, 514 f., 520.
Augen s. Blicken.
Augenreiben (BK.) 237. — (Epos)
253. — (Th.) 244.
Augsburg 106, 109 ff., 297, 413 f.
Ausspeien s. Speien.
Ausstattung s. Dekoration.
Ayrer, J. 524.
Badius, J. 300, 318 f., 336 ff., 348,
352, 398, 511, 513 f.
Barte (Th.) 417, 432.
Baibus, H. 301.
Bamberg, Chorschranken 226 ; Skulp-
turen 228.
Bartfassen (-drehen, -raufen) (BK.)
230, 238. — (Epos) 182, 195, 253.
Bartholomäusmeister 239.
Basel (BK.) 419 ff., 526. — (Kostüme)
433. — (Th.) 123 f., 421 ff.
Baseler Terenz 329 ff., 363 f.
Basken 108.
Beda 205.
Beham, H. S. 66, 269, 442, 525.
Beileid (Th.) 248.
Beleuchtung (Th.) 400.
Bembo, P. 278.
Benediktbeurer Weihnachtsspiel 85.
165, 172, 438, 506, 508.
Berger, Th. 500.
Bergmann, J. 331.
Berlin 112.
Bernhard von Clairvaux s. Planctus.
Bern 413, 444 ff. (Th,)
Bertelli, D. 108, 111.
Bertram, Meister 234.
Beten s Gebet.
Bewunderung (Th.) 262.
Bibel, Gesten der 176, 261.
Bibel, Lübecker 317, 387, 408, 410;
Wittenberger 114; Züricher 489.
Bibliae pauperum 211 f., 215, 526.
Bibhae picturatae 213.
Bibliophilen in Frankreich 283.
Bilderhandschriften 212.
Bildkunst (Gesten) 210 ff., 268 ff. —
(Kostüme) 114, 357 ff. — (Stoff-
wahl) 211 ff. — (BK. u. Dichtung)
25 103, 240, 242. — (BK. u. Kirche)
210 ff., 214, 217. — (BK. u. Th.)
47, 114, 116, 240 ff., 268 ff., 353 f.,
376 ff., 405, 408 f., 491, 498.
Binder, J. 258, 455, 460.
Birck, S. 455, 459, 467.
Bitten (BK.) 221, 229. — (Epos) 180,
183, 191, 252. — (Th.) 162 f., 246,
254, 410. — S. auch Flehen.
Bleich werden s. Erbleichen.
Blicken (Bibel) 176f.(BK.) 226, 230f.,
233, 235 f., 238 f. - (Epos) 184,
192, 194 f., 198, 200, 251, 253. —
(Liturgie) 203. — (NTE.) 205. —
(Prediger) 202. — (Th.) 161, 166,
242, 245, 247, 254, 263.
Blondeel, L. 390.
Blut auf dem Th. 132.
Boccaccio, G. 279.
Böhmische Malerschule 232.
Boldini 392.
Boltz, V. 127, 352, 526.
Boner, U. 324.
Bordesholmer Marienklage 242.
Borghini 63.
Bouts, D. 392.
Braguettes 407 f.
Brant, S. 330 ff., 336 ff., 340 ff .
Breslau, Regeln für die Schulauf-
führungen in 259.
Brevier Grimani 391.
Breydenbach, D. 105
Briefe (Th) 147.
Brigitte, hl. 439.
Brosamer, H. 442.
Brügge 365, 377. — (Th.) 370, 379 f.,
383 f., 397, 400, 403 f.
Brüssel (bes. lebende Bilder) 301,
365 ff., 404, 490, 492, 504.
Brunner von Zofingen 418, 505.
Brusts{!hlagen (und -greifen) 202. —
(Bibel) 177. — (BK.) 230. — (Epos)
Namen- und Sachregister.
529
182, 188, 195, 252. — (Liturgie)
203. — (NTE.) 205, 207 f. — (Tli.)
250, 264, 284.
Bruyn, N. de 427, 430.
Bühne, Bühnenfonii : (Bilder, lebende)
368 ff., 397 f. — (Fastnachtspiel-)
504 f. — (Marktplatz-) 25, 526. —
(Meistersinger-) 13ff., bes. 56, 519.
— (Renaissance-) 353 f., 510 ff. —
(Schultheater-) 354, 517.
Bürgerliche Epik 197 ff.
BulHnger, H. 455, 526.
Burgfelden, Weltgerichtsbilder 221.
Burgund (Th.) 374.
Byzantinische Bildkunst 225 f.
Cadmus (Th.) 384.
Calcar, Altar v. 239.
Calixt und Melibia 114.
Calhopius 257, 284, 286 f., 345.
Calphurnius, J. 344, 348.
Cambrai (Th.) 374.
Cappuge, J. 378.
caveae 321.
Chöre (Th.) 305.
Christus: Geburt u. Jugend (BK.)
212, 214, 217, 230, 237f., 437 ff. —
Lehre u. Wunder: (BK.) 212, 214,
221 f.; (Th.) 159. — Einzug in Jeru-
salem (BK.) 445 ff. — Ölberg (BK.)
215f.,466f.; (NTE.)244; (Th.)159f.,
178, 244, 249. — Leiden (BK.) 212,
214, 217, 234f., 237, 413ff.;(NTE.)
207; (Th.) 148, 159 f., 202, 249,
370. — Kreuzigung (BK.) 223, 230,
232ff., 237, 239; (NTE.) 207, 209;
(Th.) 159. — Ki-euzabnahme (BK.)
230; (NTE.) 207. — Grablegung
(NTE.) 207. — Glorie (BK.) 212,
2221, 227, 229. — S. auch An-
betung der drei Könige, Annas,
Ehebrecherin, Judas, Kaiphas, Lon-
ginus, Maria, Maria Magdalena,
Peti'us, Pilatus' Frau, Zenturio.
Christuskostüm 115 f.
Chronikenillustration,Schweizerische
412 f.
Cicero 256 ff. 261.
Cliches 323 ff.
Clichemanier 353 f.
Clicheverkauf 420 f.
H e r r m a n u , Theater.
Codex Egberti 222.
Comes 211.
Commedia dell' arte 308 f.
Concordantiae caritatis 213.
Cortez, F. 108, 110.
Cranach, L. d. ä. 442, 446 ff., 479.
Culmann, L. 15, 256.
Curio, V. 444.
Curti, J. 362.
D
Dank (Epos), 180, 183f., 189ff. —
(Th.) 162, 246 ff., 263.
David (BK.) 390. — (Th.) 382, 384,
386.
David, G. 390, 392.
Debora (Th.) 382, 385.
Dekoration 43 ff., 57 ff., 398 ff., 510,
513 ff.
Dekorationsmalerei 62 ff.
Demut (BK.) 222 f., 230, 232, 363.
— (Th.) 262.
Devotion s. Demut.
Dialog als theatergeschichtliche
Quelle 102 f.
Dialogliteratur 452, 454.
Dinckmut, C. 292.
Donatus 257, 306 f., 310 f., 348.
Donaueschinger F. 159 f., 166, 173,
243, 509.
Drachenkostüm (Th.) 130, 378, 521.
Drama (u. Gottesdienst) 176. —
(Illustrationen) 273 ff. — (als Lese-
hteratur) 454. — (des Mittelalters)
504. — (Manuskripte) 164. —
(der Renaissance) 510 f., 516. - —
(u. Theater) 3 f., 41, 130, 132,
510 fL
Dramen des Mittelalters, geistliche
s. Alsfeld, Benediktbeuren, Bordes-
holm, Donaueschingen, Dresden,
Eger, Erlau, Frankfurt, Heidelberg,
Nürnberg, Redentin, Rheinau,
Ronen, Tirol, Trier, Wolfenbüttel.
Dreikönige s. Anbetung.
Dreireim 418.
Dresdener Johannisspiel 490, 492 f.
Drohung (Th.) 162, 244.
Dürer, A. 105, 239, 268 ff., 329 ff.,
409, 442, 449, 467.
Dummheit (Th.) 263.
Dupuys, R. 380.
34
530
Namen- und Sachregister.
E
Eberlin, J. 440.
Edlibach, G. 413 ff., 431, 490, 505.
Egerer Fronleichnamspiel 159, 166.
Ehebrecherin u. Christus (Th.) 178.
Ehrerbietung (Bibel) 204; (BK.)
222 f. — (Epos) 180, 189. —
(Th.) 265.
Ehrfurcht (Epos) 190 f., 197. — (Th.)
247, 263.
Eilhart von Oberge 186, 190, 196.
Einfühlung, mimische (Epos) 186. —
(Th.) 175 f., 507, 522.
Einzüge s. Fürsteneinzüge.
Ekel (BK.) 223. — (Th.) 161, 254.
Elsaß, Dramenillustrationen 457 ff.,
500.
Emporfahren s. Auffahren.
Engel 117, 226, 232, 406, 418,
489 ff.
Entrüstung (Th.) 434.
Entsetzen (BK.) 223. — (Epos) 189.
— (Th.) 162 f., 167, 409, 434.
Enttäuschung (Th.) 248.
Epigonenepik, ritterliche 195.
Epilog 41 ff., 58.
Epos 178 ff., 205 ff. S. auch Sachs,
Hans.
Erasmus 300, 443 f.
Erbleichen (BK.) 233. — (Epos)
185 f., 192, 251. — (NTE.) 205,
208.
Ercole d'Este 295.
Ergebung (BK.) 223. — (Th.) 162.
Erkennen (Th.) 245.
Erlauer Dreikönigsspiel 115.
Erlösung, Gedicht von der 206.
Ermahnung (Th.) 410.
Ernholt s. Herold.
Ernst (Th.) 263.
Erregtheit (BK.) 231. — (Epos) 183.
Erröten (Epos) 185, 192, 195, 197,
251.
Eulenspiegel 326.
Eselbohren (Epos) 253. — (Th.) 254.
Esther (BK.) 390. — (Th.) 382, 384,
386, 400.
Evangeliarien 211
Eyck, J. van 390.
Fastnachtsspiel 130, 137f., 145,
147 f., 156 f., 162 f., 165, 167,
169 ff., 253 f., 285, 418, 421 ff.,
444 ff., 450 ff., 504 f., 508, 523 f.
Faustballen (Epos) 187, 191, 196.
— (Th.) 254.
Faustus Andrehnus 301, 303.
Feigezeigen (Epos) 253. — (Th.) 254.
Feindschaft (Th.) 263.
Ferrara (Th.) 295, 301, 307.
Feste 90, 295, 370. — S. auch Für-
steneinzüge.
Feuerwerk 90, 130 f.
Fingergesten (BK.) 223, 225, 234 f.,
238. — (Epos) 252 f. — (Th.)
248, 265, 267.
Flandern (Th.) 307 ff., 311.
Flehen (Th.) 247.
Fornices 312 f., 321.
Foucquet, J. 376, 479, 499, 526.
Franck, H. 443.
Franeker (Friesland) 456.
Frankfurt a. 0., Schulbühne 260.
Frankfurter Dirigierrolle 166.
Frankfurter Passionsspiel 82 f., 159f.,
166.
Frankreich (Holzschnitt) 354 f., s.
auch Lyon. — (Humanismus)
283 ff., 300 ff., — (Miniaturen)
283 f. — (Th.) 364.
Frauen als Darsteller 78.
Frechheit (Th.) 262 ff.
Freiburg, Skulpturen 228, 231.
Freude (Epos) 180, 183 ff., 188f.,
192 ff., 252. — (Th.) 162 f., 166,
174 f., 246 f., 263, 265.
Freundschaft (Epos) 184, 191, 263.
— (Th.) 162.
Fries, L. 439.
Frieß, A. 455 ff., 476 f.
FröhHch sprechen (Th.) 170 f.
Fröhch, J. 456 ff., 465, 500.
Froissart, J. 368.
Fronleichnamsprozessionen 373,
511 f.
Froschauer, Ch. 455, 457, 467, 477.
Fürsteneinzüge 63 f., 103, 364 ff.,
371 ff., 376 ff., 382 ff., 400 f.
Furcht s. Angst.
Fußfall (auch Umfassen, Küssen der
Füße des andern) (BK.) 222, 233.
— (Bibel) 177. — (Epos) 180. —
(Th.) 177, 243. S. auch Aufsan-
gesichtfallen, Kniefall usw. ,Nieder-
fallen.
Fußzucken (Epos) 183. — (Th.) 244.
Namen- und Sacliregister.
531
G 1
Gaguin, R. 352.
Gang (Epos) 89. — (Th.) 155, 175.
Garderoberauni 23.
Gebärden (Altertum) 179, 219. —
(Bibel) 176, 218, 248. — (BK.)
210 ff., 220 ff., 268 ff., 360 ff., 403.
— (Epos) 138, 178ff., 251 ff. —
(Liturgie) 202 ff. — (Th.) 177 f.,
204, 242 ff., 245 ff., 254 f., 262 ff.,
360, 409 ff., 419, 433 f., 505 ff.,
516, 518, 522 ff.
— (ausgestorbene) 256. — (deuten-
de) 220. — (sakrale) 220; s. auch
Liturgie. — (soziale) 238, 266.
— (stabile und labile) 177 f., 201,
203, 205 f., 215 ff., 249 f. — (sym-
bolische) 180. — (wirkliche) 179,
200, 360. — (wortlose) 166. —
Geschichte der 262. — S. auch
Antike, Armbewegungen, Arme-
aufheben, Armeausbreiten, Arme-
ausstrecken, Auffahren, Aufsange-
sichtfallen, Aufspringen, Augen-
reiben, Bartfassen usw., Bibel,
Brustschlagen, usw., Eselbohren,
Faustballen, Feigezeigen, Finger- \
gesten, Fußfall, Fußzucken, Gang,
Gesamtkörperhaltung, Gesichtver-
hüllen, Gesichtzerkratzen, Haar-
raufen, Hand, Hinhören, Hin weisen,
Hutrücken, Kniebeugen, Knien,
Kniefall, Kopf, Kuß, Minnelyrik,
Neigen, Niederfallen, Prostratio,
Eedegebärde, Rockzupfen, Schul-
terklopfen, Sichsegnen, Sichum-
sehen, Sitzen, Umarmen, Winken,
Zittern, Zeremonialgebärde.
Gebet (Altertum) 203. — (BK.)
222 f., 225, 229, 231, 244. —(Epos)
180, 184, 189, 191, 200, 252. —
(Liturgie) 244. — (Th.) 162 f.,
166, 244, 247, 263, 265.
Gedächtnis (Th.) 146, 258, 266.
Geiler, J. 443.
Geistliche als Bildkünstler 211. —
als Darsteller 506, 508.
Gelöbnis (Epos) 184. — (Th.) 248,409.
Generalprobe 472 ff.
Gengenbach, P. 270, 419 ff., 457 f.
— (Gouchmat) 439 ff. — (Noll-
hart) 434 ff. — (Zehn Alter)
457 ff., 513, 516.
Gent 301, 375. — (Th.) 374, 378,
380.
Gerichtsverfahren auf der Bühne
147 f.
Gesamtkörperhaltung (Bibel) 177. —
(BK.) 222, 224 f., 227 f., 229, 232,
234, 237 f. — (Epos) 183, 189,
252 f. — (NTE.) 208. — (Th.)
174 ff., 245.
Geschichtliche Stoffe (BK.) 390 ff.
— (lebende Bilder) 382.
Gesichtsmimik s. Mimik.
Gesichtverhüllen (BK.) 223. — (Th.)
248.
Gesichtzerkratzen (Epos) 189. —
(NTE.) 208.
Gesten s. Gebärden.
Glücksrad (Th.) 384, 388.
Glückwunsch (Th.) 162, 248.
Gnapheus, G. 123.
Goes, H. van der 377, 390.
Gotik 226 ff., 235.
Gottfried von Straßburg 186 f., 190f.,
194.
Gourmond, Gilles de 380.
Grabfiguren 225.
Grauen (Th.) 247.
'Grausamkeit (BK.) 237 f. — (Th.)
263.
Griseldis (Petrarca-Wyle) 460.
Groote, G. 202.
Grüninger, J. 31 8 ff., 345, 353, 500.
Gruß (BK.) 222, 235, 266. ^ (Epos)
180, 189 f., 191, 197 ff. — (Th.)
161, 245 f.
Guarino d. J. 295 ff., 301, 435, 440.
Güte (Epos) 185. — (Th.) 263.
Guido JuvenaKs 302, 318, 348.
H
Haarraufen (BK.) 223. — (Epos)
182, 188, 195, 199, 252. —
(NTE.) 206, 208. — (Th.) 434.
Halberstadt, Liebfrauenkirche 225.
Hamburger Stadtrecht, Miniaturen
405.
Hammer, W. 392.
Han, W. 67.
Hand, Hände: aufheben (BK.) 221,
232, 238, 269; (Epos) 184, 191;
(Th.) 244, 246 f., 265, 523. — auf-
recken (BK.) 238; Epos 184, 191.
— ausstrecken (Bibel) 177; (BK.)
34*
532
Namen- und Sachregister.
221 ff., 225; (Liturgie) 203; (NTE.)
208; (Th.) 177, 243, 265. — fal-
ten (BK.) 229, 232 f., 238; (Epos)
184, 191; (Th.) 265, 434. — rei-
chen (BK.) 238; (Epos) 191, 253;
(Th.) 248. — ringen, winden
(BK.) 232, 235, 238 f., 269; (Epos)
182, 195, 252; (NTE.) 208; (Th.)
247 f. — zusammenlegen (BK.)
225, 230, 269; (Epos) 252; (Lit-
urgie) 203; (Th.) 247, 523. — zu-
sammenschlagen (BK.) 269 ; (Epos)
182, 252; (NTE) 208; (Th.) 247,
434, 523.
— vor der Brust (BK.) 223, 225,
230, 233, 409; (Th.) 409 f. —
über dem Kopf zusammenschla-
gen (BK.) 239, 269; (Epos) 255 f.;
(Th.) 247 f., 255 f., 410, 523. —
an der Wange (BK.) 222 f.; (Epos)
191, 252; (Th.) 248.
Hans vom Bühel 196.
Hartmann von Aue 186 ff., 193.
Hausbuchmeister 392.
Hechler, H. 460.
Heere auf der Bühne 39.
Heidelberger P. 159 f.
Heinrich von Veldeke 186, 189,
192.
Heldenepos 194 f.
Heldenhed 180.
Heldt, S. 106, llOff., 128.
Hehand 206.
Helmschmidt s. Kolmann.
Hennin 362, 403, 406.
Hercules (Th.) 370, 384, 386.
Herenniusrhetorik 256, 258, 261.
Hermann von Sachsenheim 197.
Herold 32, 40, 50, 58, 98, 100 f.,
129, 133, 437, 458, 471 ff., 483 ff.
— S. auch Knabenherold, Prae-
cursor, Prolog.
Heros, J. 117, 123f., 129.
Heyden, L. van der 378.
Hildesheim (Michaelskirche) 225;
(Taufbecken) 226.
Hilferuf (Epos) 184. — (Th.) 169,
171, 173.
Hinhören (Th.) 166.
Hinweisen (Bibel) 177. — (BK.)
221, 225, 230, 234, 241. — (Th.)
162, 177, 241, 243, 264.
Hiob (Th. u. BK.) 468 ff.
Hippolyta (Th.) 382.
Hisü-iones 282, 287, 367 f., 503 f.
Hölle (BK.) 479 f. — (Th.) 378, 474,
478 f.
Hof trachten 106.
Hohn (BK.) 234, 237 f. — (Epos)
200. — (Th.) 254.
Holbein, A. 420, 435 ff., 440.
Holbein, H. der ältere 440.
Holbein, H. d. J. 47, 105f., 420,
433, 443, 455.
Holzschnitt (Basel) 329 ff., 419 ff.
— (Lyon) 316 ff. — (Straßburg)
325 f., 457 f. — (Ulm) 292 ff.,
339 f. — (Venedig) 349 f. —
(Zürich) 455 ff.
Holzschnitzereien 82 f.
Horaz 260, 318, 326, 335, 345, 362,
423, 440, 443.
Hugo Schapler 362.
Hugo von Trimberg 208".
Hugutius 287, 314, 503.
Huldigung (BK.) 229. — (Th.) 162.
Hutrücken (BK.) 238. — (Epos)
197.
J I
Jael (Th.) 382, 526.
Jakob u. Laban (Th.) 384.
Jammer (Epos) 188. — (Th.) 247,
251 f.
Jason (Th.) 370, 386, 388.
Jenichen, B. 426.
Jesuitentheater 267.
Ikonographie 210.
Indianer 108.
Inklination s. Neigen (Liturgie).
Inspizient 36.
Inszenierung s. Regie.
Intellektuelle Hergänge (Th.) 161;
s. auch Erkennen, Nachdenken,
ioculatores 286 ff., 504.
Johann, Künstler in Lyon 317.
Johanna die Wahnsinnige 365 ff.
Johannes von Frankenstein 209.
Johannes de Janua 287, 503.
Jongleurs 288.
Josua (Th.) 384.
Isidorus 286, 312, 503.
Judas (BK.) 215; (Th.) 169, 178,
249 495.
Juden' (Th.) 508.
Judith (Th.) 381, 395.
Namen- und Sachregister.
533
K
Kaiphas u. Christus (NTE.) 206.
Kalenberger 199.
Kampf auf der Bühne 32 f., 39,
147 ff. ; s. auch Heere.
Karl V. 365.
Karhneinet 189.
KaroHngische Bildkunst 211 f., 215,
220 ff.
Kinder auf der Bühne 86 f.
Kistener, K. 423.
Kläglich sprechen (Th.) 170.
Klage unser Frauen 208.
Klagen (Bibel) 176. — (BK.) 229,
232 f. 237 ff. — (Epos) 182, 184,
194, 197. — (NTE.) 208. — (Th).
242 f., 255. — s. auch Jammer,
Kummer, Totenklage.
Klassikerillustrationen der Renais-
sance 279 ff.
Kleidzerreißen (Bibel) 177. — (BK.)
215, 222. — (Epos) 188, 252. —
(NTE.) 208. — (Th.) 178, 244,
248, 250.
Knabenherold 473.
Knaust, H. 457.
Kniebeugen (BK.) 229, 237. — (Lit-
urgie) 203 f. — (NTE.) 206. —
(Th.) 204, 242, 265.
Knieen (BK.) 204, 222 (Knielauf),
229, 232 f. — (Epos) 183, 252.
— (Th.) 178, 243, 246.
Kniefall (Bibel) 177. — (Epos) 189,
199 f. — (Th.) 247.
Köln, (BK.) 232, 235.
Kolmann, D. 109.
Kolmar (Th.) 458.
Könige auf der Bühne 46 ff., 103,
120 f., 485.
Könige, drei s. Anbetung.
Königsberg 112.
Königstochter aus Frankreich 362.
Köpfe, künstliche als Requisiten 82 f.
Konkordanz in der Bildkunst 213.
Konrad von Fußesbrunnen 266 f.
Konrad von Würzburg 189, 195 ff.
Konstanzer Konzil 372.
Kopf: kratzen (Epos) 252 f.; (Th.)
249, 254. — neigen (BK.) 222 :
(Epos) 191, 198. — nicken (Th.)
245. — schlagen (Epos) 252;
(NTE.) 208. — schütteln (Th.)
245. — stützen (BK.) 222 f;
(Epos) 191, 252 f.; (Tli.) 248,
254 f.
Kostüm s. Tracht.
Kraft, A. 239.
Krankheit (Epos) 1 5 7 ff . — (Th.) 153 ff.
Kudrun 191, 194.
Kündig, J. 526.
Kunmier (Epos) 185, 198. — (Th.)
246. — s. auch Jammer, Schmerz.
„Kunstbüchlein" 82.
Kuß, Küssen (Bibel) 177. — (BK.)
239. — (Epos) 184, 188 f., 190,
195, 197, 252. — (Liturgie) 203.
— (NTE.) 208. — (Th.) 178, 249.
Lachen (BK.) 235. — (Epos) 184,
192 ff., 198 ff., 251 f. — (Th.) 168,
170, 173, 254, 266.
Lächeln (BK.) 231, 233. — (Epos)
184 f., 192, 197.
Landjuweel 374.
Landmetere, N. de 378.
Landschaft auf den Bildern 66.
Laufen (Th.) 254.
Lauingen 62.
Lazarusdrama (reicher Mann u. armer
Lazarus) 455 f.
Lebende Bilder 364 ff., 511 f.
Lebensalter (Zehn Alter) (BK.) 425 ff.
— (Th.) 416 ff., 421 ff.
le Roy, Guillaume de 317.
Le Fevre 317.
Leibkleider 116, 132, 469.
Leipzig, Schultheater 354.
Leo X. 448.
Leu, H. 412.
Lichtenberger, J. 436.
Liebe (Bibel) 177. — (BK.) 233. —
(Epos) 180, 185, 190 ff., 200, 251.
— (Th.) 162, 263. — s. auch Zärt-
lichkeit.
Liebesgarten (BK.) 392 ff. — (Th.)
382, 397.
Lille (Th.) 370.
Limburger Chronik 105.
Lippen s. Mund.
Lirer, Th. 292, 299, 360.
List (Epop) 185. — (Th.) 263.
Liturgie 202 ff., 211 f., 261.
Livius 283.
Locher, J. 260, 305, 318, 325, 343ff.,
500.
534
Namen- und Sachregister.
Lochner, St. 235.
Lötschtal, Fastnachtstrachten im 497.
Longinus (Th.) 160.
Lucca 78.
Lübeck (Th.) 387.
Lübecker Bibel s. Bibel,
Lüneburg, Schiiltheater 490, 492.
Lukas malt die Madonna (BK.) 389 ff.
— (Th.) 376, 382, 384, 391, 396,
399, 490.
Lukas von Levden 114, 390, 394,
467.
Lukasgilden 376 ff.
Luzern (Th.) 64, 82 f., 85, 87, 90,
101, 117f., 495.
Lyon 300, 316 f., 372.
Lyoner Terenz 87, 270, 300 f. f, 321,
337, 340 ff., 348 f., 355 f., 361 f.,
364, 398, 406 ff., 409 ff., 513,
516.
M
Mahnung (Th.) 264.
Mailand 297, 353.
Malchus' Verwundung (Th.) 159.
Maler als Regisseure 63, 274, 448.
Malleolus, P. 352.
Mander, K. van 376, 386.
Mantegna, A. 235.
Mantua 297.
Manuel, N. 444 ff. — (Ablaßkrämer)
446, 450 ff. — (Barbali) 452, 457.
— (Papstspiele) 444 ff., 452, 457.
Marche, 0. de la 369.
Maria: Verkündigung (BK.) 223, 226,
363 f. — Heimsuchung (BK.) 238.
— Geburt Christi (BK.) 230. —
Klagen (BK.) 230, 232, 237, 239;
(NTE.) 207 ff.; (Th.) 242 f.; s. auch
Marienklage. — Tod (BK.) 233 f.
— Himmelfahrt (BK.) 238. — Krö-
nung (BK.) 233. — Thronende (BK.)
230. — Verehrung 217. — S. auch
Lukas.
Maria Magdalena (BK.) 228, 239. —
(Th.) 244.
Marienklage, Bordesholmer 115,
242 f.; episch-lyrische 207 ff.
Masken (Teufel) 61, 288, 307f., 368,
417.
Masles, Roboam de 317.
Massenszenen 150 ff.
Mauren 108.
Meister b 350.
Meister, E. S. 392.
Meister J. A. 449.
Meister J. R. 426.
Meister M. J. 449.
Meister des Amsterdamer Kabinetts
238.
Meister der Bergmannschen Offizin
332 ff., 526.
Meister der Berliner Passionstafeln
235.
Meister mit dem Namen Jesu 437.
Meister der Sibylla 392.
Meister von Sterzing 234.
Meistersinger 14 fL, 141, 374, 522.
Melanchthon, Ph. 259 f.
Melhs, A. 456.
Memhng, H. 390.
Metz (Th.) 354.
Metzen Hochzeit 198.
Meure, G. van der 392.
Meyre, Jan van der 392.
Mimik (Bibel) 176. — (BK.) 219, 221,
223 ff., 2301, 233, 235, 239. —
(Epos) 184, 186, 192, 195, 199,
253. — (NTE.) 208. — (Th.) 167,
169 f., 201, 245, 249,254, 262 ff.,
267. — (der Tiere) 194, 198, 200,
253, 261, 263. — S. auch Bhcken,
Erbleichen, Erröten, Lachen,
Lächeln, Mund, Naserümpfen,
Parodistische Mimik, Sauersehen,
Speien, Zähne.
Mimus 282, 287, 503 f.
Miniaturen 211, 222, 226, 278 ff.,
391 L
Minnelyrik, Gebärden 179, 192.
Mitleid (BK.) 232, 237. — (Epos)
180, 188, 193.
Moden in der Tracht 105 ff,, 357.
Mohnet, J. 366.
Moses (Th.) 384.
Mund (BK.) 224, 226, 231, 239,
— (Epos) 197, 253. — (Th.)
254, 263 f. — S. auch Lachen,
Lächeln.
Murer, Ch. 500.
Murmeln (Bibel) 176. — (Th.) 243.
Murner, Th. 436.
Muschler, J, 354.
Musik (Th.) 173, 311,
Musikanten 102, 129, 285 f., 268,
371,
Namen- und Sachregister.
535
N
Nachdenken (BK.) 223, 238. — (Epos)
183, 185, 191.
Nachsehen s. Sichumsehen.
Nacktheit (Th.) s. Leibkleider.
Narhamer, J. 65, 86, 90 f., 469 f.
Narr 129, 146, 351, 361, 368f., 392.
Naserümpfen (Epos) 253. — (Th.) 263.
Naumburg, Skulptur 228.
Nebukadnezar (Th.) 384.
Necker, de 426.
Neid (Epos) 252. — (Th.) 513.
Neigen (BK.) 229, 233. — (Epos)
183, 189, 197 ff., 252. — (Liturgie)
203 f. — (Th.) 204, 243, 245, 262.
— S. auch Kopfneigen.
Neugier (BK.) 222. — (Epos) 180,
193.
Nemvich, E. 105.
Nibelungen 194.
Nicodemusevangelium 202, 206.
Nicolav, N. 107.
Niederfallen (Bibel) 177, 206. —(BK.)
160, 228, 232, 239. — (Epos) 182 f.,
195, 252. — (Liturgie) 203 f. —
(NTE.) 208 f. — (Th.) 159 f., 178,
204, 242 ff., 250. — S.aueh Aufs-
angesichtfallen, Fußfall, Kniefall,
Ohnmacht.
Niederlande (BK.) 316 f., 388 ff.
Nithart, Hans 257, 292, 297 f., 343.
Nithart, Heinrich 292.
Novella 423, 428, 433, 441.
Nürnberg 111 ff., 128 f. — (Lorenz-
kirche) 19. — (Marthakirche) 14,
16 f., 36, 53, 60. — (Prediger-
kloster) 20. — (Rat) 14 f., 43. —
(Rathaus) 15. — (Teppichindustrie)
61.
Nürnberger Osterfeier 115.
0
Octavian 460, 477.
Öffentliche Handlung auf der Bühne
147.
Oesterreich (Th.) 117.
Ohnmacht (BK.) 232, 237. — (Epos)
182f., 189 f. — (NTE.) 208. — (Th.)
153.
Ohrfeigen (Th.) 254.
Orendel 182.
Orient 107, 118, 121 f., 222.
Oswald, Sankt 182.
Otfrid 205, 240.
Ottonische Kunst 211 f., 215, 220 ff.
Ottonische Renaissance 277.
Ovidillustration 283.
Fächer, M. 235.
Padua 344.
Pädagogik der Humanisten 258.
Panoramakunst (Th.) 514.
Pantomimen 369 f., 511.
Papias 282, 287, 503.
Papier mache 82.
Paris 301 f., 305 f., 354 f., 374.
Paris' Urteil (Th.) 382, 388, 391, 399.
Parodistische Mimik 193.
Passion s. Christi Leiden.
Passional 206.
Passionserzählungen in Prosa 209 f.
Passionsfolgen (BK.) 217, 413.
Passionsspiel, Allgemeines 217.
Patriarchentracht 117.
Pauh, J. 443.
Paumgartner, L. 78.
Pavia 344.
Pentesilea (Th.) 382.
Peutz, G. 66, 449, 525.
Perikopenkunst 211, 215 f.
Peripetie im Drama des Mittelalters
216.
Perreal, J. 376.
Perseus (Th.) 384.
Personnagia 366 ff.
Peruzzi, B. 65.
Peter, Künstler in Lyon 317,
Petrarca, F. 279.
Petrus (Verleugnung u. Reue) (NTE.)
205. — (Th.) 178, 249. — (Theo-
logie) 201, 205.
Pfeilschmidt, A. 524.
PhiHpp, Bruder 209.
Philipp der Schöne 365 f., 375.
Pilatus' Frau (Th.) 159.
Pius, B. 344.
Planctus beatae Mariae 207 f.
Platter, F. 123, 127 f.
Plautus 124, 257, 259, 277, 296,
301, 311, 344, 349, 352.
Plautusillustrationen 277, 352 f.
Podium (Th.) 37 f., 314.
Pohziano, A. 278.
Pollux, Scholiast 354.
536
Namen- und Sachregister.
Pomponius Laetus 295, 301, 303,
310, 315.
Postbote (Th.) 31, 499.
Praecursor 115.
Predigtvortrag 202. — (BK.) 225.
Prolog, Prologsprecher 401, 407,
408 f.; s. auch Herold, Praecursor.
Pronuntiatio 259 ff.
Prophetentracht (Th.) 116 f., 487 ff.
Prosaromane 196 f.
Proskynein s. Zubodenfallen.
Prostratio 204.
Prüß, J. 352.
Psychisches s. Seele.
Publikum (Th.) 6, 504, 518, 520. —
(Aufmerksamkeit) 508. — (Denk-
tätigkeit) 25, 116, 505. — (Entfer-
nung vom Darsteller) 155, 201. —
(Phantasie) 21, 25 ff., 30 f., 45, 51,
59ff., 66 ff., 92 f., 126, 150, 159,
169, 519. — (Schaulust) 150, 520 f.
— (Spannung) 149.
Pulpitus 282.
Pulsnitz i. S. (Th.) 65.
Pyrotechnik 91.
Q
Quintilianus 257 f., 261 ff., 266f.
R
Rappolt, L. 15.
Rasser, J. 500.
Raumkunst 6.
Realistische BK. des 15. Jh. 234.
Rebecca (Th.) 381 f.
Redegebärde (BK.) 222 f., 225 f., 230,
234, 238, 361, 363, 409, 411. —
(Th.) 256, 264 f., 409, 411, 419,
434, 505. — S. auch Predigtvortrag.
Redekunst s. Rhetorik.
Redentiner Osterspiel 159, 499.
Rederijkers 371, 374 ff.
Regie, Regisseur 46 f., 147, 177 f.,
274, 473 f., 505, 509.
Regieaufgaben s. Aktschluß, Be-
leuchtung, Blut, Briefe, Dekoration,
Feuerwerk, Garderoberaum, Gene-
ralprobe, Gerichtsverfahren, Heere,
Inspizient, Kampf, Kinder, Könige,
Maler, Musik, Musikanten, Pano-
ramakunst, Requisiten, Requisiten-
raum, Schiffe, Souffleur, Statisten,
Steine, Theaterdiener, Theater-
I garderobe, Tiere, Tote, Tracht,
I Tür, Vorhang.
Reichenau, Weltgerichtsbilder 222.
[ Reicher Mann u. armer Lazarus s.
' Lazarusdrama.
Reimformeln 183, 199, 205 f.
Reinolt von Montelban 196 f.
Requisiten 57, 70 f., 78 ff., 122 ff.,
400, 483, 485, 505, 520 f.
S. auch Attribute.
Requisitenraum 24.
Reue (Th.) 178, 247, 264.
Rezitator s. Calliopius.
Rheinauer Weltgerichtsspiel 300.
Rhetorik 258 ff., 506.
Riarius, R. 295, 315.
Richtungskontraste s. Auftreten.
Riemenschneider, T. 238.
Ritter vom Thurn 330 ff., 363.
Ritterepos s. Epos.
Ritterkultur 185 ff., 227 f.
Ritualbücher des Mittelalters 203 f.
Robetta, Bildkünstler 392.
Rockzupfen (Th.) 254.
Roigny, J. de 351.
Rolandslied 181 ff.
Rom 301. — (Th.) 301, 353.
Romanische Kunst 224 ff.
Romans 63.
Romulus (Th.) 384.
Rosengarten 195.
Rothe, J. 209.
Rother, König 181 ff.
Rotwerden s. Erröten.
Rouener Prophetenspiel 438.
Rouener Weihnachtsspiel 438.
Rubens, P. P. 392.
Rudolf von Ems 196.
Ruof, J. 117, 132, 455 ff., 459 ff. —
(Job) 456 f., 459 ff., 464 f. — (Jo-
seph) 456 f. — (Passionsspiel) 459,
466 f. — (Teil) 459, 461 ff., 466,
471. 525. — (Weingarten) 461,
464, 471 ff., 474 ff.
Saba, Königin v. (BK.) 390 f. — (Th.)
382, 386.
Sachs, Hans 13—270 (passim), 518 ff.
— (u. d. Antike) 103 f. — (u. d.
Bildkunst) 114 f., 269. — (Drama)
14 f., 247. — (Episches) 103, 138,
157 f., 171, 251. — (Farbensinn)
Namon- und Sachregister.
537
104, 121, 126. — (Gesamtbedeu-
tung) 270, 524. — (Landschafts-
u. Menschendarstellung) 67 f. —
(Phantasie) 67f., 103, 126.— (u.
s. Quellen) 75 ff., 138 f., 168 f., 171,
174, 250 f., 252. — (als Schau-
spieler) 137. — Text: (Hss. u.
Drucke) 89.
- (Abraham) 42, 72, 80, 84, 86,
90, 94f., 168. — (Absalon) 131. —
(Adam u. Eva) 132. — (Ahab) 29,
39, 81, 94, 98. — (Alexander) 59,
76, 81, 90, 98, 100, 130, 153, 155.
— (Andreas) 40, 42, 50 f. — (An-
tonius) s. Cleopatra. — (Aretaphila)
39, 47, 70. — (Aristoteles) 42. —
(Arsinoe)42, 96, 99. — (Artaxerxes)
121, 154. — (Bei) 52, 72 f., 83. —
(Belsazar) 246. — (Beritola) 31,
40, 54, 77, 85, 87, 168, 174. —
(Burger, der alt reich) 52, 93, 98.
— (Circe) 84. — (Cleopatra) 31,
37, 42, 84, 88, 96, 98, 101. —
(Chnia) 101. — (Concretus) s. Gis-
monda. — (Cyrus) 39 f., 50, 59,
75 f., 86, 93. — (Daniel) 42, 52,
54, 83, 96, 140. — (Daphne) 13.
— (David zählt seine Mannschaft)
132, 152. — (Davids Verfolgung)
71. — (Eh) 45. — (Esopus) 85,
170. — (Esther) 142, 245. — (Evä
ungleiche Kinder) 50. — Fastnacht-
spiele 128; (Goetze N. 4) 142;
(N. 5—8) 143; (N. 10) 143, 146;
(N. 11) 143, 157; (N. 14, 16, 18)
143; (N. 19) 144; (N. 20) 144, 146;
(N. 22) 144; (N. 25) 157; (N. 27)
138, 144; (N. 28) 175; (N. 34)
138, 157; (N. 42, 51) 157; (N. 75)
138, 157; (N. 81) 157. — (Ferdi-
nands I. Einzug) 64. — (Florio)
31, 79, 93. — (Fortunatus) 40, 44,
50, 93 f., 246. — (Frankreich,
Königin aus) 144. — (Franziska,
Wittfrau) 99. — (Galmi) 47, 54.
— (Genura) 143. — (Gericht,
jimgstes) 153, 245. — (Gideon)
71, 82, 90, 156. — (Gismonda)
143, 153 f., 168, 173. — (Griselda)
15, 143. — (Hagvvartus) 42, 49,
96, 98 f. — (Hiob) 15 f., 153, 156,
469. — (Historien) 139. — (Horatier
u. Curiatier) 149. — (Hugschapler)
39 f., 43, 58, 68, 100, 133. —
(Jael) 99, 153 f. — (Jakob) 158,
168. — (Jephthe) 32. — (Jerusa-
lems Belagerung) 40. — (Jerusa-
lems Zerstörung) 86. — (Jocaste)
38, 40, 144, 146, 149, 247. — (Jo-
hannes' u. Christi Geburt) 83, 86.
— (Johannes wird enthauptet) 38,
82. — (Jonas) 88 f. — (Josua) 39,
54, 151. — (Isaac) 14, 80, 84. —
(Judith) 68. — (Jüngling im Kasten)
47, 50, 96, 99. — (Julianus) 40, 42,
71 f., 132. — (Jupiter u. Juno) 142.
— (Kämpfer, sechs) 38, 59. —
(Kaiserin, falsche) 168. — (Kai-
serin, unschuldige) 86 f., 128, 131.
— (Kaiserin, vertriebene) 42. —
(Karls V. Einzug) 63 f., 91. —
(Lazarus) 54, 84. — (Leviten Kebs-
weib) 69, 151, 168. — (Lieb-
habende, vier) 40, 47, 50, 59, 69,
100 f., 126 f. — (Machabäer) 83,
99, 161. — (Magelone) 50, 129 f.
— (Marina aus Frankreich) 40,
47, 50. — (Marina mit Dagmano)
50. — (Marschall u. sein Sohn)
46 f., 70, 84. — (Meistergesänge)
14, 139. — (Melusine) 31, 50, 52,
54, 246. — (Menechmi) 15, 148.
— (Mose Kindheit) 86, 249. —
(Mucius Scaevola) 36, 155. —
(Nürnberger Siegesfest) 64. —
(Ohvier) 47, 151. — (Paridis ludi-
cium) 142. — (Passion) 132, 148,
153 f., 173, 249. — (Perseus) 42 f.,
82, 84, 100, 130. — (Pontus) 39 f.,
47, 50, 59, 153. — (Pura) 133. —
(Romulus) 28 f., 39, 81, 90, 101,
174. — (Rosimunda) 50, 68, 93.
— (Salomonis ludicium) 144. —
(Samariae Belagerung) 98. — (Saul)
83, 96, 99, 101, 245. — (Sedras)
39 f., 43, 69, 84 f., 96 f. — (Seufrid,
Hürnen) 13, 23ff., 58, 73, 79, 90f.,
94, 96, 98, 100, 130, 173, 246. —
(Simson) 69, 84, 90, 174. — (Sohn,
verlorene) 50, 70, 132. — (Sohn,
verlorene, den man richten wollt)
50. — (Stulticia) 133 ff., 142. —
(Thais) 42. — (Tobias) 155, 167,
175. — (Tristan) 31, 44, 81, 89,
128 f., 153 f., 169, 175, 246. —
(Troja) 40, 42 f., 246. — (Ulixes)
40. — (Violanta) 144. — (Wilhelm
v. Ostreich) 31, 50, 96, 99, 150. —
538
Namen- und Sachregister.
(Wilhelm v. Orlientz) 31, 39, 88. —
(Wittfräulein mit dem Ölkrug) 98.
Salomo (Th.) 379, 382, 384, 388, 401.
Sauersehen (Epos) 195, 252. — (Th.)
254.
Scena 16, 282, 284 f., 286 f., 503.
Schäufelin, H. L. 449.
Scham (Epos) 185, 188, 191 ff., 197f.,
200, 251 ff. — (Th.) 245, 262 f.
Schatzbehalter 438.
Schauplatz (Th.) s. Bühne.
Schauspieler (Alter) 146, 447. —
(Persönlichkeit) 146. — (Zahl der)
42. S. auch Frauen, Geistliche.
Schauspielkunst: (römische) 257. —
(des geisthchen Stadttheaters) 1 59f.,
163ff., 172ff., 241 ff., 249, 505 ff.
— (des Fastnachtspiels) 137 f., 148,
152, 156 f., 165, 170 f., 174, 253 f.,
418 f., 433 f., 505, 523 f. — (des
Schultheaters) 256 ff., 410, 518. —
(der Meistersingerbühne) 137 ff.,
173 ff., 244 ff., 268 ff., 521 ff.
(Autosuggestion) 175 f., 265. —
(Individuelles) 141 f., 165 f. — (Lit-
urgie u.) 201. — (Rhetorik u.)
258 ff., 267. - (Svmbohsches)
148, 152.
Schembartbücher 107, 113 f., 136,
495 ff.
Scheu (BK.) 238, 273. — (Epos) 191.
Scheurl, Ch. 63.
Schiffe (Th.) 87 f., 521.
Schilhng, D. 413.
Schlaf (Epos) 157 f. — (Th.) 153 f.,
159, 262, 526.
Schmeichelei (Th.) 263.
Schmerz s. Trauer.
Schmidlein, Meistersinger 14 f., 142 ff.
Schnitzaltäre 231.
Schongauer, M. 238, 330, 339, 420,
424, 449.
Schreck (BK.) 222 f., 225, 229 f.,
238. — (Epos) 185, 189, 191 ff.,
251 ff. — (Th.) 162 f., 167, 169,
244, 247. — S. auch Entsetzen.
Schreien (Bibel) 176. — (BK.) 231.
— (Epos) 182, 184, 187f., 193f.,
198, 200, 251. — (NTE.) 208 f. —
(Th.) 169, 171 ff.
Schullerklopfen (Th.) 254.
Schuitheater 15, 256 ff., 517f. — S.
auch Breslau, Leipzig, Lüneburg,
Speyer.
Schwarz, M. u. V. K. 106.
Schweiß (Bibel) 176 f. — (Epos) 252.
— (Th.) 244.
Schweiz, Dramenillustrationen 412 ff.
Seele (Hergänge, Zustände usw.)
161ff. ; S.Ablehnung, Abneigung,
Abscheu, Abschied, Ärger, An-
dacht, Angst, Aufmerksamkeit,
Beileid, Bewunderung, Bitten,
Dank, Demut, Drohung, Dumm-
heit, Ehrerbietung, Ehrfurcht, Ekel,
Entrüstung, Entsetzen, Enttäu-
schung, Erkennen, Ermahnung,
Ernst, Erregtheit, Ergebung, Feind-
schaft, Flehen, Frechheit Freude,
Freundschaft, Gebet, Gedächtnis,
Gelöbnis, Grauen, Grausamkeit,
Gruß, Güte, Hohn, Huldigung,
Jammer, Intellektuelle Hergänge,
Klagen, Kummer, Liebe, List,
Mahnung, Mitleid, Nachdenken,
Neid, Neugier, Reue, Scham, Scheu,
Schmeichelei, Schreck, Sehnsucht,
Spott, Stammeln, Streit, Teilnahme,
Todesangst, Trägheit, Trauer,
Treue, Trotz, Tücke, Überraschung,
Unlust, Unmut, Unruhe, Unter-
werfung, Verabredung, Verlegen-
heit, Verneinung, Vertraulichkeit,
Verwunderung, Verzeihung, Ver-
zweiflung, Wollust, Wut, Zärthch-
keit, Zank, Zorn, Zugeständnis,
Zuneigung, Zweifel.
Sehen s. Blicken.
Sehnsucht (Epos) 180, 185, 188 f.,
193. — (Th.) 245.
Semiramis (Th.) 382.
Seneca 277 ff. — (Hercules furens)
280 f. — (Medea) 280.
Senecaillustration 279 ff.
Sentimentahtät des 15. Jh. 166, 237.
Serho, S. 65, 274.
Seufzen (Bibel) 176. — (Epos) 184,
193, 198,251,253. — (Th.) 168,243.
Shakespeare, W. 510, 524.
Sibylla 437 ff.
Sichbücken s. Neigen.
Sichniederwerfen s. Zubodenfallen.
Sichsegnen (Epos) 184, 191, 252. —
(Th.) 244, 248, 265, 434.
Sichumsehen, Nachsehen (Bibel) 177.
— (Epos) 185, 193. — (Th.) 161,
178. — (Theologie) 201.
Siegfriedslied 460.
Namen- und Sachregister,
539
Sinopis (Th.) 393.
Sippenbilder 238.
Sitzen in Trauer (BK.) 222. — (Epos)
183. — (Th.) 47, 245, 248.
Soardus, L. 346, 349, 352.
Souffleur 473.
Spätgotische Bildkunst 236 ff.
Spätromanische Bildkunst 225 f.
Spanien 107 ff.
Spanische Tracht 129, 135.
Spaziergangsgedichte 197.
Specula humanae salvationis 213, 526.
Speien (Epos) 253. — (Th.) 245, 254,
vgl. 176 (Anspeien, Bibel).
Speyer, Regeln für Schulaufführungen
in 259.
Spielmännische Epik 189, 191, 194 f.
Spott (Epos) 180, 184 f., 192, 199. —
(Th.) 163, 172, 254, 262 ff.
Statisten 58 f., 100, 115, 150 f.
Staunen (BK.) 222 f., 225, 230, 233,
235, 271. — (Epos) 180, 193. —
(Th.) 248, 263 f.
Steine (Th.) 81 f., 400.
Sterben (Epos) 157 f. — (Th.) 152 ff.,
156, 159.
Stern bei Christi Geburt 437 ff.
Stichreim 95.
Stimmer, T. 426, 444, 500.
Stimmnuancen (Epos) 184, 193, 199,
251 f. — (NTE.) 206. — (Th.) 154 f.,
161, 169, 173 f., 177, 218, 262, 266.
— S. auch Fröhhch sprechen,
Hilferuf, Kläglich sprechen, Lachen,
Murmeln, Schreien, Seufzen, Trau-
rig sprechen, Protzig sprechen,
Weinen, Zornig sprechen.
Stoßen (Th.) 254.
Straßburg (Buchdruck) 456 ff. —
(Holzschnitt) 362 f., 500. — (Pla-
stik) 231. — (Th.) 120.
Straßburger Terenz 299 f., 318 ff.,
334, 352, 354, 361, 513.
Streit (Th.) 264.
Stumpf, J. 455, 463 f.
Sturm, Job. 259, 261.
Stymmelius, Ch. 260.
Sulpicius Verulanus 295.
Susanna v. J. 1534 77, 457.
Susanna (BK. u. Th.) 467.
SyrUn, J., d. J. 237.
Szenische Bemerkungen (Allge-
meines) 28 ff., 31, 49 ff., 68, 79,'
102ff., 137ff., 164, 176, 254, 257.!
Tagzeiten 209.
Teilnahme (Th.) 248.
Teil, Lied v. 459, 463 f.
Teildrama (Uri) 89, 458 f.
Teppiche, Teppichwirkerei 61 ff.,
392, 407, 525. — (Th.) 307, 514.
Terence des Ducs 283 ff., 294, 298,
303, 334, 504, 51 2 f.
Terenz 259f., 277-364 passim,
512 ff. — (Adelphi) 258, 324,
328. — (Andria) 288, 290, 301 ff.,
316, 319, 324 f., 328, 330, 335,
341 f., 362 f. — (Eunuchus) 257,
289, 291 ff., 303, 322, 324, 330,
339 f., 343, 346, 360 ff. — (Heau-
tontimoroumenos) 328, 354. —
(Hecyra) 329, 354. — (Phormio)
328, 354.
Terenzaufführungen 290, 354.
Terenzillustrationen der ottonischen
Renaissance 284, 288, 294, 303,
315, 318f., 411, 514.
Terenzillustrationen des 15. u. 16.
Jh. 283 ff., 422. — s. auch Ba-
seler, Lyoner, Straßburger, Ulmer,
Venetianer Terenz, Terence des
Ducs.
Terenzkommentare 302 f., 306, 351,
355.
Terenzübersetzungen 257, 292,
343 ff.
Teufel 132, 146, 406, 492 ff., 508.
Teufelskostüm 492 ff.
Teufelsmasken 308, 495 ff.
Theater: und Bildkunst s. Bildkunst.
— u. Drama s. Drama. — u. Epos
254f., 283. — u. Liturgie 202 ff. —
S. auch Alsfeld, Antwerpen, Basel,
Bern, Brügge, Brüssel, Cambrai,
Dresden, Eger, Ferrara, Flandern,
Frankreich, Frankfurt, Gent, Jesu-
itentheater, Lille, Lübeck, Luzern,
Metz, Nürnberg, Österreich, Puls-
nitz, Rom, Ronen, Schultheater,
Straßburg, Tirol, Zürich.
Theaterabbildungen 274, 500.
Theaterdiener 92 ff., 100 f., 520.
Theatergarderobe 116, 127, 509,
515.
Theatergeschichte, antike 9 f.
Theatergesctiichte, Methode der 3 ff.
Theaterkostüm s. Tracht.
540
Namen- und Sachregister.
Theaterkunst 3 f., 8.
Theatrum 280 ff., 284ff., 286, 303f.,
306, 309 f., 310 ff., 318 ff., 347 f.,
362 f., 503.
Theodosius (Th.) 384.
Theologie 201 ff.
Thevenot Maler 63.
Tiere auf der Bühne 84 ff., 400.
Tiergesichter am Körper 497.
Tiermimik s. Mimik.
Tiroler Mariälichtmeßspiel 115.
Tiroler Passionsspiele 159 f., 243 f.
Tobias (Th.) 375, 382, 490, 492.
Todesangst (Th.) 169.
Tomyris (Th.) 382.
Tortellius, J. 306, 309.
Tote (Th.) 58, 98 ff.
Totenklage (Epos) 180, 182, 188,
194 f., 208, 237ff.. 246. — (NTE.)
208 f. — (Th.) 242 f., 246.
Totentanz 370.
Tracht (Basel) 433. — (Zürich) 417,
419. — (BK.) 358 f., 405. — (Th.)
43, 92, 102 ff., 401 ff, 412, 419,
433, 468 ff., 473 f., 482 ff., 505,
508 f., 515 ff., 521. — S. auch An-
tike Tracht, Aposteltracht, Attri-
bute, Braguettes, Christuskostüm,
Drachenkostüm, Hennin, Hof-
trachten, Könige, Leibkleider, Mas-
ken, Moden, Patriarchentracht,
Prophetentracht, Schuhe, Spa-
nische Tracht, Trachtenbücher,
Trachtengeschichte, Türkische
Tracht, Teufelskostüm, Unterklei-
dung, Wilde Männer.
Trachtenbücher 104 ff., 525.
Trachtengeschichte (Prinzipielles)
105 ff., 356 ff., 401 f.
Trägheit (Th.) 263.
Trajanus (Th.) 384.
Trauer (Bibel) 177. — (BK.) 222 f.,
229ff., 237, 239. — (Epos) 183f.,
188, 195. — (Th.) 162, 166 f.,
170 ff., 242, 244, 263 f., 523. —
s, auch Jammer, Kummer, Sitzen
in Schmerz, Totenklagen.
Traurig sprechen (Th.) 170 f.
Trechsel, J. 300 ff.
Treveth, N. 279 ff., 286 f.
Treue (Th.) 263.
Trierer Marienklage 243.
Tristan und Isolde, Prosa 196.
Trithemius, J. 300 f., 337.
trionfi 372.
Triumphbogen 380.
Troia (Th.) 388.
Trotz (Th.) 162f., 171 f., 174.
Trotzig sprechen (Th.) 170 f.
Trunkenheit (Epos) 158, 199. —
(Th.) 156 f., 265.
Tubal (Th.) 381, 384.
Tücke (Epos) 193. — (Th.) 245.
Tür auf der Bühne 69 ff., 419.
Türkische Tracht 129.
Türzuschlagen (Th.) 254.
Turniere 128, 149 ff.
Typologie in der Malerei 212, 215 f.
U
Überraschung (BK.) 238. — (Epos)
189.
Ulm 292 ff., 339, 344.
Ulmer Terenz (Eunuchus) 292ff.,
318, 322 ff., 337 ff., 360 f., 363.
Umarmen (BK.) 222, 229. — (Epos)
184, 190, 197, 200, 252. — (Lit-
urgie) 203.
Umkleiden (Th.) 23 f., 43, 131.
Unlust (Th.) 170, 254.
Unmut (Epos) 189, 252. — (Th.) 262.
Unruhe (Epos) 183, 186, 189. —
(NTE.) 208 f.
Unser Frauen Klage 242.
Unterkleidung (Th.) 131.
Unterwerfung (BK.) 222. — (Epos)
190 f.
Unwille s. Unmut.
Urbino 297.
Venedig 353, 372. — (Holzschnitt)
349 ff.
Venetianer Terenz 346, 355, 411.
Verabredung (Th.) 248.
Verard A. 354.
Verehrung s. Ehrerbietung.
Vergil 345, 362.
Vergilillustration 283, 291.
Vergleichende Künstegeschichte 179,
240.
Verlegenheit (BK.) 231. — (Epos)
185, 193 f., 253. — (Th.) 249.
Verneinung (Th.) 262.
Versicherung (Th.) 262 f.
Vertooning 371.
Vertraulichkeit (Th.) 254.
Namen- und Sachregister.
541
Verwunderung (BK.) 223. — (Epos) 1
191.
Verzeihung (Epos) 184. — (Th.) 162.
Verzweiflung (Bibel) 177. — (BK.) \
221, 230. — (Epos) 189, 195,
252. — (Th.) 163, 167, 169, 247,
255, 264, 410, 434.
Vesperbilder 228, 233, 239.
Vico, E. 108.
Vincentius, P. 260.
Virdung, M. 439.
Vitruvius 295, 306, 309, 314.
Vita beatae Virginis 208.
Vita Terentii 286 f.
Vitry, Ph. de 283.
Vocabularius breviloquus 287.
Voellius, J. 267.
Volkskundliches 47, 104 ff., 364 ff.;
s. auch Feste, Feuerwerk, Fürsten-
einzüge, Gebärden, Glücksrad,
Histriones, Holzschnitzereien, Jo-
culatores, Kunstbüchlein, Lötschtal,
Masken, Narr, Publikum, Schem-
bartbücher, Teppiche, Teufel,
Tracht, Trachtenbücher, Triumph-
bogen, Volkslied, Wachsplastik,
Wilde Männer.
Volkshed 67, 163.
Vorauer Handschrift (Leben Jesu)
206.
Vorhang (Th.) 57 ff., 307, 315, 378,
512 f.
Vos, M. de 390.
W
Wachsplastik 82.
Wächterszene (Th.) 244.
WächtUn, J. 346, 480.
Wagner, Gregor 261.
Wahnsinn (Th.) 156.
Waldis, B. 526.
Walter von Rheinau 209.
Walter von der Vogelweide 208.
Wange in der Hand s. Hand.
Wechselburg 226.
Weiditz, Ch. 109.
Weiditz, Hans 109.
Weinen (Bibel) 176. — (BK.) 219,
231, 235, 239. — (NTE.) 206,
208. — (Predigt u. dgl.) 202. —
(Th.) 167, 170,172 f., 177, 242, 266.
Weltz, D. 259.
Wernher der Gärtner 193.
Weyden, R. van der 390, 392, 398.
Wickram, J. 457 f., 460, 465, 500.
Wild, S. 266, 524.
Wilde Männer 368, 406.
Wilhelm von Österreich 195.
Wilhelm Teil-Spiel s. TeUdrama.
Willich, J. 255, 259 ff.
Winken (Th.) 243.
Wittenweiler, H. 197 f.
Wolfdietrich, großer 195.
Wolfenbüttler Marienklage 243.
Wolfenbüttler Sündenfall 85.
Wolfram von Eschenbach 186 ff.,
191, 194, 252, 526.
Wollust (Th.) 263.
Wouveringen, A. van 378.
Wut (BK.) 224, 226, 229, 235. —
(Epos) 185, 190, 194, 197, 252 f.
- (Th.) 245.
Zähne, mimische Verwendung (Epos)
192, 252 f. — (Th.) 264.
Zärtlichkeit (BK.) 230, 233, 238 f.
— (Epos) 188, 191, 198.
Zank (Th.) 264.
Zehn Alter s. Lebensalter.
Zeigen s. hinweisen.
Zenturio nach Christi Tod (BK. u.
Th.) 241.
Zeremonialebärde (Epos) 180, 182 ff.,
186, 189, 191, 196 f., 199, 225,
228, 230. — (Th.) 161 f., 266,
523. — S. auch Gruß, Neigen,
Niederfallen.
Zeroplastik s. Wachsplastik.
Zirkelbrüder, Lübecker 387.
Zittern (Bibel) 177. — (Epos) 190,
199. — (Th.) 244.
Zorn (BK.) 230 f., 238. ~ (Epos)
180, 183, 188 f., 191 ff., 195,
198 f., 251 f. — (Th.) 162, 170ff.,
244, 263 ff.
Zornig sprechen (Th.) 170 f.
Zürich (BK.) 412 f., 455, 464. —
(Drama) 455. — (Kostüme) 417,
419. — (Münsterhof als Spiel-
platz) 463 ff., 478, 481 f.
Zugeständnis (Th.) 263,
Zuneigung (Th.) 162 f., 166.
Zuschauerraum 18ff., 21, 31, 41,
285, 310 f., 321, 334 f., 348, 513.
— S. auch Publikum, Theatrum.
Zw^eifel (BK.) 230. — (Th.) 262.
Druck von J. B. Hirschfeld (August Pries), Leipzig.
Cliches von Meisenbach, Riffarth & Co., Berlin-Scliöneberj
/
PN Herrmann, I4ax
264.7 Forschungen zur deutschen
HA Theater-geschichte des Mit-
telalters und der Renaissance
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY